Der Vater und die drei Töchter 
   
  Es war einmal ein reicher Mann, der hatte drei Töchter. Die jüngste von ihnen war die
  schönste, und so hielt sehr bald ein Freier um sie an. Der Vater wollte sie ihm zuerst
  nicht geben, sondern wollte seine beiden älteren Töchter verheiraten, aber auf die
  dringenden Bitten des Freiers erklärte er sich schliesslich einverstanden und liess die
  Hochzeit vorbereiten. Am Abend des Hochzeitstages nun, als die Neuvermählten allein im
  Brautgemach waren und der junge Ehemann eben zu seiner Gattin ins Bett steigen wollte
  diese war vor Müdigkeit bereits eingeschlafen -, da öffnete sich plötzlich die Wand,
  und ein Gespenst trat heraus, das zu dem jungen Mann also sprach: "Bleib fern von
  Rosa" (dies war nämlich der Name der Braut), "denn sie wird sich mit ihrem
  Vater vermählen und einen Knaben mit ihm zeugen, mit dem sie sich dann gleichfalls
  vermählen wird." Sobald der Bräutigam dies vernommen hatte, begab er sich, ohne
  irgend jemand etwas zu sagen, zu seinem Schwiegervater und sagte zu ihm, er habe sich
  geirrt, denn er habe eigentlich die älteste und nicht die jüngste Tochter zur Frau
  nehmen wollen. Der Vater war damit zufrieden, da dies ohnehin mit seinem früheren Wunsch
  übereinstimmte. So bekam er denn die älteste der Schwestern und führte sie in sein
  Haus. 
  Kurze Zeit darauf fand sich ein zweiter Freier ein, der gleichfalls die jüngste
  Tochter haben wollte. Auch ihm erging es wie seinem Vorgänger, und er nahm die zweite
  Tochter. Die arme Rosa aber blieb ohne Mann, obwohl sie schon zweimal getraut worden war.
  Da verfiel sie in ein tiefes Nachsinnen, weil sie es nicht verstehen konnte, warum ihre
  Bräutigame sie jeweils kurz nach der Trauung verlassen hatten. Sie beschloss daher nach
  einiger Zeit, ihren Vater zu bitten, dass er ihr gestatten möge, die Schwestern zu
  besuchen, da sie ein grosses Verlangen nach ihnen habe. Der Vater willigte ein. Nun suchte
  sie zunächst ihre älteste Schwester auf und sagte zu ihr: "Liebe Schwester, ich
  möchte dich um eine Gefälligkeit bitten, nämlich dass du heute nacht, ehe du dich zu
  deinem Mann legst und nachdem du das Licht ausgelöscht hast, hinausgehst und mich deine
  Stelle einnehmen lässt." - "Sehr gern", antwortete die Schwester,
  "warum nicht? Was du begehrst, soll geschehen." Als es nun Nacht geworden war,
  tat die Schwester auch wirklich, was sie versprochen hatte, und verliess ihren Mann,
  während Rosa sich zu ihm legte und bald darauf, als wäre sie seine Frau, zu ihm sagte:
  "In der ganzen Zeit, wo wir verheiratet sind, habe ich immer vergessen, dich zu
  fragen, aus welchem Grunde du zuerst dich mit meiner jüngsten Schwester verbunden, dann
  aber sie verlassen hast." Da erzählte ihr denn der Schwager, was sich in jener Nacht
  zugetragen hatte, worauf sie ihn verliess und ihre Schwester den ihr gebührenden Platz
  wieder einnahm. Am darauffolgenden Tag besuchte Rosa ihre andere Schwester, von deren Mann
  sie die gleiche Geschichte erfuhr. Als sie endlich wieder nach Hause zurückgekehrt war,
  rief sie aus. "Nein, ich will mich nicht mit meinem Vater vermählen, eher mögen ihn
  Mörder ums Leben bringen." - In ihrer Verzweiflung führte sie diesen Vorsatz
  wirklich aus; sie bezahlte Mörder, liess ihren Vater töten, und die Mörder begruben den
  Leichnam auf einem Acker vor der Stadt. Aus dem Grab aber wuchs ein Apfelbaum. 
  Als Rosa eines Tages ein Verlangen nach Früchten verspürte, kam gerade ein Händler
  herbei, der Äpfel feilbot. Sie kaufte ihm einige Äpfel ab und wurde von deren Genuss
  schwanger. Sobald sich ihr Leib zu runden anhob, suchte sie vergeblich den Grund zu
  ermitteln, denn sie hatte keinen Umgang mit Männern gehabt. Endlich erinnerte sie sich,
  dass sie Äpfel gegessen hatte. Sie liess nachforschen, woher die Äpfel gekommen waren,
  und erfuhr, dass sie auf dem Apfelbaum des Grabes ihres Vaters gewachsen waren. Trotzdem
  ergab sie sich nicht dem Schicksalsspruch, sondern sprach: "Die Prophezeiung des
  Gespenstes soll nicht wahr werden, denn sobald ich entbunden habe, will ich das Kind mit
  eigenen Händen töten." Gesagt, getan. Sofort nach der Geburt gab sie der armen
  Kreatur einige Messerstiche und legte die Leiche in ein Kästchen, welches sie
  festvernagelt ins Meer warf. Das Kästchen schwamm noch nicht lange auf den Wellen, da kam
  ein Schiff vorbei, dessen Kapitän ausrief: "Setzt das Boot aus und nehmt das
  Kästchen auf! Wenn Sachen von Wert darin sind, so könnt ihr sie behalten; ist jedoch
  etwas Lebendiges darin, so soll es mir gehören. "Nachdem man das Kästchen auf
  gefischt hatte, fand man darin ein in Blut schwimmendes Knäblein. Der Kapitän liess es
  sogleich verbinden und durch eine Amme versorgen, und da er selbst keine Kinder hatte,
  nahm er es an Kindes Statt an. 
  Der Knabe wuchs heran, und als nach manchen Jahren sein Adoptivvater starb, erbte er
  dessen Vermögen und betrieb das Geschäft eines Kapitäns, wobei er in viele Länder kam.
  So geschah es, dass er auch an den Wohnort seiner Mutter kam, die noch immer unvermählt
  in ihrem Hause lebte. Er begegnet ihr, und sie fanden aus begreiflichen Gründen Gefallen
  aneinander. So vermählten sie sich, zeugten Kinder und lebten viele Jahre glücklich und
  zufrieden zusammen. Eines Tages reichte Rosa ihrem Gatten ein neues Hemd zum Wechseln und
  sah dabei die Narben der Dolchstiche, die sie ihm einst gegeben hatte. Alsbald stieg eine
  böse Ahnung in ihr auf. Sie fragte ihn: "Was sind das für Narben, die du da auf der
  Brust hast?" Da antwortete er ihr, dass er weder Vater noch Mutter gekannt, sondern
  dass er durch einen Kapitän auf dem Meere in einem Kästchen gefunden und an Kindes Statt
  angenommen worden sei. Als seine Frau dies hörte, stiess sie einen entsetzlichen Schrei
  aus: "Soweit also hat mich mein unseliges Schicksal verfolgt! Du bist mein Sohn, und
  mein Vater ist auch dein Vater! Jetzt, wo die schlimme Prophezeiung des Gespenstes
  eingetroffen ist, lasse ich dich in deinem Kummer und meine Kinder als Waisen zurück. Ich
  aber überliefere mich dem Tode, denn dies war mir vom Schicksal bestimmt!" Dann ging
  sie hin und tötete sich durch einen Sprung vom Dache.
   
  Ödipus, AT 931
  
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