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Der singende Knochen 780

Märchentyp AT: 780
Grimm KHM: Der singende Knochen 28


In einem Land verwüstet ein wildes Tier (Wildschwein, Drache) die Äcker der Bauern und die Ländereien des Königs. Die Prinzessin wird nun demjenigen versprochen, der das Land von der Plage befreien und das Tier töten kann. Ein älterer und ein jüngerer Bruder hören von der Brautaufgabe und melden sich beim König. Darauf ziehen sie aus, doch der Ältere hat kein Glück. Der freundliche Jüngere erhält von einem Wesen (Zwerg, Mann) Hilfe und Ratschläge, so dass er das Wildschwein zu erledigen vermag, ohne selbst getötet zu werden. Auf der Heimkehr zum Königshof trifft er seinen Bruder, der neidisch wird und ihn auf der Brücke ins Wasser hinabstürzt. Der Jüngere stirbt und wird zu einem Baum oder Rohrstengel. Der falsche Bruder nimmt das erlegte Wildschwein zu sich und heiratet die Prinzessin. Eines Tages gelangt ein Schäfer zur Brücke des Brudermordes und findet ein Knöchelchen, woraus er sich eine Flöte schnitzt. Oder er schnitzt diese aus dem Baum oder Rohrstengel. Als er darauf spielt, erzählt sie die Untat des Bruders. Der Schäfer spielt die Flöte auch dem König vor, so dass der falsche Bruder am Hof überführt ist. Dieser wird bestraft und gerichtet.


Anmerkung

 


Literatur

Brewster, P.G.: The two sisters. Helsinki 1953.
Harva, U.: Die religiösen Vorstellungen der altaischen Völker. Helsinki 1938.

Hellbusch, S. u.a.: Tier und Totem. Naturverbundenheit in archaischen Kulturen. Bern 1998.
Holmberg, U.: Der Baum des Lebens. Göttinnen und Baumkult. Bern 1996.
Just, G.: Musik im Märchen. Frankfurt 1991.
Mackensen, L.: Der singende Knochen. Helsinki 1923.
Schmidt, L.: Der singende Knochen. In: Die Volkserzählung. Berlin 1963.
Uhsadel-Gülke, C.: Knochen und Kessel. Meisenheim 1972.


Märchen

>> The Griffin
>> Binnorie
>> The Silver Plate and the Transparent Apple
>> The Magic Fiddle
>> The Twin Brothers
>> Der Rohrstengel


Hinweise

1812 sind es bei Grimm drei Brüder, von denen die beiden ältesten den jüngsten erschlagen, und in dem Reim heisst es: "Meine Brüder mich erschlugen, unter die Brücke begruben". Dies ist 1819 geändert.

Zwei weitere Fassungen, die den Brüdern Grimm vor 1822 aus andern Orten Niederhessens zukamen, heben an wie das Märchen vom Wasser des Lebens (KHM 97). Ein alter König wird krank, will seine Krone weggeben und weiss nicht, welchem von seinen drei (oder zwei) Söhnen. Endlich beschliesst er, dass sie demjenigen zufallen soll, der einen Bären mit einem goldenen Schlösschen (oder ein Wildschwein) fangen kann. Der älteste zieht aus, bekommt ein Pferd, einen Kuchen und eine Flasche Wein mit auf den Weg. In dem Wald sitzt ein Männlein unter einem Bau, fragt freundlich "Wohinaus?" und bittet um ein Stückchen Kuchen. Der Königssohn antwortet voll Hochmut, gibt ihm nichts und wird nun von dem Männlein verwünscht, dass er den Bären umsonst suchen soll. Er kehrt also unverrichteter Sache wieder heim. Der zweite wird ausgeschickt; es geht nicht besser. Nun kommt an den jüngsten, den Dummling, die Reihe; er wird ausgelacht und erhält statt des Pferdes einen Stock, statt des Kuchens Brot, statt des Weins Wasser. In dem Wald redet auch ihn das Männlein an, er antwortet freundlich und teilt seine Speise mit ihm. Da gibt ihm das Männlein ein Seil, womit er den Bären auch fängt und ihn heimführt. - Die andere Erzählung sagt kurz, der zweite Sohn habe das Wildschwein erlegt. Der älteste Bruder sieht ihn kommen, geht ihm entgegen und ermordet ihn; das übrige stimmt überein. - Eine Aargauer Erzählung: "s'Todtebeindli"; ein Knabe und ein Mädchen werden in den Wald geschickt, eine Blume zu suchen; wer sie findet, soll das Königreich haben. Das Mädchen findet sie und schläft ein. Der Bruder kommt heran, tötet das schlafende Mädchen, bedeckt es mit Erde und geht fort. Ein Hirtenknabe findet hernach ein Knöchlein, macht eine Flöte daraus, und das Knöchlein fängt an zu singen und berichtet, wie alles geschehen ist. - Im siebenbürgischen Märchen "Der Rohrstengel" wird der Jüngling, der mit einem Seidenfaden die Wildsau mit ihren zwölf Ferkeln gefangen hat, von seinen beiden Brüdern ermordet; die Flöte, die ihre Untat verrät, wird aber nicht aus seinem Knochen verfertigt, sondern aus einem Rohrstengel, der aus seinem Grab emporspriesst und in dem, nach einem weit verbreiteten Volksglauben die Seele des Verstorbenen fortlebt. Als der Schäfer die Flöte zum König bringt, bläst auch dieser darauf, und sie redet ihn an; da befiehlt der König allen Leuten im Reich, darauf zu blasen, und als sie an den einen Bruder kommt, klingt es:

O Bruder mein, o Bruder mein,
Du bläst auf meinem Beinelein.
Du arger Bruder schlugst mich tot,
Es floss mein Blut so rot, so rot;
Der andre Bruder grub mich ein.
Was mochte des wohl Ursach sein?
S war um das Wild, s war um das Schwein,
S war um des Königs Töchterlein.

In zwei pommerschen Fassungen "Das Flötenrohr", wo die Brüder entweder ein Schwein töten oder ihrem Vater ein Blume holen sollen, ist die Flöte aus Schilfrohr gemacht. Dagegen berichtet die lauenburgische Fassung "Es kommt doch einmal an den Tag", wie ein Hirt sein Horn an den Hollunderbaum hängt, unter dem der Erschlagene begraben liegt, und wie das Horn von selber anhebt zu blasen:

Tut, tut, tut,
Als mein Bruder mich begrub
Wohl unter dem Hollunderbaum,
Das Häslein war mein,
Das gab mir St. Petrus ganz allein.

Friesisch "Twee zusters", wo die eine Schwester die andre in ein frisches Grab stösst und Erde darauf schüttet, der Totengräber aber und der Bruder den Ruf der Halberstickten vernehmen. - Im flämischen Märchen "Van eene koningsdochter" schnitzt ein Hirt eine Flöte aus dem Brustknochen der erschlagenen Königstochter, die Magdalenenblumen für ihre kranke Mutter geholt hatte. In den andern flämischen Fassungen aber geht die Aufdeckung des Mordes, den der Knabe um eines Apfels, Körbchens oder Kreuzchens willen an der Schwester verübt hat, von einer Blume aus, die am Tatort entspriesst, von einem Vorübergehenden gepflückt wird und nun zu singen beginnt: Ach koopman lief, ach koopman lief, Mijn broeder heeft mij vermoord, Al om mijn gouden korfken, En daarom ben ik dood.

Im wallonischen Märchen "La rose de Ste. Ernelle" singt die aus dem Rosenzweig geschnittene Flöte: Berger très dous, Juwez tout douzément! C'était mon frère qui m'a tuwée, Dedans ces grands bois, Pour la ros' de saint' Ernelle, Que j'avais trouvée, Dedans ces grands bois.

Mehrere französische Fassungen stimmen ganz zu den wallonischen und flämischen, insofern ein Mädchen um einer Blume willen vom Bruder erschlagen wird. "Le sifflet qui parle"; Mörder sind hier die beiden älteren Schwestern. Umgekehrt tötet in einer Erzählung aus Haute-Bresse "Les roseaux qui chantent" die Schwester den Bruder. Bei "La flûte accusatrice" singt die Flöte des erschlagenen Knaben nachts von selber: "Bruder und Schwester haben mich ermordet um meiner Flöte willen und mich in den Graben unter der Pappel geworfen"; wie sie dem Leichnam an den Mund gesetzt wird, wird dieser wieder lebendig. Sonst aber sind es wie im Deutschen drei oder zwei Königssöhne, die dem Vater ein Heilmittel oder ein Kleinod holen sollen; der jüngste findet es, wird aber von den älteren Brüdern aus Neid umgebracht. "La rose pimprenelle"; der jüngere Bruder findet das Blatt der Eberesche, das die Herrschaft sichert; der ältere stürzt ihn in den Brunnen. "Changé en arbre"; der Erschlagene wird von der Schwester wieder belebt. Aus Ariège "La feilha de Ilaurier"; der Vater lässt die Gebeine sammeln und in einem goldenen Schrein verwahren; da hört eine Magd in jenem Zimmer Schritte, schaut durchs Schlüsselloch und sieht den wiedererstandenen Königssohn.

Italienisch: "La fleur qui chante"; die Blume in der Hand des Schäfers singt von der Mordtat des älteren Bruders. "Die Greifenfeder"; der jüngste Prinz, der die verlorene Feder des Vaters wiederfindet, wird von den beiden Brüdern erschlagen; aus seinem Knochen fertigt ein Schäfer die Flöte. "La penna dell' uccello grifone"; aus dem abgeschnittenen Rohr, das dem Vater gebracht wird, kommt der Getötete wieder hervor. "Lu re di Napuli"; Prinz findet die Falkenfeder, die seinen blinden Vater heilen soll; Knochen. "Vom singenden Dudelsack"; der Schäfer macht aus den Knochen und der Haut einen Dudelsack, der singt:

Spiele mich, spiele mich, o mein Bauer,
Spiele nur immer munter fort!
Für drei Federn eines Pfauen
Ward ich getötet am Jordan dort
Von meinem Bruder, dem Verräter.
Der zweite hat keine Schuld zu tragen,
Dem grossen aber geht es an den Kragen.

Portugiesisch: "A menina e o figo"; Rosenstrauch offenbart die Tat der Stiefmutter, das Mädchen wird ausgegraben und wieder lebendig. - Brasilien: aus den Haaren der beiden von der Stiefmutter vergrabenen Mädchen wächst Gras, aus dem der Knecht mit der Sense die Worte vernimmt: "Mäher meines Vaters, hau mir nicht die Haare ab! Meine Mutter kämmte mich, meine Stiefmutter vergrub mich wegen der Feigen vom Feigenbaum, welche die Sperlinge frassen". - Slowakisch der Ahorn singt: "Herr der Geigenspieler, fälle nicht! Mich hat die Schwester erschlagen, das Herzchen mir betrübt. Herr Geigenspieler, fälle nicht!" Auch die Eltern, Bruder und Schwester kommen und hören die Worte. - Polnisch: der König verspricht derjenigen Tochter, die am meisten Blumen aus dem Wald bringt, sein Gut; aus der Linde auf dem Grab der jüngeren Schwester wird ein Pfeifchen gemacht. "Die Pfeife" offenbart die Weidenpfeife, die der Hirt sich geschnitten hat, dass die älteste der drei Schwestern im Wald die jüngste aus Eifersucht auf deren Geliebten ermordet hat. Kozlowski: ein Freier verheisst diejenige unter den drei Schwestern heimzuführen, die zuerst den Korb voll Himbeeren pflückt; ein Greis hilft der jüngsten; Weide auf dem Grab. Bei Karol Balinski gleicht der Eingang unserm Froschkönig (KHM 1): die jüngere Schwester erhält erst, nachdem sie sich dem zur Schlange verwünschten Prinzen versprochen, Wasser aus dem Brunnen; als nach einem halben Jahr der Freier in Menschengestalt erscheint, wollen ihm die Eltern lieber die ältere Tochter vermählen und stellen beiden Töchtern Aufgaben, die nur die jüngere löst; daher erschlägt und vergräbt die andere diese; an ihrem Hochzeitstag spielt ein junger Hirt das den Mord verratende Lied. Aus Posen: Mord beim Erdbeerpflücken, Birke von der mittleren Schwester gepflanzt. Aus Krakau: Stiefmutter und älteste Tochter begehen den Mord. Ähnlich lauten die Volksballaden bei Kolberg, als die Schwester die Geige zornig zerschmettert, fliegt daraus eine Taube zum Himmel empor; in zwei Fassungen aus Lublin wächst eine Eibe oder Weide auf dem Grab. - Weissrussisch: der Vater sagt den Töchtern, welche von ihnen zuerst ein Körbchen voll Erdbeeren bringe, solle heiraten; der Prinz, der sich vom Ahorn ein Pfeifchen schneiden lässt, gräbt das Mädchen aus, und es wird wieder lebendig. Aus Mogilew: zwei Schwestern erschlagen den Bruder; eine goldene und silberne Eiche. - Kleinrussisch: Hollunder aus dem Grab des von Olenka beim Erdbeersammeln erschlagenen Bruders. Aus Grodno: Kirschbaum vom Grab des beim Erdbeersammeln von den beiden älteren Brüdern erschlagenen Knaben. Moszynska: ein Lyraspieler nimmt die Därme als Saiten; der Mörder wirft die Lyra zur Erde, da steht das Mädchen lebendig vor den Ihrigen. - Grossrussisch: Flöte des Schafhirten aus dem Rohr auf dem Grab des von der Schwester erschlagenen Knaben; aus Wologda: das Mädchen ist von den kinderlosen Eltern aus Schnee geknetet: von den Gespielinnen beim Erdbeersuchen erschlagen; belebt, als der Vater die Flöte zerbricht oder in einer andern Fassung die Mutter die Rose ins Wasser stellt. Bei Bogdan singt die Flöte:

"Spiele, Flöte, spiele und tröste mein Väterchen und Mütterchen und meine lieben Schwesterlein! Sie brachten mich Arme um, sie erschlugen mich um das Silbertellerchen und die Glaskugel."

Die Tote wird vom Vater erweckt und heiratet den Zaren. Aus Samara: der Vater schneidet das Pfeifchen aus Engelwurz auf, da sitzt das Mädchen drin. Aus Archangelsk: der Vater, dann auch der Bruder, die Mutter und die mörderische Schwester vernehmen das Lied, dann pocht die Erschlagene an die Tür. Von einem singenden Knochen erzählt Wesselofsky: als der Jäger auf dem im Wald gefundenen Knochen bläst, ertönt das Lied, dass zwei Schwestern um zweier goldenen Äpfel und einer Silberschüssel willen sie erschlagen haben.

In einigen slawischen Märchen tritt eine besondere Einleitung auf. Drei Königssöhne wachen hintereinander nachts, um das Wildschwein zu erlegen, das des Vaters Garten verwüstet. Als dies dem jüngsten, einem Dummling, gelingt, ermorden ihn die andern beiden aus Neid. Aus seinem Grab wächst ein Baum, an dem ein Hirt eine Geige hängen sieht. - Masurisch: "Der goldene Apfel"; die Hirtenflöte singt:

Spiele, liebe Flöte!
Ich habe einen Stein auf meinem Herzen,
Der älteste Bruder hat mich erschlagen,
Der zweite Bruder hat ihm dazu geraten,
Und ich habe dem Vater ein Schwein getötet.

Aus der Flöte kommt nach mehreren Verwandlungen der erschlagene Jüngling lebendig zum Vorschein. - Ähnlich beginnt das Zigeunermärchen: "Der Chagrin und die drei Brüder" mit der nächtlichen Lauer auf das dämonische Schwein, die dem jüngsten Hirtensohn gelingt; die Brüder erschlagen ihn, finden aber den Tod, als sie die ihm verheissenen Schätze holen wollten; die Weidenflöte belehrt den Vater, wie er den Ermordeten zum Leben erwecken kann. In einer kroatischen Ballade endlich bittet ein von ihrer Mutter verfluchtes Mädchen, Gott möge es zum Sperberbaum machen, die schwarzen Augen zur kühlen Quelle, die blonden Haare zur grünen Wiese; als ein Schafhirt sich aus dem Baum eine Flöte macht, meint die Mutter die Stimme ihrer Tochter zu hören. In andern Fassungen erhängt sich das Mädchen, oder es will zum Baum werden, weil neun Bane sich seinetwegen bekriegen; oder es bittet in der Flöte, Gott möge es wieder beleben, damit es der alten Mutter Stütze sein könne.

Ungarisch: drei Schwestern, Ahorn, Flöte. "Der Ahornbaum"; wächst da, wo zwei Königstöchter ihre Schwester beim Erdbeerenlesen erschlugen. Ein Bettler macht sich eine Fiedel daraus, die singt:

Ich war eines Königs Tochter,
Aber jetzt bin ich aus Ahorn
Ein klein Geiglein.

Als die Mörderin die Geige fallen lässt, springt die Jungfrau daraus hervor.

Aus Skandinavien und England: die sprechende Harfe. Zwei Königstöchter schreiten zum Meeresstrand, die jüngere klar wie die Sonne, die ältere schwarz wie die Erde und voll arger Gedanken. Da stösst diese die Schwester in die Flut hinab; vergeblich fleht die Ertrinkende um Hilfe und bietet ihr Goldband, ihre Goldkrone und selbst ihren Bräutigam.

"Und nimmer helf ich zum Lande dir,
"Dein junger Bräutigam wird doch mir",

lautet die Antwort. Schiffer ziehen die Leiche ans Land. Ein Spielmann nimmt aus ihr das Brustbein zum Harfengestell, die Finger zu Schrauben, das Goldhaar zu Saiten und geht zum Hochtzeitshaus. Da ertönen aus seiner Harfe die Worte:

"Der Bräutigam war mein Verlobter so traut,
Mein rotes Goldband trägt die Braut;
Meine Schwester stiess mich ins Meer hinab."

Und entsetzt wagt die Verbrecherin ihre Untat nicht mehr zu leugnen. So berichtet eine schwedische Fassung, von der die norwegischen, dänischen, färöischen und isländischen Versionen nicht wesentlich abweichen; nur reizt in der färöischen die jüngere Schwester die andere durch eine unbesonnene Bemerkung:

"Und ob du dich wäschest Tag und Nacht,
Du wirst nicht weisser, als Gott dich gemacht."

Und das Ende der Mörderin erfährt bisweilen weitere Ausmalung. In den englischen und schottischen Versionen wird die Königstochter durchweg nicht im Meer, sondern in einem Fluss ertränkt, und ein Müller zieht die Leiche heraus. Auch in der deutschen Sprachinsel Gottschee hat Hauffen die Ballade von den zwei Königstöchtern aufgefunden. Sie gehen waschen zum breiten Meer, zum tiefen See; die ältere fordert die Schwester, die sie um ihren vornehmen Freier beneidet, auf:

"Tritt her, tritt her auf den grauen Stein!
Ich will dir waschen die Füsslein weiss"
und stösst sie hinein. Als Spielleute vorüberziehen, hören sie den Ruf:
"Ihr Geigerlein, Geigerlein, ihr Lieben mein,
Nehmt hin, nehmt hin mein Seidenhaar
Zu euren Saiten, dass sie spielen fein!
Nehmt hin, nehmt hin meine Fingerlein,
Gebrauchet sie als Wirbelein!
Geht geigen vor der Königs Tür:
Der König hatte zwei Töchterlein,
Die ältre stiess die jüngre ins Meer hinein."

Eine solche Weisung der toten Jungfrau an die Spielleute kehrt wieder in der mährisch-schlesischen Ballade von der Erle, die auch cechisch und polnisch vorhanden ist. Drei Spielleute wollen sich Holz zu einer Fiedel hauen; da blutet der Erlenbaum und hebt an zu reden, er sei ein Mädchen, das die Mutter verwünscht habe, weil es am Brunnen zu lange verweilte; nun sollen die Spielleute das Lied von ihm vor der Tür der hartherzigen Mutter geigen. - Ein estnisches Märchen von der ermordeten Schwester beginnt mit der Ermordung beim Beerensammeln und schliesst daran die Verfertigung der Harfe aus einer Birke, die an jener Stelle erwachsen ist. Wie in den zuletzt genannten Balladen redet die Birke den Bruder an:

"Brüderlein, Brüderlein,
Fälle mich, fälle mich!
Hell als Harfe werd ich klingen,
Hell als Harfe, langnachhallend.
Schwestern beide bösen Sinnes
Brachten um das liebe Beerlein,
Scharrtens ein auf Bergeshöhe."

Daheim verwandelt sich die Harfe, nachdem alle Angehörigen auf ihr gespielt, in allerlei Getier und endlich in das Mädchen. - In einem entsprechenden lettischen Lied ist das Mädchen im Bach verunglückt, eine Linde wächst aus ihrem Leichnam, aus welcher der Bruder eine Harfe (Pfeife) schnitzt; aber nicht diese redet, sondern die Mutter erkennt aus ihrem Ton die verlorene Tochter. Dagegen ist es in einem litauischen Märchen bei Geitler, der Sohn der Mörderin, der einen Zweig vom Grab der Ermordeten als Fiedelbogen benutzt, und nun offenbart die Geige jene Tat.

Aus Indien: "Eine Metamorphose"; Mädchen von den Brüdern getötet und verzehrt; Bambus, Geige, Mädchen. "Die Zwillinge"; umgebracht durch die Nebenfrauen ihres Vaters, werden zu Blumen und, als der Vater naht, zu Menschen. Bei Bompas wächst auf der Stelle, wo die Brüder das Mädchen dem Teichgott geopfert haben, ein Bambus, aus dem ein Mann sich eine Flöte anfertigt; ein Santal stiehlt diese und merkt, dass sie nachts sich in eine Frau verwandelt; da ergreift er sie, und sie bleibt fortan Mensch. Ebd. fällt der Vater den Bambus, der auf dem Grab seines von den Stiefbrüdern getöteten jüngsten Sohnes gewachsen ist, und der Knabe kommt hervor. Ebd. macht ein Bettler aus den Bambusrohren, die aus dem Grab zweier Knaben entsprossen sind, zwei Flöten; als der Vater diese hört, kommen die Knaben daraus hervor.

In einem Betschuanen-Märchen ziehen zwei Brüder aus, ihr Glück zu versuchen. Der jüngere gewinnt einem Riesen eine grosse Herde Kühe ab, in der sich eine Kuh befindet, die weiss ist wie der gefallene Schnee. Er kommt mit dem älteren Bruder wieder zusammen, der nur eine Herde Hunde erworben hat. Dieser verlangt jetzt die weisse Kuh, und als sie ihm versagt wird, ermordet er hinterlistig den jüngeren bei einem Brunnen. Alsbald sitzt auf dem Horn der weissen Kuh ein Vöglein und verkündigt, was geschehen ist. Der Mörder zerschmettert das Vöglein mit einem Steinwurf, aber es erscheint wieder auf dem Horn. Er tötet es abermals, verbrennt es und zerstreut seine Asche in den Wind. Das Vöglein zeigt sich zum drittenmal und spricht: "Ich bin das Herz des Getöteten, mein Leichnam ist bei der Quelle in der Wüste." - Statt des Vogels, der auch in andern afrikanischen Märchen die Untat offenbart und an die unten KHM 47 folgende Erzählung vom Machandelbaum erinnert, verraten bei Chatelain, die beiden Hunde des Erschlagenen Mutelembe und Ngunga durch ein Lied den Mord und erstehen, als der Bruder sie tötet, immer wieder zum Leben. - Die singende Grabespflanze, die in europäischen Fassungen vorkommt, begegnet auch in Dahomeh und im Kongo; ein Pilz, den die Mutter pflücken will, ruft: "Mutter, reiss mich nicht ab! Ich war bei meinen Freunden, sie gaben mir zweitausend Kauris; meinem Bruder gaben sie tausend, und der Unbarmherzige schlug mich tot."

Die hier aufgezählten Märchen von dem enthüllten Geschwistermord scheiden sich, wie auch Monseur in seiner ausführlichen Untersuchung "L'os qui chante" (Bulletin de folklore 1, 39-51. 89-152. 2, 219-241. 3, 35-49. 1891-1898) bemerkt, in zwei Gruppen. In der einen wird die wunderbare Flöte, die wider den Mörder Zeugnis ablegt, aus einem Knochen des Erschlagenen gemacht, in der andern aus einer seinem Grab entsprossenen Pflanze, in der die Seele des Toten fortlebt, um bisweilen sogar ihre leibliche Gestalt wieder zu gewinnen. Statt der Flöte erscheinen auch andre Instrumente, Harfe, Dudelsack, Fiedel. Der Ermordete ist entweder ein Jüngling, den seine Brüder beneiden, oder eine Jungfrau, deren Bräutigam von der Schwester begehrt wird, oder ein kleines Mädchen, dem der Bruder eine Blume entreissen oder eine Belohnung vorwegnehmen will. Die Mordtat geschieht meist im Wald, in der skandinavischen Ballade, die nach England wie nach Deutschland und Estland gedrungen ist, am Seestrand.


Variantenverzeichnis

>> Märchen-Suchdienst

Die Greifenfeder. Schneller/Tirol 51
Das klagende Lied. Bechstein/Deutschland 3
Das klagende Lied. Haltrich/Deutschland 43
Der singende Knochen. Grimm/KHM 28
Vom singenden Dudelsack. Gonzenbach/Sizilien 51


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