Ödipus 931
  Märchentyp AT: 931
  Grimm KHM:
  
  Den Eltern des Helden werden Vatermord und
  Mutterheirat durch einen Traum oder einen Schicksalsspruch
  vorausgesagt. Um dies zu vermeiden, wird der Held
  ausgesetzt, überlebt aber bzw. wird von Hirten gefunden
  und aufgezogen. Der junge Held erschlägt im Streit
  unwissentlich seinen Bruder und danach seinen Vater, der
  am Hof als Gärtner dient. Dort erhält er den Befehl, die
  Frau des Erschlagenen zu heiraten und erfährt, dass sie
  seine Mutter ist. Oder der junge Held erschlägt den ihm
  fremden König (Vater), gelangt an dessen Hof und heiratet
  unwissentlich die Königin des Erschlagenen, seine Mutter.
  
  Anmerkung
  Der Inhalt des Märchens ist uns durch griechische
  Dramatisierungen in der Antike besonders durch Sophokles,
  Aischylos und Euripides bekannt. Diese berichten von
  Ödipus, einem Sohn des Königs Laios und der Königin
  Iokaste, dass er nach der Geburt mit durchbohrten
  Knöcheln (Ödipus = Schwellfuss) ausgesetzt wird, da das
  berühmte Delphische Orakel dem Laios prophezeit hatte,
  dass der König durch seinen eigenen Sohn fallen werde.
  Hirten finden den Knaben und ziehen in gross. Ödipus
  erfährt als Jüngling von seiner zweifelhaften Herkunft
  und begibt sich zum Orakel von Delphi; dieses prophezeit,
  er werde den Vater töten und die Mutter heiraten. Er
  kehrt zurück nach Theben und begegnet unterwegs dem Wagen
  des Königs Laios. Es kommt zum Streit und der unerkannte
  Vater findet seinen Tod. In Theben vermag der junge Held
  das Rätsel der Sphinx zu lösen und gewinnt dadurch den
  Thron und die Königin, seine verwitwete Mutter.
  Die antike Dramatisierung und unser Märchen überliefern
  ziemlich genau einen ähnlich Stoff; beide schöpfen aus
  einer älteren Quelle, die eine mythologische Begebenheit
  tradiert. Das Mythenmärchen ist in der Grundstruktur
  logisch und frei von jeglicher Moralisierung aufgebaut.
  Eine psychoanalytische Verwendung und Deutung führt nur
  zu Absurditäten und wird dem Mythenstoff keineswegs
  gerecht, sondern zeigt nur die heutige Projektion auf eine
  patriarchale Textoberfläche. Die Grundhandlung ist denn
  auch etwa folgende: Der König Laios, der als
  "Vater" beschrieben wird, ist der Vorgänger im
  Amt auf dem Thron in Theben. Diesen Thron bzw. die
  Königswürde garantiert und gewährt die Königin, die
  eigentliche Herrin von Theben. Wer sie gewinnt und
  heiratet, wird dadurch zum König für eine gewisse Zeit,
  bis sich ein junger Held einstellt und das Rätsel der
  Sphinx bzw. das Rätsel der Landesherrin Iokaste zu lösen
  vermag. Iokaste ist dabei beides gleichzeitig: eine
  mythologische Frauengestalt wie auch eine Landesmutter.
  Dazu ist "Mutter" eine übliche Anrede der
  Ahnin/Grossen Göttin in matriarchalen Gesellschaften,
  woher der Mythen- und Märchenstoff ursprünglich kommt.
  Somit ist "Mutter" und "Königin"
  identisch und bedeutet eine mythologische und nicht
  unbedingt eine biologische Gegebenheit. Von
  "Inzest" oder "Vatermord" kann hier
  keine Rede sein. Denn der junge Held gewinnt zweimal seine
  Initiation zur Königswürde: einmal besiegt er seinen
  Vorgänger im Amt in einem Zweikampf und später löst er
  die schwierige Rätselfrage der Sphinx (Königin), was
  eigentlich eine Brautaufgabe darstellt. Nun folgt die
  Verbindung mit der Priesterin/Königin Iokaste, durch
  welche Ödipus zum Nachfolger im Amt des Königs wird.
  Diese handlungslogische Geschichte wird schon von den
  antiken Dramatikern entmythologisiert und psychologisch
  dramatisiert, worauf es erst ein Problem
  "Ödipus" der Deutung gibt, was sich z.B. bei S.
  Freud und anderen Psychoanalytikern fortsetzt, die den
  verzerrten Text/Stoff als gegeben hinnehmen, ohne ihn
  einer textkritischen Analyse zu unterziehen.
  
  Literatur
  Göttner-Abendroth, H.: Die Göttin und ihr
  Heros. München 1993.
  Krauss, H. u.a.: Was Bilder erzählen. München 1988.
  Propp, V.J.: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens.
  München 1987.
  Puchner, W.: Europäische Ödipusüberlieferung und
  griechische Schicksalsmärchen. In: Veröffentlichungen
  der Europ. Märchengesellschaft 6, 1984. p. 52-63.
  Rank, O.: Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Leipzig
  1912.
  Ranke-Graves, R.v.: Griechische Mythologie. Reinbek 1987.
  Schang, T.: Chinas Weise Frauen. Bern 1996, p. 93 f.
  Schreiner, P.: Ödipusstoff und Ödipusmotive in
  der deutschen Literatur. Wien 1964.
  
  Märchen
  >> Der
  Vater und die drei Töchter
  
  Hinweise
  
   
  
  
  Variantenverzeichnis
  >> Märchen-Suchdienst
  Der Mann, der 99 Popen tötete.
  Karlinger/Rumänien 34
  
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