Märchen
Friedrich Panzer
I. Inhalt und Form des Märchens
1. Unter dem Worte "Märchen" in seinem wissenschaftlichen Sinne verstehen
wir eine kurze, ausschliesslich der Unterhaltung dienende Erzählung von
phantastisch-wunderbaren Begebenheiten, die sich in Wahrheit nicht ereignet haben und nie
ereignen konnten, weil sie, in wechselndem Umfange, Naturgesetzen widerstreiten.
2. Von Hause aus kam dem Worte solche Bedeutung nicht zu. "Märchen" ist eine
Verkleinerungsform zu dem Hauptworte "die Märe", mittelhochdeutsch diu oder
häufiger daz maere, dessen ursprünglicher Sinn "Kunde, Nachricht"
bedeutete. In der aus Luthers Weihnachtslied geläufigen Fügung "neue Mär
bringen" ist dieser Sinn noch deutlich. Früh aber neigte das Wort zu der Bedeutung
"Erzählung". Es wird im späteren Mittelalter die geläufige Bezeichnung für
jene kleinen Erzählungen in Versform, die wesentlich erfundene Stoffe behandeln. Daraus
begreift sich sowohl der häufige Gebrauch der Verkleinerungsform als die
Bedeutungsverschiebung, bei der sich das Merkmal des Widerspruchs zwischen Märchenaussage
und Wirklichkeit in den Vordergrund drängt. Die anfangs überwiegend gebrauchte
oberdeutsche Form "Märlein" wird dabei seit dem 18. Jahrhundert mit dem
überwiegen des mitteldeutschen Schrifttums allmählich durch die mitteldeutsche Form
"Märchen" ersetzt.
3. Die heutige wissenschaftliche Bedeutung des Wortes Märchen, die es scharf abgrenzt
gegen die verwandten Begriffe der Sage, Fabel, Legende, des Schwankes und der Anekdote,
war vorbereitet im 18. Jahrhundert durch den Gebrauch des Wortes für Erzählungen, die
die Contes de fees und Contes orientaux der Franzosen (vgl. unten § 46)
nachahmten. In seiner wissenschaftlichen Bestimmtheit geht er wesentlich auf die Brüder Grimm
zurück, die freilich in ihre Sammlung der "Kinder- und Hausmärchen" noch
manches aufgenommen haben, das wir heute nicht mehr zu den Märchen im strengen Sinne des
Wortes rechnen würden. Die Mundarten wie die übrigen germanischen Sprachen gebrauchen
für den Begriff andere Wörter von geringerer Bestimmtheit. Holländisch gilt
überwiegend sprookje oder vertelsel, dänisch aeventyr (d. i.
Abenteuer) wie schwedisch eventyr, woneben aber auch saga gebraucht wird wie
norwegisch soge. Im Englischen gebraucht man tale, fairy tale, story, household
story, legend u. a., wie französisch conte, conte populaire, recit, legende, italienisch
conto, racconto, storia, fiaba, favola usw.
4. Was dem kritischen Betrachter heute am Märchen in erster Linie auffällt, ist, wie
oben schon angedeutet, der Widerspruch, in dem seine Aussage zur Wirklichkeit steht. Dies
Wunderbare, Unwirkliche und Unwahre der Märchenerzählung ist in einer ganzen Reihe ihrer
Eigentümlichkeiten gegeben. Träger der Märchenhandlung, ihre eigentlichen
"Helden", sind zwar so gut wie ausschliesslich Menschen. Und zwar überwiegend
Menschen gewöhnlicher Art, die auch in die gewöhnliche irdische Umwelt von Mitmenschen,
Tieren, Pflanzen, der irdischen Landschaft, in die gewöhnlichen Beziehungen von Zeit und
Raum sich hineingestellt finden. Aber dies Gewöhnliche, Irdische wird allenthalben
gepaart und durchkreuzt mit einem Wunderbaren, der Wirklichkeit Widersprechenden. Und zwar
handelt es sich dabei entweder um eine phantastische Steigerung des Wirklichen oder um die
Einfügung eines vollkommen Unwirklichen, Übersinnlichen.
5. Eine Steigerung ins Übernatürliche findet sich bei den auftretenden Menschen,
ihrer Art und ihrem Handeln. Schon die Geburt des Märchenhelden etwa vollzieht sich auf
übernatürliche Weise: er ist geboren, weil die Mutter von einer bestimmten Frucht oder
einem Fisch gegessen, von einem bestimmten Wasser getrunken hat; er ist aus dem Wasser
gezogen, dahin er in einer goldenen Schachtel aus dem Himmel gefallen ist; er wird aus
Eisen geschmiedet. Oder er war von einem Tiere, einem Bären etwa, gezeugt oder doch von
einem Tiere gesäugt und aufgezogen. Oder es haften wunderbare Eigenschaften an ihm:
übernatürliche Körperkräfte, unerhörte Schnelligkeit, unglaubliche Schärfe der
Sinne, die in ungeheure Fernen sieht, die Toten unter der Erde hört u. dgl. Seltener sind
es gehobene geistige Fähigkeiten, wie überlegene Klugheit oder unerhörte Diebeskunst.
Oder diese Menschen geraten in seltsame Zustände, wie einen totenähnlichen Schlaf, wenn
sie an einem Flachsagen oder einer Spindel sich stechen, von einem vergifteten Apfel essen
oder einen bezauberten Gürtel umlegen, oder wenn man ihnen eine Nadel in den Kopf sticht.
Oder sie unterliegen zauberhaftem Wandel der Gestalt, da sie zu Stein werden oder zu
Blumen, zu den verschiedensten Gegenständen, vor allem auch in Tiere mannigfaltiger Art
sich wandeln. Und im Tode noch haben sie solch seltsame Schicksale: fliegen als Tauben
davon, sitzen in Vogelgestalt auf dem Machandelboom und singen dort die Geschichte ihrer
Ermordung oder aus einem Knochen heraus die Anklage gegen den Täter, wachsen als Baum
oder Blume aus dem Grab.
6. Auch die Tiere steigern hier ihre Natur. Sie sind vor allem sprachbegabt wie die
Menschen und diesen in Freundschaft und Feindschaft hundertfältig verbunden. Das
Verhältnis ist dabei auch von ihrer Seite ganz menschlich-persönlich gefasst. Sie stehen
dem Helden als Helfer zur Seite, oft aus Dankbarkeit für gewährte Schonung; sie tragen
ihn mit Windeseile dahin, helfen ihm Erbsen und Linsen lesen, einen Wald hauen, Berge
abtragen, holen Verlorenes für ihn aus dem Wasser, retten ihn aus vielfältiger Gefahr.
Ihre Erscheinung ist gesteigert, da etwa Vögel mit goldenen Federn erscheinen, und sie
haben oft gar seltsame Eigenschaften und Fähigkeiten: ein Esel niest Dukaten, ein Fisch
erfüllt alle Wünsche, an einer Gans klebt alles fest; wer eines bestimmten Vogels Kopf
isst, wird König, eines Vogels Leber, findet jeden Morgen einen Beutel voll Gold unter
seinem Kopfkissen; wer das Fleisch der weissen Schlange geniesst, versteht die
Vogelsprache. Tiere erscheinen Menschen vielfach ehelich verbunden; sie sind dann meist
aus Menschen verwandelt oder wandeln sich in Menschen durch "Erlösung"; mehrere
Märchentypen bauen auf diesem Motiv des "Tierbräutigams" sich auf (z.B.
"Froschkönig" KHM 1, "Löweneckerchen" KHM 88, "Hans mein
Igel" KHM 100, "Eselein" KHM 144).
7. Selbst die Pflanzenwelt nimmt an solcher Erhöhung ins übernatürliche teil.
Apfelbäume tragen wohl ihre Früchte wie sonst, aber es sind Äpfel aus Silber oder Gold,
Äpfel, die gesund machen oder ewiges Leben, ewige Jugend verleihen. Hier wachsen
Früchte, deren Genuss Kinder erweckt oder Hörner wachsen und verschwinden lässt,
Blätter, die Tote ins Leben rufen. Hier wachsen Bäume buchstäblich in den Himmel, oder
sie lassen, geschüttelt, kostbare Kleider herabfallen, und was des Wunderbaren mehr ist.
Auch Steine finden sich wohl mit wunderbaren Kräften und Eigenschaften ausgestattet.
8. Vor allem aber sind die Märchen voll der seltsamsten Gegenstände, denen wunderbare
Fähigkeiten eignen. Da gibt es Tischleindeck-dich und Knüppel-aus-dem-Sack, ewig
gefüllte Beutel und nie versiegende Töpfe und Krüge, Mäntel und Hüte, die unsichtbar
machen, Schwerter, die auf Befehl alle Köpfe abschlagen, Trommeln oder Tornister, aus
denen man ganze Regimenter hervortrommeln kann, Hüte, die, gerückt, Kanonenkugeln
schiessen oder gewaltigen Frost erzeugen, Salben, die unverwundbar machen oder heilen,
Wasser, das Gesundheit oder ewiges Leben verleiht, Tau, der Blinde sehen macht, Schiffe,
die über Land und Wasser fahren, Stiefel, die ihren Träger mit jedem Schritte sieben
Meilen weiter bringen, Pfeifen, die hilfreiche Tiere oder Dämonen herbeirufen, und sonst
Zauber- und Wunderdinge in endloser Fülle. Diese wunderbaren Gegenstände rühren meist
aus dem Besitze übermenschlicher Wesen. Der menschliche Märchenheld erhält sie als
Gaben, die diese dämonischen Gestalten ihm barmherzig und hilfreich darreichen. Oder die
Dämonen treten dem Helden feindlich entgegen, er besiegt sie in gefährlichem Kampfe und
bemächtigt sich so ihrer wunderbaren Werkzeuge.
9. An solchen übernatürlichen Wesen erscheinen zunächst Gestalten, die eine Art
Übergangsstellung zwischen dem Diesseits und einer jenseitigen Welt einnehmen. Es sind
die Zauberer, Hexenmeister und Hexen, die gewöhnlich menschliche Gestalt haben, nur dass
sie immer alt und, besonders die weiblichen, als erschreckend hässlich gedacht werden.
Manchmal vermögen sie sich auch in Tiergestalt zu verwandeln. Denn immer sind sie im
Besitze übernatürlichen Wissens und zauberischer Fähigkeiten gedacht, durch die sie,
dem Märchenhelden hilfreich oder feindlich, in den natürlichen Ablauf des Geschehens
einzugreifen imstande sind. Bereitung giftiger oder einschläfernder Tränke und
Verwandlung der Menschen in Tiere oder Stein sind gewöhnliche Mittel, mit denen sie
arbeiten. Öfter tritt auch einfach "ein alter Mann", "eine Alte",
"ein altes, graues Männchen" u. dgl. auf, die ein nicht näher begründetes
transzendentes Wissen verraten. Häufiger noch aber gehören diese Gestalten nach Art und
Erscheinung vollkommen einer jenseitigen Welt an, sind erklärte mythische Wesen: Riesen,
Zwerge, Heinzel- und Wichtelmänner, Hauler- und Erdmännchen, Wasserdämonen, Gespenster
verschiedener Art. Sie hausen in menschenferner Einsamkeit, im Walde, oft auch in der
Erde, im Wasser, in der Luft, in Bereichen also, die dem gewöhnlichen Sterblichen nicht
zugänglich sind. Dem Menschen sind sie überwiegend feindlich, die Riesen besonders als
Menschenfresser gefürchtet. Auch wunderbare Tiergestalten, wie Drachen oder Greife, der
Vogel Phönix begegnen, und kosmische Erscheinungen: Sonne, Mond und Wind treten als
persönlich gedachte Dämonen auf. Vielfach erscheint auch die christliche Gestalt des
Teufels im Märchen und seine Behausung, die Hölle; seltener leuchten der Himmel und
seine Bewohner auf: Gott, die Jungfrau Maria, Engel, der heilige Petrus. Auch der Tod kann
handelnd auftreten.
10. Soweit aber nun die Wohnungen und Reiche dieser dämonischen Gestalten ferne von
der Menschenwelt liegen unter oder über oder jenseits der behausenden Erde: dem
Märchenhelden ist gleichwohl ein als naturgemäss gedachter, unbestaunter Verkehr mit
ihnen möglich. Und dies ist überhaupt das Wunderbarste an der Erzählung des Märchens,
dass seine ganze Wunderwelt mit ihren so seltsamen persönlichen und sachlichen
Erscheinungen mit ruhiger Selbstverständlichkeit neben die menschlich-irdische sich
stellt, mit ihr sich unaufhörlich durchkreuzend.
11. Die Wirklichkeitsferne der aus Irdischem und Überirdischem so eigenartig
gemischten Märchenhandlung wird nun noch gesteigert durch die sonderbare Unbestimmtheit,
in der sie verdämmert. Die erzählte Geschichte wird nie in eine bestimmte Zeit gesetzt.
Keine Anspielung verrät auch nur das Jahrhundert, in dem sie gedacht wird, geschweige
denn, dass eine Jahreszahl genannt würde. Was das Märchen erzählt, das hat sich eben
"einmal", "vielleicht vor langen Zeiten", begeben; zweifelnde
Schelmerei lässt es etwa in den Tagen, "wo das Wünschen noch geholfen hat",
spielen. Niemals wird im Märchen Ort oder Land der Handlung genauer bezeichnet.
Allenfalls vorkommende Benennungen sind phantastische Namen - "König vom goldnen
Berg", "goldenes Schloss von Stromberg" - oder Länder phantastischer
Ferne: "Spanien", "Türkei", "Rotes Meer". Ja, selbst die
auftretenden Personen, der Held, sein Gegenspieler, wie die Statisten, bleiben ohne Namen.
Wird dieser herrschende Grundsatz da und dort durchbrochen, so bleiben die dann
auftretenden Namen doch ohne eigentliche Bestimmtheit, entbehren also des wesentlichen
Merkmals echter Personennamen. So wird der Märchenheld wohl öfter mit einem Namen
genannt. Aber was da auftritt, sind Allerweltsnamen, die keinerlei Individualisierung
bedeuten, so vor allem Hans, Hansel, Johann oder Jan und vereinzelter, nach
landschaftlichem Sonderbrauche, Joseph, Peter, Seppl, Ferdinand, Gottlieb, Klas u. ä.,
für die Heldinnen entsprechend Gretel, Else, Maria, Annamial, Rose, Lotte u. dgl. Diese
Namengebung tritt übrigens fast nur ein, wenn Personen niedrigen Standes, besonders
Bauernkinder, Helden des Märchens sind. Oder aber die auftretenden Namen sind, was man
mit einem Ausdrucke der Heraldik "redende Namen" nennen könnte, d.h. sie
drücken besondere Eigenschaften oder Erlebnisse der mit ihnen benannten Gestalten aus.
Hans Bär, Bärensohn heisst der vom Bären gezeugte oder erzogene Held, Pfefferhans oder
Pfefferkern der aus einem Pfefferkorn Erwachsene, Brunnenhold, Wasserpeter und Wasserpaul
heissen die nach einem Trunk Wassers von der Mutter Empfangenen, Hans Stark oder Starkhans
der riesenhaft Starke, Goldener, der sich im Brunnen des Riesen Goldhaare holte,
Aschenbrödel, Aschenpössel, Aschenputtel die in der Küchenasche aufgewachsenen Helden
und Heldinnen, Schneewittchen die so weiss war wie Schnee, Dornröschen, deren Schlaf die
Dornenhecke schirmte, Allerleirauh, die mit einem Pelzrock aus allerlei Tierfell
Bekleidete, Rotkäppchen die Rotbemützte usw.
12. Die Handlung aber, um derentwillen diese wundersame Welt in Bewegung gesetzt wird,
ist von eigentümlich eingeschränkter Art. Die grosse Mehrzahl aller echten Märchen mit
männlichen Helden hat die Erwerbung einer Frau zum Vorwurf. Inhalt der Erzählung im
einzelnen ist dann wesentlich die Beseitigung der Schwierigkeiten, die dieser Erwerbung
entgegenstehen, Ziel und Schluss des Märchens die Verheiratung des Helden. Darüber
hinausgeführt wird die Handlung etwa dadurch, dass der Held die schon erworbene Gattin
noch einmal verliert, um sie dann mühseligst wieder aufsuchen zu müssen zur zweiten und
endgültigen Vereinigung (z. B. "König vom goldenen Berg" KHM 92, "Die
Rabe" KHM 93, "Krautesel" KHM 122), oder um von der Gattin, die für diesen
Schlussteil nun die Heldin wird, neu erworben zu werden (Grundform der vergessenen Braut:
"Die zwölf Jäger" KHM 67, "De beiden Künegeskinner" KHM 113). Nach
der Art, wie die Erwerbung der Braut erfolgt, kann man wieder zwei Gruppen unterscheiden.
Die erste Gruppe umfasst Märchen von mehr heldischer Haltung, die man Erlösungsmärchen
nennen dürfte. Die Frau wird in ihnen aus der Gewalt von Riesen, Drachen oder sonstigen
dämonischen Wesen erlöst durch Stärke-, Mut- und Standhaftigkeitsproben, die der Held
zumeist aus eigener Kraft besteht. In der zweiten Gruppe erfolgt die Erwerbung der Frau
friedlicher und in gewissem Sinne geistiger durch Lösung gestellter Aufgaben. Sie gelingt
dem Helden zumeist durch die Unterstützung von Personen, Tieren oder Gegenständen, denen
zauberhafte Kräfte eignen. Der Eingang des Märchens pflegt dann zu erzählen, auf welche
Weise der Held sich diese Hilfe zu sichern wusste. Die Märchen mit weiblichen Helden
geleiten diese gleichfalls durch allerlei Bedrängnisse in den Glückshafen einer
königlichen Ehe. Hier schliesst ganz gewöhnlich eine Fortsetzung sich an, in der der
Heldin durch verleumderische Widersacher neue Mühsale bereitet werden; ihre
Rechtfertigung und die grausame Bestrafung der Gegenspieler machen dann den Beschluss.
13. Held und Heldin erscheinen innerhalb der eigentlichen Märchenhandlung gewöhnlich
in der Vollkraft der späteren Jugend: die stehende Anlage der Erzählung erfordert eben
heiratsfähiges Alter. Eine Ausnahme machen natürlich die Kindermärchen. Die
Gesamthandlung des Märchens berührt nicht selten zwei Generationen, denn sie beginnt
gewöhnlich mit der Geburt des Helden. Da diese öfter unter wunderbaren Umständen
erfolgt, so haben hier auch die Eltern ihre Rollen. Auch der Schluss der Erzählung mag
sie gerne noch einmal streifen. Selten nur greifen sie tiefer in die Handlung, wie etwa
die Mutter im Typus von der vergessenen Braut "De beiden Künegeskinner" KHM
113, der Vater im "Wasser des Lebens" KHM 97. Nur die Stiefmütter hat in
zahlreichen Geschichten eine feste Rolle als Gegenspielerin der Heldin, seltener des
Stiefsohnes, wie im "Machandelboom" KHM 47; auch Stiefschwestern treten häufig
in gleicher Betätigung auf. Von den leiblichen Geschwistern erscheint die Schwester
manchmal als hingebende Helferin und Erlöser (z. B. in den "Zwölf Brüdern"
KHM 9 und "Sieben Raben" KHM 25), sehr selten fällt dem Bruder diese Rolle zu
("Zwei Brüder" KHM 60, "Die Goldkinder" KHM 85). Ganz gewöhnlich
erscheinen die Brüder - es sind fast immer die älteren - als Gegenspieler des Helden;
seltener wirken leibliche Schwestern der Heldin entgegen ("De drei Vügelkens"
KHM 96). Manchmal tritt auch der Schwiegervater dem Helden, öfter die Schwiegermutter der
Heldin feindlich entgegen. Die seltener auftretenden Schwäger können als Helfer
erscheinen, wie im Typus von den Tierschwägern ("Die Kristallkugel" KHM 197
zeigt die Schwäger zu Brüdern entstellt), oder auch feindlich, wie in Fassungen des
Goldenermärchens ("Der Eisenhans" KHM 136).
14. Die Märchenhelden stammen aus zwei gesellschaftlich entgegengesetzten Schichten.
In vielen Märchen sind sie Königssöhne (allenfalls auch Grafensöhne): das ist
besonders in den Erlösungsmärchen von heldischer Haltung der Fall. Oder aber sie
entstammen der niedersten Gesellschaftsschicht, wie meist in den Zauber- und
Schwankmärchen. Der Held ist dann gewöhnlich ein Bauernsohn, auch wohl Sohn eines
Fischers, ein Hirte; auch Köhler, Förster, Jäger, Besenbinder und Müller melden sich
da und dort: die Vertreter einsam betriebener, naturnaher Gewerbe. Von Handwerkern treten
öfter Schmied und Schuster auf, als Held schwankartiger Märchen ist der Schneider
bevorzugt. Besonders beliebt ist dann im deutschen Märchen der Soldat, der, die Zeit der
Söldnerheere voraussetzend, abgedankt oder desertiert einsam durchs Land schweift.
Eigentliche Standesmärchen, wie die Arztgeschichte vom "Gevatter Tod" KHM 44
oder der "Meisterdieb" KHM 192 grenzen an oder fallen schon in den Bereich des
Schwankes. Aus den vorgegebenen gesellschaftlichen Beziehungen holt sich die
Märchenhandlung öfter noch als besonderen Reiz, dass sie das Aufsteigen des
Niedriggeborenen zu strahlender Königsherrlichkeit darstellt, wie sie dem Helden mit der
fürstlichen Braut geschenkt wird. Auch für den Königssohn gewinnt das Märchen des
öfteren eine aufsteigende Linie, indem es sein Emporkommen aus einer mit der Verachtung
des Vaters und der älteren Brüder belasteten oder gar in Küchenasche und träger
Stumpfheit verbrachten Jugend zu leuchtender Heldenschaft und höchstem Glücke schildert.
15. Entwicklung und Verknüpfung der Handlung durch geistige Beziehungen und sittliche
Gedanken ist im allgemeinen nicht die Sache des Märchens. Fast nie finden die einzelnen
Stufen seiner Handlung sich seelisch, aus dem Innern seiner Personen begründet, aus ihrem
gemütlichen und sittlichen Sein und Erleben abgeleitet. Vielmehr erscheint die Handlung
überall von aussen gestossen; der künstlich geschützte Knoten wird nie gelöst, sondern
durchhauen, indem jenseitige Mächte unerwartet und widernatürlich eingreifen. Der deus
ex machina ist geradezu Grundsatz der Märchenhandlung; ihre Ursächlichkeit ist die
"Kausalität des Zaubers", ihr Reich in Wahrheit ein Reich der unbegrenzten
Möglichkeiten. Seelisches spielt im Märchen auch dort keine Rolle, wo sein Hereinziehen
nahe genug läge. Bei jener Erwerbung einer Gattin oder eines Gatten, die der Mehrzahl der
Märchen der gegebene Vorwurf ist, ist doch kaum je von der Liebe als einer geistigen
Macht die Rede. Wo ihrer überhaupt gedacht wird, erscheint sie als ein Naturinstinkt, ein
rein sinnliches Begehren, an der Schönheit der Heldin, des Helden entzündet. Und die
Erwerbung des schwiegerväterlichen Reiches und Schatzes spielt mindestens daneben keine
geringe Rolle.
Treten geistige Eigenschaften bewegend hervor, so sind es einseitig praktische, wie grosse
Klugheit oder hohe Kunstfertigkeit. Von sittlichen Kräften spielt wohl die Liebe der
Mutter zum Kinde, der Schwester zu den Brüdern da und dort eine in die Handlung greifende
Rolle, auch wohl eheliche Treue, z.B. im Typus von der vergessenen Braut ("De beiden
Künegeskinner" KHM 113), und vereinzelt ("Der treue Johannes" KHM 6)
Herren- und Dienertreue. Am häufigsten steht das Mitleid auf dem Plan; in einer ganzen
Zahl von Märchenformen wird der Beistand tierischer Helfer durch die Barmherzigkeit
gewonnen, die der Held ihnen bezeigt hat. Dies Gefühl freilich verleugnet sich völlig
bei den höchst grausamen Strafen, die das Märchen über die Gegenspieler des Helden zu
verhängen pflegt.
Man kann dabei nicht sagen, dass die Märchenhandlung als Ganzes der sittlichen
Gesichtspunkte entbehre. Aber es ist eine höchst primitive Sittlichkeit, die da waltet.
Da ist alles in Schwarz und Weiss gemalt: hier steht das vorbehaltlos Gute, drüben das
ganz Schlechte; dazwischen gibt es keine menschliche, keine problematische Mitte. Und eine
sittliche Weltordnung waltet mit urtümlicher Sinnlichkeit: das Gute siegt nach allerlei
Prüfungen unbedingt, das Böse bezahlt anfängliche Triumphe mit völligem Untergang;
seine Träger werden am Ende stets mit ausschweifender Grausamkeit gequält und getötet.
Über die sittlichen Kategorien von Gut und Böse, über die ästhetischen von Schön und
Hässlich - beide decken sich nicht selten - hinaus hat kaum mehr eine Charakterisierung
auch nur der Hauptpersonen des Märchens statt. Die oben festgestellte Namenlosigkeit
dieser unpersönlichen Gestalten steht damit in gutem Einklang.
Nicht selten ist übrigens die Sittlichkeit des Märchens auch im Positiven nicht die
unsrige. Von seiner Lust an grausamen Strafen war schon die Rede. Als nicht seltene Motive
der Märchenhandlung treten Blutschande, ehelicher Umgang mit Tieren, Kindesaussetzung,
Unterschieben von Personen, Menschenfresserei hervor und finden sich nicht immer von der
Haltung der Erzählung getadelt. Diebeskunst und erfolgreiches Hochstaplertum können
sogar als hohe Vorzüge erscheinen ("Die vier kunstreichen Brüder" KHM 129,
"De Gaudeif un sien Meester" KHM 68, "Der gestiefelte Kater").
Ähnlich wie im Volkslied herrscht überhaupt eine gewisse Lust am Kriminellen, und es
brechen wohl dieselben Instinkte durch wie in der Schundliteratur.
16. Die Anlage der Märchenhandlung ist überwiegend biographisch im ausgesprochensten
Sinne. Sie hat im allgemeinen nur einen Helden; sein Leben verfolgt sie von der Wiege bis
zum Grabe zwar nicht - dieser wirklichkeitsbittere Abschluss liegt der optimistischen
Haltung des Märchens fern -, aber bis zur Heirat. Damit ist die strenge Abgeschlossenheit
eines jeden Märchens nach aussen und seine Vereinzelung gegeben. Es kommt nur
ausnahmsweise vor, dass in der lebendigen Überlieferung einmal zwei Märchen sich
verbinden, indem die Ähnlichkeit der gestaltenden Motive dem Erzähler zwei
Märchenformen gleichzeitig ins Gedächtnis ruft. Sie werden dabei eher
durcheinandergeschoben als aneinandergereiht. Eine Ausnahme machen in gewissem Grade die
Abenteuermärchen, wie man sie nennen könnte, d.h. Märchen, die aus einer bestimmten
Eigenschaft ihres Helden, z. B. seiner auffallenden Kleinheit oder gewaltigen Stärke
("Daumesdick" KHM 37 und "Des Schneiders Daumerling Winderschaft" KHM
45; "Der junge Riese" KHM 90), eine Reihe von Abenteuern ableiten, die, ohne
biographischen Aufbau, lediglich durch die Persönlichkeit des Helden zusammenhängen und
so leicht erweitert oder gekürzt auftreten. Sie nähern sich übrigens damit und sonst
dem Schwanke. Vereinigung einer grösseren Zahl von Märchen zu ganzen Ketten, wie sie aus
der literarischen Überlieferung der Inder und Araber bekannt sind, sind dem deutschen
Märchen und seiner mündlichen Überlieferung fremd.
17. Bei solcher Geschlossenheit nach aussen ist die Märchenhandlung in sich doch fast
immer deutlich mehraktig. Innerhalb der Aufzüge machen sich wieder die einzelnen
Auftritte deutlich empfindbar. Im ganzen ist das echte, biographische Märchen immer
mehrsätzig, nach Sonatenart, komponiert. Die Jugend des Helden gibt das ruhige Largo der
Einleitung. In den Umständen seiner Geburt oder frühesten Jugend deuten die
Schwierigkeiten sich an, in die er geraten wird; eine Art Zwischensatz ergibt sich, wo der
Held in frühen Abenteuern den Samen streut, der ihm nachher segenvoll aufgehen wird. Die
Nöte, die um den Helden sich häufen, und ihre Lösung oder gewaltsame Beseitigung durch
himmlische Kräfte machen den Kern. Besitz- und Eheglück des Helden und Bestrafung seiner
Widersacher geben das kurze, rauschende Finale. Darüber hinaus erscheint in den
Erlösungsmärchen öfter ein Aufbau in drei Hauptstufen: Erlösung und Gewinnung der
Gattin, des Gatten, Verlust und Wiedergewinnung (vgl. oben § 12).
18. Ein solcher Rhythmus der Dreigliedrigkeit beherrscht aber auch sonst in erheblichem
Masse den Aufbau des Märchens. Nicht bloss erscheint die Drei als die stehende Zahl
überhaupt, indem Personen, Dinge, Masse regelmässig in der Dreizahl erscheinen, drei
Söhne also auftreten, drei Schwestern, drei Riesen, drei Zwerge, drei Drachen, drei
Wunsch- und Zauberdinge, drei Tage, Nächte oder Jahre u. dgl. Diese Dreizahl gibt sehr
oft dem Stoffe zugleich die entscheidende Gliederung. Es ist oben schon angedeutet worden,
dass dem Helden öfter zwei ältere Geschwister an die Seite gestellt werden, von deren
hochmütiger Untüchtigkeit seine Leistung sich um so strahlender abhebt. Das führt dann
von selbst und von vornherein zu einem dreigliedrigen Aufbau der Handlung, indem den
älteren zwei vergebliche Versuche zugeschrieben werden, eine gestellte Aufgabe zu lösen;
erst dem dritten und jüngsten, dem niemand es zugetraut, gelingt es. Und so wird auch
sonst in ausgedehntem Masse die Dreizahl verwendet, um einen pyramidenartigen Aufbau der
Handlung in drei sich übereinander erhebenden Stufen zu erzielen. Es gilt gewöhnlich,
dreimal Gefahren zu bestehen, drei Nächte hindurch die Alpqual zu erdulden, drei
Wunschdinge nacheinander heimzuholen, drei Aufgaben zu lösen - immer mit fortschreitender
Steigerung des Umfangs, der Schwierigkeiten und damit der Spannung. Drei Eisenstäbe
werden dem Helden geschmiedet, einer immer stärker als der andere, erst der letzte taugt
seiner Kraft ("Der junge Riese" KHM 90); dreimal erscheinen Aschenputtel und
Allerleirauh zum Feste in immer strahlenderen Kleidern, dreimal der Goldener
("Eisenhans" KHM 136) in immer kostbarerer Rüstung zum Turnier; mit immer
seltsameren und köstlicheren Gegenständen spielen die erste, zweite, dritte Prinzessin
im unterirdischen Reiche des Bärensohnmärchens ("Dat Erdmänneken" KHM 91)
usw. in endloser Reihe. Die Dreiheit wiederholt sich auch öfter mit kunstvoller
Beziehung: dreimal erbarmt sich der Held bedrängter Tiere, die ihm dann nacheinander bei
der Lösung dreier ihm gestellter Aufgaben zu Hilfe eilen.
19. Dieser Rhythmus im Ablaufe der Handlung hat häufig eine gewisse Rhythmik des
Ausdrucks zur Folge, indem die ähnlichen Handlungsstufen bei ihrer dreimaligen Wiederkehr
die gleiche sprachliche Formung erfahren. Ph. O. Runge hat diese Neigung in den von
ihm erzählten Märchen ("Von dem Fischer un siner Fru" KHM 19, "Von dem
Machandelboom" KHM 47) kunstvoll ausgebaut. Überhaupt ist dem Märchen häufig eine
gewisse Formelhaftigkeit des Ausdrucks eigen, wie sie schon dem Bildungsstande seiner
Träger entspricht. Gerne stellen auch zu Anfang und Schluss des Märchens gewisse Formeln
sich ein, die unabhängig sind vom besonderen Inhalte der gerade erzählten Märchenform;
im deutschen Märchen stehen sie freilich sowohl an Häufigkeit als an Umfang und Grad der
Ausprägung stark zurück hinter der Verwendung, die sie etwa in ungarischen, sizilischen
oder selbst französischen Märchen finden. Besonders der Märcheneingang beschränkt sich
im Deutschen überwiegend auf das stehende "Es war einmal". Häufiger zeigt der
Schluss formelhafte Wendungen, und es ist da dem deutschen Märchen fast allein eigen das
häufige "Wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute". Auch
Versicherungen der Wahrheit des Erzählten treten wohl am Schlusse auf, oft freilich auch
mit schelmischer Umkehr und einer Art "romantischer Ironie" oder
Stimmungsbrechung die Illusion freiwillig zerstörend, wie das Grimmsche: "Wer's
glaubt, zahlt einen Taler". Seltener ist in Deutschland die kecke Versicherung, der
Erzähler habe den Helden selbst gesehen oder er sei auf seiner Hochzeit gewesen, habe
aber durch ein spasshaftes Malheur die dort erhaltenen Herrlichkeiten wieder verloren. Hie
und da fordert der Erzähler am Schlusse einen der Zuhörer auf, nun seinerseits etwas zum
besten zu geben. Eingangs- und namentlich Schlussformeln nehmen gerne auch Versform an.
20. Im ganzen ist die Sprachform des deutschen Volksmärchens ja durchaus Prosa. Es
entspricht das der verhältnismässigen Gefühllosigkeit des Märchens, seinem Mangel an
lyrischem Schwung und sittlichem Pathos und somit auch an Sangbarkeit. Vereinzelt ist
seine Erzählung aber doch mit Versen durchsetzt. Sie sind aber von eigentümlichem Gehalt
und stehen nur an ganz bestimmten Stellen der Handlung. So begegnen, doch
verhältnismässig sehr selten, Verse am Eingang des Märchens, die wie ein Glockenzeichen
dem Erzähler lediglich die Aufmerksamkeit seiner Hörer sichern sollen:
Ich erzähl ein Märchen
Vom Dippel-Dappel-Därchen,
Von der Dippel-Dappel-Fiederrnaus,
Blas der Katz das Schwänzchen aus!
Oder es wird der Abschluss der Geschichte, die Rückkehr aus ihrer Wunderwelt auf diese
Erde durch ein Verschen betont:
Snipp, snapp, snut,
Nu 's dei Geschicht ut
oder
Nun ist das Märchen aus,
Da droben läuft die Maus,
Fang sie und mach dir en Pelzkapp daraus!
Wo Verse im Innern des Märchens stehen, führen sie so gut wie nie die Erzählung
weiter, sondern enthalten Reden der auftretenden Personen, Tiere oder Gegenstände. Und
zwar sind es entweder Zaubersprüche, die ihre Macht ja eben aus der erhöhten
dichterischen Form der Rede entnehmen. Aschenputtel zwingt den Baum, sie mit Kleidern
auszustatten, durch den dreimal wiederkehrenden Spruch:
Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich,
Wirf Gold und Silber über mich!
Die Stiefmutter zwingt den Spiegel zum Reden durch ihren Spruch:
Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?
Der Fischer den Butt durch die immer wiederkehrende Beschwörung:
Manntie, Manntje, Timpe Te,
Buttje, Buttje in der See,
Mine Fru, de Ilsebil,
Will nich so as ik wol will.
Die fliehende Prinzessin in einem holsteinischen Märchen hält ihre Verfolger ab durch
den Zauberspruch:
Vör mi hell und achter mi dunkel,
Dat ken Minsch süht, wohen ich funkel
und so in vielen Fällen. Oder aber es handelt sich um Reden übernatürlicher Wesen,
denen alter Glaube eine besondere, von der menschenüblichen abweichende Redeweise
zuschreibt. So spricht der Zwerg im "Rumpelstilzchen" in Versen:
Heute back ich, morgen brau ich,
Übermorgen hol ich der Königin ihr Kind;
Ach, wie gut, dass niemand weiss,
Dass ich Rumpelstilzchen heiss!
Und die Tiere reden sehr oft in Versform, besonders wenn sie eigentlich verwünschte
Menschen sind, wie der Froschkönig:
Königstochter, jüngste,
Mach mir auf,
Weisst du nicht, was gestern
Du zu mir gesagt
Bei dem kühlen Brunnenwasser?
Königstochter, jüngste,
Mach mir auf!
Oder die hellsichtige Taube im "Aschenputtel", aus der man die Stimme der
verstorbenen Mutter hören mag, redet in Versen:
Rucke di guck, rucke di guck,
Blut ist im Schuck:
Der Schuck ist zu klein,
Die rechte Braut sitzt noch daheim!
Wie die verstorbene Wöchnerin, aus dem Totenreiche kehrend, in Versen spricht
("Brüderchen und Schwesterchen" KHM 11):
Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm ich noch diesmal und dann nimmermehr.
Oder in eine Ente verwandelt ("Die drei Männlein im Walde" KHM 13):
König, was machst du?
Schläfst du oder wachst du?
Was macht mein Kindelein? usw.
Natürlich spricht auch der Vogel im Machandelboom, der ja eigentlich der ermordete
Knabe ist, in jenen Versen, die Goethe in den Faust übernommen hat:
Meine Mutter, die -,
Die mich umgebracht hat!
Mein Vater, der Schelm,
Der mich gessen hat!
Mein Schwesterlein klein
Hub auf die Bein
An einem kühlen Ort;
Da ward ich ein schönes Waldvögelein;
Fliege fort, fliege fort!
Und aus dem Knochen singt der Ermordete selbst in Versen:
Ach, du liebes Hirtelein,
Du bläst auf meinem Knöchelein,
Mein Bruder hat mich erschlagen,
Unter der Brücke begraben,
Um das wilde Schwein,
Für des Königs Töchterlein.
21. Durch die geschilderten Eigenschaften unterscheidet sich das Märchen von den
verwandten Gattungen der Volkssage, der Legende und des Schwankes. Die Volkssage verbindet
mit dem Märchen das wesentliche Merkmal, dass auch ihre Aussage dem aufgeklärten,
gebildeten Menschen von heute unglaubhaft erscheint, weil sie vielfach der erkannten
Gesetzlichkeit der Welt widerstreitet. Es liegt das zum Teil daran, dass ihre Handlung
geradezu Bestandteile enthält, die der wirklichen Welt fremd sind. Und zwar sind diese
wunderbaren und jenseitigen Elemente der Volkssage in nicht geringem Masse dieselben, die
auch im Märchen begegnen: Riesen und Zwerge etwa, Teufel und Gespenster erscheinen hier
wie dort. Auch die behauptete Ursächlichkeit des Geschehens ist in der Volkssage vielfach
gerade so unnatürlich zauberhaft wie im Märchen. Aber wenn das Jenseitige im Märchen
als ein völlig Gleichberechtigtes neben dem Irdisch Wirklichen steht, mit ihm in jedem
Augenblicke wie selbstverständlich sich durchkreuzend und vermischend, so wird es in der
Volkssage als ein im eigentlichen Sinne Jenseitiges empfunden und der menschlichen und
sachlichen Wirklichkeit bewusst entgegengesetzt; überwiegend sogar gilt es als ein
Gespenstiges und Ängstigendes, das mit einem in sich eigentlich unberechtigten Dasein in
diese Welt hineinragt.
Denn immer ist das Wirkliche der Menschenwelt Ausgang und Ziel der Volkssage. Sie schwebt
nicht frei in der Luft wie die Handlung des Märchens. Vielmehr zeigt sie sich an einen
bestimmten Ort geknüpft oder - eine Sache irgendwelcher Art, einen Gegenstand, eine
Erscheinung, einen Vorgang der wirklichen Welt. Und ihr Ziel ist nicht wie beim Märchen
einfach zu unterhalten, sondern ein Sein oder ein Geschehen zu erklären. Sie ist im
Gegensatz zum Märchen durchaus ernsthaft gemeint. Sie ist Weltdeutung, ist die
unmethodische Wissenschaft und Philosophie des urtümlichen oder im urtümlichen Denken
verharrenden Menschen. Die Volkssage verlangt so ernsthaften Glauben auch für das
Mythische ihres Gehalts und ihrer Verknüpfungen. Ihre Aussage ist knapp und schmucklos;
sie kennt nicht die vom Rhythmus der Dreiteiligkeit durchpulste Darstellung, nicht den
kunstvoll steigernden Aufbau des Märchens; ihre Darlegung bleibt sehr oft episodisch und
bruchstückhaft. Das Sittliche tritt in ihr ganz anders heraus als im Märchen; ein
sittlicher Gedanke ist sehr oft ihr wesentlichster Gehalt. Weit entfernt von der
lächelnden Heiterkeit des Märchens, eignet ihr eine entschiedene Neigung zum Tragischen.
Dass trotz dieser tiefgreifenden Unterschiede Volkssage und Märchen sich öfter
beeinflussen und vermischen, ist bei der nahen Verwandtschaft ihrer Inhalte begreiflich.
"De drei Vügelkens" KHM 96 z.B. zeigen eine von den Formen der Volkssage
beeinflusste Märchenerzählung.
22. Auch mit der Legende hat das Märchen in dem Wunderbaren der Erzählung eine
freilich weit losere Verwandtschaft. Denn der Stoff im einzelnen und Ziel und Haltung im
ganzen sind doch verschieden genug. Immerhin sind legendarische Gestalten, wie oben § 9
schon angedeutet, Gott-Vater, Maria, die Engel, Petrus und seine himmlische Wirtschaft und
der Teufel mit seinem Höllenstaat gelegentlich auch ins Märchen gedrungen, und Formen
wie "Das Marienkind" KHM 3 oder "Der Arme und der Reiche" KHM 87
könnten als "Märchenlegenden" bezeichnet werden, so stark hat hier auch die
sittliche Gesamthaltung der Legende eingewirkt. Die äusserlichen Bestandteile der Legende
in Personen und Motiven zeigen sich mehr in den literarischer Novellenform oder dem
Schwanke sich nähernden Typen, wie "Das Mädchen ohne Hände" KHM 31 und
"Die Nelke" 76 auf der einen und Bruder Lustig" KHM 81,
"Spielhansl" KHM 82, "Meister Pfriem" KHM 178 auf der anderen, der
schwankhaften Seite.
23. Am stärksten hat das Märchen mit dem Schwanke sich vermischt, obwohl auch
zwischen Märchen und Schwank tiefgreifende Unterschiede bestehen. Der Schwank drängt in
seinem Inhalte nirgends auf ein Wunderbares und jenseitiges, sein Schauplatz ist die
wirkliche Welt. Allenfalls führt er seine Helden in Himmel oder Hölle, deren Einrichtung
mit parodistischem Behagen und dem Kitzel der Blasphemie nur allzu menschlich geschildert
wird, und bringt sie mit deren Verwaltern, Sankt Peter und dem Teufel und seiner
Grossmutter, in spassige Konflikte. Im übrigen leitet er seine Handlung aus den bunten
Möglichkeiten menschlichen Gesellschaftslebens und menschlicher Charaktere ab. Seine
Helden erscheinen darum auch gerne benannt, die Handlung, gerne an bekannte Orte
geknüpft. Sie ist nicht biographisch, überhaupt nicht geschlossen nach aussen, vielmehr
nur eine Episode, ein Abenteuer, das sich dann leicht verwandte zugesellt: immer wieder
hängen sich ganze Ketten von Schwänken an bestimmte Persönlichkeiten. Nach innen ist
die Handlungsführung dagegen straffer als im Märchen, ohne sein holdes Irren, seine
Dreiteiligkeit und Formelhaftigkeit einem bestimmten Ziel, der Pointe, zudrängend. Im
übrigen hat der Schwank keine bestimmte Stilform, Verse sind ihm so gerecht als Prosa,
allen Zeiten und Sprachen schmiegt er leicht sich ein. Er will nichts, als seine Zuhörer
lachen machen. Sittlich ist er weder in Ziel und Haltung noch im einzelnen seines Inhalts;
der bedenklichste Stoff macht ihm die Arbeit am leichtesten. Die geschilderte Schranke
zwischen Schwank und Märchen ist gleichwohl hin und her überstiegen worden. Der Schwank
hat hie und da Bauformen des Märchens übernommen; vor allem aber hat das Märchen ihm
die sichere Wirkung seiner Komik nicht ganz überlassen mögen. Die echte
Märchenerzählung ist bei aller Heiterkeit der Gesamtstimmung von durchaus ernsthafter
Haltung. Gelegentlich aber sind doch schwankhafte Züge aufgenommen; z.B. wenn in der
Grimmschen Fassung des Zweibrüdermärchens KHM 60 der Löwe seinem getötetem Herrn im
Eifer der Wiederbelebung den Kopf verkehrt aufgesetzt hat, was der in seinen traurigen
Gedanken erst bemerkt, als er zu Mittag essen will. Die Vermischung geht aber weiter,
indem die übliche Märchenform mit ihrem dreiteiligen Aufbau und den sonstigen
Versatzstücken vollkommen schwankhaft ausgefüllt wird; die Geschichte vom tapferen
Schneiderlein (KHM 20, "Der Riese und der Schneider" KHM 183; vgl. auch den
anderen Typ "Vom klugen Schneiderlein" KHM 114) scheint eine Erzählung, in der
das Märchen sich gleichsam selber zum besten hat. Man kann solche Formen als
"Schwankmärchen" bezeichnen. Das Märchen hat gelegentlich auch die Kettenform
des Schwankes mit seinem transzendenten Stoff ausgegossen in jenen Typen, die zwar nicht
aus geistigen oder sittlichen Eigenschaften, wie die eigentlichen Schwänke (z. B.
"Das Bürle" KHM 61, "Der gescheite Hans" KHM 32, "Der
"Frieder und das Katherlieschen" KHM 59 usw.), aber aus übernatürlichen
körperlichen eine beliebige Reihe von Abenteuern ableiten, vgl. oben § 16.
II. Die Überlieferung
24. Rechenschaft zu geben von der Art, wie das deutsche Märchen heute überliefert
wird und wie das in vergangener Zeit geschah, der eben versuchten "Morphologie"
also eine "Biologie" des Märchens zu gesellen, ist eine unerwartet schwierige
Aufgabe. Es fehlt dafür leider selbst aus der Gegenwart an hinreichender Beobachtung und
Aufzeichnung. In den Sammlungen sind die Märchen meist aus der Mundart, ihrer
natürlichen Sprachform, ins Hochdeutsche übersetzt, dazu von den Sammlern stilisiert.
Und nur ganz ausnahmsweise haben die Urheber einer Sammlung für der Mühe wert gehalten,
mitzuteilen, wann, wo, von wem, unter welchen Umständen sie ihre Märchen, vernahmen. Im
Kreise der Gebildeten hat das Märchen heute seine Heimat so gut wie ausschliesslich in
der Kinderstube, wo ihm naturgemäss auch in der Vergangenheit schon immer eine
Pflegestätte bereitet war: Bildungsstufe und geistige Anlage des Kindes kommen dem
Märchen eben am weitesten entgegen. Mütter und Ammen, also Frauen, sind da vorwiegend
die Erzähler; Buchüberlieferung spielt heute stark herein. In älteren Zeiten aber und
heute noch in primitiveren Verhältnissen hatte und hat das Märchen auch an Erwachsenen
sein Publikum, und keineswegs sind da Frauen die alleinigen Träger der Überlieferung; in
norddeutschen Landschaften wenigstens scheinen Männer dabei sogar überwiegend beteiligt.
Auch innerhalb der breiten Masse der weniger Gebildeten aber verengt sich noch einmal der
Kreis, in dem das Märchen als Unterhaltung auch der Erwachsenen lebendig ist, da
Kleinbürger, Bauern und Fabrikarbeiter so gut wie ganz auszuscheiden scheinen.
Tagelöhner, Fischer, Matrosen, Landstreicher werden am öftesten als Gewährsmänner
genannt: unter ihnen verkürzt das Märchen noch den Feierabend, die Winternacht, die
arbeitslosen Stunden im Felde, an Bord, in der Herberge. Dass es früher in höheren
Schichten lebte, vor allem auch dem Bauernstand gehörte, ist kein Zweifel. Die im 16. und
17. Jahrhundert geläufige Bezeichnung unserer Geschichten als Spinn-, Rocken- oder
Kunkelmärchen allein schon zeigt, dass es einst auch die bäuerlichen Spinnstuben mit
seinem Glanze erhellte.
Wirkliche Märchenerzähler sind auch im Volke stets vereinzelte Personen, denen ein Gott
gegeben hat, diese Geschichten zu behalten - behüllig muss man dazu sein, wie man
in Pommern sagt - und wiederzugestalten. Das Gedächtnis dieser unverbildeten Menschen
leistet dabei Erstaunliches. Die Sammler haben immer wieder Leute getroffen, die über
fünfzig, sechzig und mehr Geschichten mit nie versagender Treue des Gedächtnisses
verfügten. Bünker konnte in Ödenburg aus dem Munde eines Strassenkehrers nicht
weniger als hundertzweiundzwanzig verschiedene Märchen aufnehmen, die der Mann im
Abstande eines Jahrzehntes zu wiederholen vermochte, ohne einen Umstand dabei zu
verändern. Ihre Zuhörerschaft spendet solchen Erzählern willig mehr als Beifall, und
leicht mag in früheren Zeiten der Fahrende sich auch durch Märchenerzählen seinen
Unterhalt verdient haben. Pommersche Märchenerzähler unterbrechen sich wohl an
Höhepunkten der Handlung und erklären, nicht fortfahren zu wollen, bis man ihnen eine
Prise oder einen Trunk gespendet: das sind Handwerkstricks des Fahrenden, die wir aus der
mittelalterlichen Spielmannsepik kennen.
25. Überlieferung von Mund zu Ohr war in alten Zeiten die ausschliessliche und ist
heute noch die natürliche Form der Märchenüberlieferung. Unsere neueren Märchensammler
haben ihren Stoff zum weitaus grössten Teile mündlicher Überlieferung entnommen.
Freilich hat zu allen Zeiten auch die schriftliche Überlieferung mit hineingespielt.
Märchen sind auch in Deutschland schon im Mittelalter in die Literatur eingedrungen und
zu den verschiedensten Zwecken in mehr oder weniger reiner Form aufgezeichnet worden;
diese schriftlichen Gestaltungen haben nicht selten auf die mündliche Volksüberlieferung
zurückgewirkt. In neuerer Zeit hat der Druck naturgemäss stärkeren Einfluss gewonnen.
Eine so unendlich verbreitete Sammlung wie die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm,
auch die vielgelesenen Bechsteinschen Märchen haben im letzten Jahrhundert die deutsche
Überlieferung stark bestimmt. Auch fremdländische Sammlungen, wie Tausendundeine Nacht
und Perraults Märchen, konnten ihr deutlich erkennbare Spuren eindrücken.
26. Die Zahl der Volksmärchen, die heute aus dem deutschen Sprachgebiete gesammelt und
gedruckt vorliegen, ist gewaltig. Es mögen ihrer schon mehrere tausend sein, und immer
noch kommen neue dazu. Wer sich aber der Mühe unterzieht, die veröffentlichten
Sammlungen untereinander zu vergleichen, erkennt bald, dass keineswegs lauter unter sich
verschiedene Erzählungen darin enthalten sind. Vielmehr kehrt eine beschränkte Zahl von
Erzählungstypen deutlich erkennbar immer wieder. Diese Tatsache aber bestätigt sich
auch, wenn man den Kreis der deutschen Überlieferung überschreitet. Viele Tausende von
Märchen sind allmählich auch bei unseren Nachbarvölkern, ja aus fast allen Teilen der
bewohnten Erde aufgezeichnet worden. Und auch hier zeigt sich häufige Wiederkehr
derselben Grundformen, und diese Formen decken sich zum guten Teile mit den
Erzählungstypen, aus denen sich die deutsche Märchenüberlieferung zusammensetzt.
27. Das Verhältnis ist bei diesen Übereinstimmungen genauer dies, dass nur der
Grundaufbau der Erzählung wirklich der gleiche zu sein pflegt, im einzelnen aber
Abweichungen von grösserer oder geringerer Ausdehnung und Bedeutung sich zeigen. Es liegt
in dem oben in § 15 Ausgeführten bereits angedeutet, dass die innere Fügung der
Märchenhandlung eine sehr lose zu sein pflegt; es ist das die Folge der mangelnden
inneren Verknüpfung der einzelnen Züge sowohl, als jener deutlich empfindbaren
Gliederung in Abschnitte, wie sie im Märchen stattzuhaben pflegt (oben § 17). Nennt man
die einzelne geschlossene Märchenerzählung als Ganzes eine "Märchenform"
("Grundform") oder einen "Märchentypus", so kann man die einzelnen
Abschnitte, in denen sie sich aufbaut, als "Märchenformeln" und bei reicherem
Gehalt als "Formelgruppen" bezeichnen. Die einzelnen Aussagen aber, aus denen
wieder diese Formeln bestehen, nennen wir "Züge" oder "Motive".
Das in der Märchenüberlieferung durchgehende Verhältnis ist nun dies, dass unter den
Märchen, die auf deutschem Sprachgebiet aufgezeichnet sind, wenn man sie unter sich oder
aber mit den Märchen anderer Völker vergleicht, dieselben Grundformen oder Typen immer
wiederkehren. Im einzelnen aber ist die Ausprägung der Grundform in jeder Erzählung
wieder anders, und zwar nicht nur, weil die sprachliche Formulierung immer wieder
verschieden ist, sondern weil auch die Inhalte dadurch abschatten, dass innerhalb der
gleichbleibenden Form die einzelnen Züge, vielfach aber auch ganze Formeln und
Formelgruppen verschieden sind. Auf diese Weise entstehen innerhalb der deutschen und noch
mehr der Märchenüberlieferung aller Welt eine grosse Zahl mehr oder minder abweichender
Ausprägungen jeder Form, die man "Fassungen" oder "Varianten" zu
nennen pflegt.
28. Das Märchen vom Bärensohn, wie man es gewöhnlich nennt - bei Grimm "Dat
Erdmänneken" KHM 91 -, ist beispielsweise auf deutschem Boden in über vierzig
Fassungen, auf der ganzen Erde in etwa dritthalbhundert Fassungen aufgezeichnet. Sie
bieten fast alle übereinstimmend folgenden Kern. Der Held wagt sich unterirdisch in eine
Welt, wohin seine feigeren Genossen sich nicht getrauen. Er erlöst dort mehrere
Jungfrauen, indem er ihre dämonischen Bedränger in gefährlichem Kampfe besiegt. Die
Befreiten befördert er auf die Oberwelt; er selbst muss, von den Genossen verraten, im
Dämonenreiche verbleiben. Schliesslich findet auch er Mittel zu glücklicher Rückkehr,
naht sich verkleidet den Erlösten, überführt und bestraft die Verräter und bringt
durch Verheiratung mit der Schönsten das Märchen zum glücklichen Abschluss.
Diese übereinstimmenden Grundzüge schatten nun in der Ausmalung der Einzelheiten von
Fassung zu Fassung derart ab, dass in der ganzen Überlieferung auch nicht zwei Fassungen
inhaltlich vollkommen übereinstimmen. Da werden beispielsweise die Jungfrauen bald von
einem, bald von mehreren, meist drei, Dämonen bewacht. Diese Dämonen aber heissen Zwerge
oder Riesen oder Zauberer oder Menschenfresser oder Teufel oder Neger oder Schlangen,
Tiger, Hunde usw. Von den Jungfrauen erhält der Held nach siegreich bestandenem Kampfe
häufig Kleinodien geschenkt, die ihm später als Ausweis dienen; sie heissen in den
einzelnen Fassungen Ringe oder Kronen, Hälften von Ringen oder sonstiges Geschmeide,
Ketten, Armbänder usw. Oder es sind Taschentücher, mit den Namen der Prinzessinnen
bestickt oder mit Sonne, Mond und Sternen, oder Pantoffel, Bänder oder Kleider. Oder es
sind Kugeln aus Gold oder Edelsteinen oder Wunschäpfel, Zauberstäbe usw. in endlosen
Abänderungen. Der Held kehrt auf die Oberwelt zurück, indem er von einem der
dämonischen Jungfrauenwächter, den er geschont hat, hinaufgetragen wird, oder von einem
herbeigepfiffenen Zwerge oder von einem Widder oder besonders oft von einem sehr
mannigfaltig geschilderten Riesenvogel, den er sich wieder auf eine sehr verschieden
erzählte Weise verpflichtet hat, usw. mit zahllosen Ausweichungen durch alle Formeln und
Züge des Märchenkerns hindurch.
Darüber hinaus aber wechseln innerhalb der Grundform auch ganze Formelgruppen. Der
skizzierte Märchenkern begegnet in der Überlieferung mit drei unter sich wesentlich
verschiedenen Einleitungen. Die Einleitung erzählt nämlich entweder die Vorgeschichte
des Helden - die aber wieder in zwei ganz verschiedenen Fassungen - oder auch die
Vorgeschichte der nachher vom Helden erlösten Jungfrauen. Im ersteren Falle heisst es
entweder so: Der Held, tierischer Abstammung, im Walde wunderbar geboren und erzogen, ist
von riesenhafter Kraft. Er erwirbt eine riesenhafte Waffe und verbindet sich wandernd zwei
Genossen, die doch zu seiner Heldenschaft nicht aufreichen. In einem einsamen Hause im
Walde unterliegen sie einem dämonischen Wesen, das nur der Held besteht und verwundet.
Der Blutspur folgend, gelangt er in die unterirdische Welt. Oder aber die Erzählung
lautet so: Der Held, meist der jüngste von drei Königssöhnen, bezwingt einen Dämon,
der den väterlichen Garten allnächtlich zerstörte, nachdem die Brüder vergebens den
Schädiger zu stellen versucht hatten. Der Blutspur des Verwundeten folgend, gelangt er
ins unterirdische Reich. Die dritte Form der Einleitung endlich geht von den Jungfrauen,
drei Prinzessinnen, aus, die ein Dämon dem Vater nach und nach entführt. Auf den Aufruf
des Königs macht der Held mit seinen Genossen sich auf die Suche und besteht im Waldhaus
den Dämon, auf dessen Spur er ins unterirdische Reich gelangt: diese dritte Form der
Einleitung mündet hier in die erste. So wechseln hier also ganze Formelgruppen. Innerhalb
der dreifach verschiedenen Formelgruppe variieren natürlich auch wieder die Einzelzüge.
29. Was hier an der Märchenform des Bärensohns beispielsweise dargelegt wurde, gilt
nun für alle "Grundformen" im Verhältnis zu den "Fassungen", die von
ihnen inner- und ausserhalb Deutschlands im Umlauf sind. Ein Blick in den Anmerkungsband
der Grimmschen Märchen und die wenigen von den Brüdern dort mitgeteilten Fassungen, die
von ihnen neben den im Text aufgenommenen aus der mündlichen Überlieferung aufgezeichnet
waren, genügt schon, um eine weitreichende Anschauung von diesen Tatsachen zu
verschaffen. Die Einsicht in eine beliebige neuere Märchenuntersuchung wird sie
vertiefen. Die Folge davon ist, dass es feste Grundformen von Märchen eigentlich nur in
der Idee gibt. Wenn wir vom Dornröschen-, vom Schneewittchenmärchen als einer
Märchenform reden, so ist das eine Abstraktion. In Wirklichkeit gibt es von diesen und
allen sonstigen Märchenformen nur Fassungen, die unter sich wieder stark verschieden
sind, gibt es, wie man mit geringer Übertreibung sagen könnte, in Wirklichkeit so viel
verschiedene Ausprägungen als es Erzähler des Märchens gegeben hat, das eben beinahe in
jedem Munde in irgendeinem Zuge anders artet.
30. Die Gründe dieses eigenartigen Standes der Überlieferung sind mannigfach. Sie
liegen einmal in der Tatsache gegeben, dass Märchen sich bis in die neuere Zeit
vorwiegend mündlich fortgepflanzt haben. Damit ist ohne weiteres gegeben, dass eine
vollständige und genaue Überlieferung der einzelnen Märchenform ausgeschlossen bleibt.
Alle mündliche Überlieferung ist gedächtnismässig, dem Gedächtnis aber sind
natürliche Grenzen gezogen. Trotz der ausserordentlichen Leistungen, die gerade
ungebildete Personen hier oft zeigen, musste es bei den einzelnen Erzählern in der
verschiedensten Weise versagen. Innerhalb der einzelnen Erzählung selbst werden Personen,
Gegenstände, Rollen, Züge verwechselt, vertauscht, in ihrem Ursinn vergessen und neu
verknüpft und gedeutet; eine nur unbedeutende Veränderung an einem Punkte hat da oft
bedeutsame Folgen für die gesamte Erzählung. Es entstehen durch das Versagen des
Gedächtnisses vor allem auch Lücken. Das führt bei den geistig unbeweglichen Erzählern
zu bruchstückweiser, auch innerlich unzusammenhängender und zerbröckelter
Überlieferung. Bei den beweglicheren Geistern aber wird oft ganz unbewusst, ein
Zwang sich regen, die Lücke auszufüllen. Das geschieht erfahrungsgemäss nur in
selteneren Fällen durch eigene Phantasietätigkeit und Verknüpfung. Häufiger so, dass
aus verwandten Erzählungen leidlich passende Ersatzstücke für das Verlorene geholt
werden. Auf diese Weise entstehen dann nicht selten weitgehende Vermischungen getrennter
Märchenformen. Solche Verquickung tritt aber auch ohne Gedächtnislücken sehr leicht ein
durch unzeitige Erinnerung an verwandte Lagen, Züge, Verknüpfungen, Personen oder
Gegenstände in anderen, dem Erzähler bekannten Märchenformen, aus denen nun mehr oder
weniger bedeutende Stücke herübergeholt werden. Es führt das öfter dazu, dass die
Erzählung überhaupt nicht mehr ins alte Geleise zurückfindet und nach einem Anfang in
der einen Grundform vollständig in eine andere, irgendwie verwandte übergleitet. Nur
vereinzelt finden solche Verbindungen in der Weise statt, dass einer fast vollständig
erzählten Grundform eine andere, verwandte auch wieder in fast völliger Gänze
angereiht wird.
Auch ohne solche Einmengung aber werden nicht selten Züge einer Grundform an verwandte
Züge einer anderen Grundform angeglichen. Und innerhalb derselben Grundform finden sich
auch öfter Einebnungen des Besonderen und Ausgleichung. Es sind das alles Vorgänge, die
in Kopf und Mund der Erzähler sich gewiss überwiegend unbewusst vollziehen. Es gehört
in diesen Bereich des selbstverständlich und fast reflektorisch Vollzogenen auch die
Angleichung der fremden Bestandteile einer aus der Ferne gekommenen Erzählung an das
Gewohnte, Heimische in der Schilderung der Umwelt, den auftretenden Tieren oder
Pflanzen, manchem Kulturzug. So wie auch das Altertümliche und Veraltete
selbstverständlich in das Gegenwärtige mehr sich selber umsetzt als umgesetzt wird. Aber
natürlich machen auch der - manchmal vielleicht auch noch halb unbewusst bleibende -
Spielbetrieb der Phantasie und bewusste Willkürlichkeiten sich geltend. je nach der
Aktivität des Erzählers, der Lebhaftigkeit seiner Einbildungs-, dem Masse seiner
Gestaltungskraft wird er auch aus Eigenem seine Zutaten machen. Ist dem Träger der
Überlieferung hier mit der ungebundenen Sprachform und dem Wegfall der Weise doch
sichtlich eine viel weitergehende Freiheit gegönnt als dem Träger des Volkslieds. Im
ganzen zeigen in der Märchenüberlieferung sich grundsätzlich dieselben Erscheinungen,
die aus der Überlieferung des Volksliedes bekannt sind: das Märchen wird ganz so
zersagt, wie das Volkslied zersungen wird.
31. Aus diesem Stande der Überlieferung erwächst der Wissenschaft am Märchen
dieselbe Aufgabe, die für die Volksliedforschung ihrer Überlieferung gegenüber besteht.
Es gilt von jeder Märchenform sozusagen eine kritische Ausgabe herzustellen, die den
Versuch macht, die Urform des Märchens herauszuarbeiten und die Lesarten der
hundertfältig abschattenden Überlieferung zu erklären. Die Märchenforschung befindet
sich bei der Bearbeitung dieser Aufgabe aber in einer unverhältnismässig weniger
günstigen Lage als die Volksliedforschung. Ihr ist so gut wie nie der beim Volksliede
nicht seltene Fall gesetzt, dass sie die Urform - die dort öfter in einem bekannten
Kunstliede vorliegt - in Händen hielte. So vermögen die Ergebnisse, zu denen sie bei
ihren Versuchen vordringt, im allgemeinen nur wechselnde Grade der Wahrscheinlichkeit zu
erreichen. Am geringsten wiegt noch der äussere Umstand, dass jede Bemühung dieser Art
sich zunächst einem sehr reichen und zugleich widerspenstigen Stoffe gegenübersieht, da
jede Märchenform in einer nicht selten überaus grossen Zahl von Fassungen - es sind
gelegentlich mehrere hundert - überliefert zu sein pflegt, die, durch zahlreiche
Sammlungen in ungezählten Sprachen verstreut, aufgesucht, im einzelnen gewürdigt und Zug
für Zug untereinander verglichen sein wollen.
Schlimmer sind die inneren Schwierigkeiten. Man geht bei der Suche nach der Urform von der
Unterstellung aus, dass das besser Begründete, das genauer Zusammenhängende und
Folgerichtige auch das Ursprüngliche sei, dass der Erfinder der Geschichte sicher und
ohne unnütze Umschweife auf sein erkennbares Ziel losgegangen wäre. Es ist klar, dass
diese Voraussetzung im Einzelfall unzutreffend sein, dass ein Märchen sich auch einmal
aus einer ausschweifenden und weniger klaren Anlage zu bestimmterer Folge erhoben, zu
strengerer Logik durchgearbeitet haben kann. Darüber hinaus pflegt man zu unterstellen,
dass Züge, die durch eine grössere Zahl von Fassungen bezeugt sind oder sich über
weitere geographische Räume verbreitet zeigen, ursprünglicher sein werden als solche,
die nur in wenigen Fassungen oder innerhalb eng begrenzter Verbreitungsgebiete sich
finden: auch hier können im Einzelfall offenbar Irrtümer unterlaufen. Entfernen wird
eine solche Untersuchung naturgemäss alles, was sichtlich durch unzeitige Erinnerungen
aus anderen Märchenformen eingedrungen ist. Was dann nach solcher vergleichenden
Betrachtung als logisch (im Sinne des Erzählungszusammenhanges und der Märchenlogik
natürlich), als gut bezeugt oder gar in allen Fassungen übereinstimmend übrig bleibt,
nimmt man als Urform des Märchens in Anspruch. Diese stets hypothetische Urform stimmt
gewöhnlich mit keiner einzigen der tatsächlich überlieferten Fassungen völlig
überein, sowenig wie etwa in der Sprachwissenschaft ein Wort der überlieferten
Einzelsprachen mit seiner erschlossenen indoeuropäischen Grundform sich zudecken pflegt.
32. Die Verbreitung der Märchen im Sinne abschattender Überlieferung einer
beschränkten Zahl von Grundformen erstreckt sich nun über einen grossen Teil der
bewohnten Erde. Als ihr Kernland dürfte man den Kulturbereich der sog. "Alten
Welt" bezeichnen. Sie reichen in geschlossener Ausbreitung vom mittleren und
westlichen Asien über Nordafrika und ganz Europa; vereinzelt finden sie sich auch in
Ostasien, ganz Afrika, in Amerika und wohin sonst die Protuberanzen jenes Kulturbereichs
geschleudert sind, stossen dort aber mit einer geschlossenen Masse einheimischer
Erzählungen anderer Inhalte und Formen zusammen. Für die Wissenschaft erhebt sich aus
diesem Stande die weitere Frage: Woher kommt diese merkwürdige Verbreitung einer
begrenzten Zahl nach Form und Inhalt eigenartig geprägter Geschichten, wie, wo und wann
sind sie entstanden? Es sind nach und nach recht verschiedene Antworten auf diese Fragen
gegeben worden.
III. Ursprung der Märchen
33. Die Brüder Grimm waren geneigt, die Übereinstimmung der Märchen bei
verschiedenen Völkern nach denselben Grundsätzen zu erklären, nach denen die
vergleichende Sprachwissenschaft sich die Übereinstimmung der sog. indoeuropäischen
Sprachen zurechtlegt. Mit feinem Ohr hatten sie aus den Märchen Nachklänge uralter,
zerbröckelter Mythen herausgehört, "Überreste eines in die älteste Zeit
hinaufreichenden Glaubens". Die eigentliche Heimat des Märchens fanden sie bei den
indoeuropäischen Völkern mit den germanischen als Mittelpunkt. Es lag dann nahe, in den
Märchen uraltes indoeuropäisches Erbgut zu sehen, das den einzelnen Völkern nicht
anders zu eigen geblieben sein konnte wie die gemeinsame, von Volk zu Volk abartende
Sprache. In manchen Märchen fanden sie auch Nachklänge ausgesprochen germanischer Mythen
und Heldensagen.
Je genauer man nun aber, den Anregungen der Brüder Grimm folgend, die
Märchenüberlieferung kennenlernte, um so mehr fanden sich auch nichtindoeuropäische
Völker an ihr beteiligt. Und die von den Brüdern vertretene Ableitung bestimmter
Märchenformen aus germanischen Mythen und Sagen wurde schwierig oder unmöglich, als man
Aufzeichnungen dieser Märchen aus Zeiten und Völkern kennenlernte, die weit vor oder
gänzlich abseits jener germanischen Überlieferungen lagen. Musste man danach die
vorhandene Übereinstimmung der Märchen in immer steigendem Masse durch nachträgliche
Wanderung der Geschichten erklären, so war damit der einheitliche Erklärungsgrundsatz
durchbrochen: auch innerhalb der indoeuropäischen Völker konnte dann das Märchen leicht
an einem Punkte entstanden und von da zu den übrigen Stämmen verbreitet, gedacht werden.
In der Tat ist auch diese Auffassung vertreten worden.
34. Der Göttinger Sprachgelehrte Theodor Benfey veröffentlichte im Jahre 1859
eine Übersetzung des Pantschatantra, eines grossen, sehr alten indischen
Erzählungswerkes, das auch allerlei Märchen enthält. In der Einleitung vertrat er die
Ansicht und suchte sie mit ausgebreiteter Gelehrsamkeit an einer Reihe von Märchenformen
zu erweisen, dass Indien die Heimat des Märchens schlechthin sei; von dort habe es sich
über die Erde verbreitet. In der Tat sind in Indien Märchen früh und in grosser Menge
aufgezeichnet. Wir haben dort neben dem Pantschatantra eine ganze Reihe zum Teil höchst
umfangreicher und alter Sammlungen von Märchen - meist untermischt mit Fabeln, Parabeln,
Schwänken u. a. - erhalten; eine von ihnen, die Sammlung eines gewissen Somadewa aus dem
11. Jahrhundert, führt den bezeichnenden Titel Katha Sarit Sagara, d.h. Ozean der
Märchenströme. Benfey wies nach, dass die Märchenformen dieser Sammlungen überall in
der ausserindischen, so auch der europäischen und insonderheit auch der deutschen
Überlieferung wiederkehren, so dass an der Zusammengehörigkeit in der Tat kein Zweifel
bestehen kann. Da nun die indischen Aufzeichnungen so gut wie durchweg älter als alle
verglichenen sind, in manchen von ihnen aber ausgesprochen buddhistische Züge begegnen,
so schien ihm ihr indischer Ursprung gesichert, Indien damit als Heimat des Märchens
überhaupt erwiesen.
In das Abendland wäre die indische Überlieferung nach Benfeys Meinung wesentlich auf
zwei Wegen gelangt. Erstens und hauptsächlich waren die Märchen von den Indern zu
Persern und Arabern gewandert; von da hätten sie sich auf literarischem Wege weiter
verbreitet. So wurde beispielsweise das Pantschatantra im 6. Jahrhundert bereits ins
Persische, daraus noch im 6. oder 7. Jahrhundert ins Syrische, im 8. Jahrhundert aber auch
ins Arabische übersetzt. Aus der arabischen Bearbeitung entstand dann eine neue syrische,
eine griechische, eine neupersische und eine hebräische. Die letztere wurde von Johann
von Capua Ende des 13. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzt. Daraus flossen eine ganze
Reihe von Bearbeitungen in abendländischen Sprachen, darunter auch eine deutsche von
Anton von Pforr, die 1470 unter dem Titel "Buch der Beispiele der alten Weisen"
gedruckt wurde. Ein zweiter Weg wäre über die Mongolen gegangen, zu denen die indische
Überlieferung gleichfalls früh gelangt war. Die Zeit der Mongolenherrschaft in Osteuropa
hätte die Märchen dann auch von hier aus ins Abendland verbreitet.
Auch gegen diese Auffassung erheben sich allerlei Einwände. Durch die fortschreitenden
Ausgrabungen sind aus ägyptischer und babylonischer Überlieferung Erzählungen von
deutlich märchenhaftem Charakter bekanntgeworden, die teilweise Jahrtausende älter sind
als die ältesten indischen Märchenaufzeichnungen. Sie enthalten zum Teil nicht nur
Einzelzüge, sondern ganze Formeln und Formelgruppen, die mit verbreiteten Märchenformen
in unzweifelhafter Verwandtschaft stehen. Die ägyptische Erzählung von den Brüdern
Anupu und Bitiu ist in diesem Sinne besonders lehrreich. Jene buddhistischen Züge aber,
die für Benfeys Hypothese von Gewicht waren, gehören vielfach nicht zum eigentlichen
Märchenkern, sind ihm vielmehr offenbar nachträglich zugefügt worden. Eine Vermittlung
durch die Mongolen kann deshalb nicht sehr wahrscheinlich dünken, weil die
abendländischen Fassungen öfters näher mit den indischen zusammenstimmen als mit den
mongolischen, die sie vermittelt haben sollen. Die persisch-arabische Vermittlung aber
erreicht das Abendland später, als manche Märchenformen und gar Märchenformeln dort
nachweisbar werden.
35. Man hat deshalb dieser literarischen Theorie eine anthropologische
gegenübergestellt. Englische Vertreter der Völkerkunde, wie E. B. Tylor und Andrew Lang,
haben eine "Polygenesie" der Märchenformen, selbständige und unabhängige
Entstehung an verschiedenen Orten, behauptet. Die Theorie stützt sich auf die
Beobachtung, dass es "Völkergedanken" gibt; die Grundlagen menschlichen
Glaubens, menschlicher Sitte, gewisse einfache Anschauungen über Entstehen und Vergehen
des Lebens, der Natur usw. sind notwendig überall auf der Erde die gleichen, weil der
menschliche Geist überall in gleicher Weise angelegt ist, weil die primitiven Denkformen
über die ganze Erde hin die nämlichen, weil die Erfahrungen aus Schlafen, Träumen,
Sterben, Zeugen und Geborenwerden, weil die Grundeinrichtungen gesellschaftlichen
Zusammenlebens überall die gleichen sind. Auch in den Märchen sind vielfach solche
urtümlichen Gedanken und Erfahrungen der Menschheit verkörpert; sie können darum
überall selbständig, unabhängig voneinander entstanden sein. Demgegenüber ist zu
sagen, dass gewisse einzelne Märchenzüge, so merkwürdig sie uns heute anmuten mögen,
allerdings an verschiedenen Stellen der Erde selbständig entstanden sein können. So ist
beispielsweise die Tierabstammung des Helden im Bärensohnmärchen, die oben erwähnt
wurde, einer jener "totemistischen" Gedanken (vgl. unten § 38), die über die
ganze Erde verbreitet sind. Auch Verknüpfungen solcher urtümlichen Züge, also ganze
Märchenformeln, mögen sich da und dort mit zufälliger Übereinstimmung ergeben haben.
Jene höchst verwickelten, kunstreichen Verknüpfungen aber der Einzelzüge und Formeln,
wie sie beispielsweise das Bärensohnmärchen und die meisten Märchenformen zeigen, kann
ganz unmöglich durch Zufall sich mit jener weitgehenden Übereinstimmung erzeugt haben,
wie sie in der Märchenüberlieferung tatsächlich erscheint.
36. Eine begründete Stellung zu den angeregten Fragen zu gewinnen, wird man gut tun,
das Problem der Entstehung der Märchen von dem ihrer Verbreitung zu trennen. Für die
richtige Erkenntnis der Entstehung des Märchens haben die Brüder Grimm den Weg gewiesen.
Sie haben zuerst erkannt, dass in diesen kleinen Geschichten nicht, wie man bis dahin
gemeint, willkürliche und kindische Erfindungen, lächerliche Phantasiegespinste
vorliegen. Sie zuerst haben die Märchen ernst genommen und als Geschichtsquellen
gewürdigt. Und die fortschreitende Forschung hat den Nachweis erbracht, dass die Märchen
wirklich, wie die Brüder behauptet hatten, Bruchstücke eines in die älteste Zeit
hinauflangenden Glaubens enthalten. Ihre Wurzeln reichen in der Tat in die Kindheitstage
der Menschheit zurück. In ihren Einzelzügen wird dem schärfer blickenden Auge vielfach
noch urzeitliches Glauben, Fürchten und Hoffen, Deuten und Wähnen sichtbar; die ganze
ernsthafte Weltanschauung urtümlicher Menschheit bildet in weitem Masse den erkennbaren
Hintergrund dieser anscheinend so phantastisch törichten Geschichten.
37. Als Beispiel mag das Märchen vom Rumpelstilzchen dienen, KHM 55 der Grimmschen
Sammlung. Ein König hat ein Mädchen heimgeführt, das sich vermessen hat, aus Stroh Gold
zu spinnen. Da sie eine Probe ihrer Kunst ablegen soll, müsste sie verzweifeln, käme ihr
nicht ein Dämon zu Hilfe, der das Wunder vollbringt. Aber er fordert teuren Lohn: sich
selbst oder ihr Kind soll die Königin ihm ausliefern. Nur dann solle ihr die Forderung
erlassen sein, wenn ihr gelinge, den Namen des Dämons zu erraten. Der lautet nun
wunderlich genug: Rumpelstilzchen in der Grimmschen Erzählung; in anderen
Fassungen Hoppetinken, Hahnenkikerle, Fidlefitchen, Tillefoot, Hans-Öfeli-Chächeli, in
englischen Fassungen Tom-Tit-Tot, in französischen Furti-Furton, Ropiquet,
Grignon usw. Durch einen Zufall errät die Königin den Namen, und wie sie ihn
ausspricht, muss der Dämon weichen.
Das scheint auf den ersten Blick eine Geschichte, die erfunden ist, um Kinder lachen zu
machen. Und doch ruht sie auf einem durchaus ernsthaften Grunde: auf dem weitverbreiteten
Glauben urtümlicher Menschheit, dass Name und Person in der engsten und innersten
Verbindung miteinander stünden, derart unlösbar zusammenhängend, dass Gewalt über die
Person besitzt, wer ihres Namens sich bemächtigt hat. Noch heute zeigen sich darum
australische Eingeborene wie Indianer Süd- und Nordamerikas nur ungern bereit, Fremden
ihre Namen zu nennen. Sie führen auch vielfach geheime Namen, die nur den Eingeweihten
des Stammes, nicht der Allgemeinheit, nicht den Frauen bekannt sind. Unter den alten
Ägyptern hatte jeder zwei Namen, den "grossen" oder "wahren", der
sorgfältig geheimgehalten wurde, und den "kleinen" oder "guten", der
allein öffentlich bekannt war. Bei Australiern und Indianern wird es streng vermieden,
den Namen eines Verstorbenen zu nennen, weil man sonst von seinem Geiste heimgesucht wird.
Namen von Königen und Priestern, als den kostbaren, schutzbedürftigen Führern des
Stammes, werden vielfach sorgfältig geheimgehalten. Der Name des Königs von Dahomey oder
von Siam wird nie genannt; an seine Stelle treten Titel. Ähnlich wurde der eigentliche
Name des Kaisers von China von seinen Untertanen nie ausgesprochen oder geschrieben. Im
alten Griechenland war es gesetzlich verboten, die Namen der Priester der eleusinischen
Mysterien bei ihren Lebzeiten zu nennen. Auch bei uns herrscht noch in unseren Tagen
mannigfacher Aberglaube, der auf diese Einschätzung des Namens sich gründet. Man darf
etwa einen Toten nicht dreimal bei Namen rufen, sonst erscheint er. Wenn die Leiche eines
Ertrunkenen nicht gefunden wird, so muss man ein Stück Brot ins Wasser werfen, darauf man
seinen Namen geschrieben: es wird an die Stelle schwimmen, wo der Ertrunkene liegt. Noch
sagt das Sprichwort: Wenn man den Wolf nennt, kommt er gerennt. Umgekehrt weicht der Elbe
oder verliert seine Macht, wenn man seinen Namen ausspricht - die Lohengrinsage findet
letzten Endes darin ihre Erklärung. Bei den Ägyptern war Isis dadurch zur Göttin
geworden, dass sie dem Gotte Ra seinen wahren Namen entlockte, den er in der Brust
verborgen trug; ägyptische Zauberer haben dadurch Macht über die Götter, dass sie ihrer
wahren Namen sich versichern. So verliert also auch in unserem Märchen der Dämon seine
Macht, als sein wahrer Name gefunden und ausgesprochen ist.
Dass der Name des Dämons so wunderlichen Klang hat, hängt mit der gleichfalls uralten
und weitverbreiteten Anschauung zusammen, dass Götter und Geister ihre besondere, von der
der Menschen abweichende Sprache reden. Wenn Rumpelstilzchen in Versen spricht:
Ach wie gut, dass niemand weiss,
Dass ich Rumpelstilzchen heiss!
so steht das auf demselben Grunde; vgl. das oben in § 20 über die Verse im Märchen
Bemerkte. Lässt das Märchen die Königstochter spinnen, so betreibt sie damit eines der
wichtigsten häuslichen Gewerbe alter Zeit. Dass gerade der Zwerg ihr zu wunderbarer
Spinnkunst verhilft, hat wieder guten Fug. Es hängt mit dem auch sonst bezeugten Glauben
zusammen, dass die Zwerge gute Spinner seien. Der Altweibersommer gilt als ihr Werk; die
Spinnweb heisst im Schwedischen dvergnät, "Netz des Zwerges". Alle
wesentlichen Einzelzüge dieses so phantastisch anmutenden Märchens ruhen also auf dem
ernsten Grunde alten Glaubens und alter Kultur, und was auf den ersten Blick eine
lächerliche Erfindung schien, wird in solcher Beleuchtung zu einer ernsthaften
Geschichtsquelle.
38. Was hier für eine Märchenform ausgeführt wurde, gilt in ähnlicher Weise für
grosse Teile der Märchenüberlieferung. Sehr viele Märchenzüge spiegeln urtümlichen
Glauben, urtümliches Denken, uralte Kulturzustände. Einiges davon mag hier noch erwähnt
sein. In Amerika und Australien ist bei Völkern urtümlicher Kultur der sog. Totemismus
noch weit verbreitet, d.h. der Glaube, dass der Mensch vom Tiere abstamme. Reste solcher
Vorstellungen sind aber auch in den Überlieferungen der im urtümlichen Denken
steckengebliebenen Unterschicht zahlreicher Kulturvölker noch lebendig. Aus diesem
Glauben erwachsen dem Märchen vielfach gestaltende Motive. Ganz unverhüllt zeigt den
totemistischen Gedanken der mehrfach angezogene (oben § 28, 35) Eingang des
Bärensohnmärchens, in dem der Held von einem Bären mit einer menschlichen Frau gezeugt
ist. Der Zug ist häufig dahin gemildert, dass der Held von einem Tiere, einer Bärin,
Stute, Wölfin, Hindin, Ziege usw. nur mehr gesäugt wird. Totemistische Vorstellungen
führen bei vielen Völkern zu Speisege- oder -verboten, indem gewisse Tiere geschont oder
aber umgekehrt verspeist werden, damit man mit dem Fleische sich ihre Eigenschaften
zueigne. Statt der Abstammung vom Tiere findet sich im Märchen öfter die Angabe, der
Held sei empfangen worden, nachdem die Mutter ein bestimmtes Tier, z. B. einen Fisch,
genossen hatte (vgl. oben § 5). Es gehört auch hierher, wenn der Held nach Genuss von
Schlangenfleisch die Sprache der Tiere versteht ("Die weisse Schlange" KHM 17),
nach Genuss eines Vogelherzens Gold hervorbringt oder König wird ("Die zwei
Brüder" KHM 60). Auch die zahlreichen Erzählungen von Tierverwandlungen gehören
hierher.
Wenn gerade Herz oder Kopf eines Tieres gegessen werden sollen, so gelten die eben, auch
uns noch nicht erstaunlich, als der eigentliche Sitz der gewünschten Fähigkeiten. Wird
statt dessen die Leber genannt, so stimmt das mit der uns geläufigen Verörtlichung
geistiger Fähigkeiten und Kräfte nicht mehr überein, wohl aber mit sonst bezeugter
Anschauung primitiver Völker. Urtümlicher Glaube sucht den Sitz der Lebenskraft auch im
Blute oder im Speichel, daher in der Märchenform "Flucht aus dem Riesenhause"
wohl ein Blutstropfen oder hinterlassener Speichel an Stelle der Fliehenden antwortet
("Der liebste Roland" KHM 56). Primitivem Glauben stehen auch Schatten und
Spiegelbild in geheimnisvoller Beziehung zur Person; der redende Spiegel im
Schneewittchenmärchen entspringt noch dem primitiven Staunen vor der geheimnisvollen
Macht des Spiegels, dieses Augenblicksmalers, als den manches Rätsel ihn sinnend feiert.
Das Märchen vom singenden Knochen lässt das geschwundene Leben aus dem Knochen reden;
der Knochen zugleich eine Urform der Pfeife.
Urtümlichen Völkern eignet der Glaube an begnadete Menschen, die in höhere Zustände
sich zu erheben vermögen. Er knüpft an Tatsachen krankhaften Seelenlebens oder
Erscheinungen, wie der Genuss narkotischer Mittel und sonstige Betäubungsverfahren sie
hervorzurufen pflegen. Solche "Zauberer" und "Medizinmänner" schicken
dann wohl ihre Seele in transzendente Reiche, um von dort geheime Kunde zu holen, wie der
Held im "Teufel mit den drei goldenen Haaren" KHM 29 sie aus der Hölle
heimholt. Oder sie glauben - im Opiumrausch - Tierverwandlungen zu erleben, wie das
Märchen vom Zauberlehrling ("De Gaudeif un sin Meester" KHM 68) sie erzählt.
Nicht wenige unter den Märchenzügen geben sich als eine Episierung von Traumerlebnissen
zu erkennen. Selbst dem Kulturmenschen von heute wird es nicht immer leicht zu
unterscheiden, was er geträumt, was er tatsächlich erlebt hat.
39. Es bestätigt sich also bei genauer Nachprüfung, dass zahlreiche Märchenzüge
ihren ernsten Hintergrund in Glauben und Sitte versunkener Zeiten und urtümlicher Kultur
haben - oder richtiger hatten. Denn im Märchen macht dieser Urgrund sich nirgends mehr
geltend. Hier werden auch diese Motive ohne mythischen Bezug dichterisch frei verwertet
und überall mit Zügen durchmischt, die durchaus freier Erfindung ihr Dasein danken. Will
man hier neben der Phantasie eine Macht als gestaltend in Anspruch nehmen, so wäre es die
des Wunsches: wie die Kraft, bestimmte oder gar alle Wünsche zu erfüllen, im Märchen
nicht selten an Personen oder Gegenstände geknüpft wird und so als aufbauendes Motiv
seiner Erzählung erscheint, so ist die ganze strahlende, goldene Umwelt seiner Gestalten
ein Wunschbild der Welt, das der Einbildungskraft der Armen und Niederen entsprossen
scheint. Märchen als Ganzes als Mythen in Anspruch zu nehmen und ausdeuten zu wollen, wie
es öfter versucht wurde, ist von vornherein ein völlig verfehltes Unternehmen. Wohl aber
haben wir sonst Ursache, die Fragen des Wie? Wo? Wann? der Märchenentstehung aufzuwerfen
und ernstlich zu prüfen.
40. Da gilt es zu bekennen, dass die Frage des Wie? der Märchenentstehung von der
Forschung eigentlich überhaupt noch nicht in Angriff genommen ist. Märchen sind bei
aller Kürze doch verwickelte, kunstreich aufgebaute Geschichten; es versteht sich
eigentlich von selbst, dass sie unmöglich am Anfang der Zeiten stehen können. Sie setzen
offenbar primitivere Vorformen voraus. Man wird kaum fehlgehen, wenn man sich diese von
der Art jener einfachen, kleinen, auf ein oder wenige Motive beschränkten Geschichtchen
denkt, wie sie vielfach bei Völkern urtümlicher Kultur im Umlaufe sind, wie sie
teilweise auch in den Volkssagen der Kulturvölker noch bestehen. Aus ihnen werden wohl
auch die oben besprochenen mythischen Züge entnommen sein, die in jenen auf Glauben
ruhenden und Glauben fordernden Geschichtchen ihren mythischen Sinn noch geltend machten,
während sie im Märchen dann dichterisch frei zum Aufbau von Erzählungen verwendet
wurden, die nur noch der Unterhaltung dienen. Das Einzelne harrt hier noch durchaus der
Feststellung, die innerhalb gewisser Grenzen wohl erreichbar scheint.
41. Die Frage nach dem Wo? ist von vornherein unrichtig gestellt, wenn man fragt, wo
"das Märchen", d. h. also die Gesamtheit dieser Geschichten, entstanden sei.
Die fortschreitende Forschung hat gelehrt, dass die Frage vielmehr für jede Märchenform
gesondert aufgeworfen und untersucht werden muss. Auch die so gestellte Aufgabe ist noch
schwierig genug. Ehe man sie auch nur in Angriff nehmen kann, gilt es für jeden
Märchentypus die in § 31 beschriebene Vorarbeit zu leisten, d. h. durch die
verwirrend abschattende Überlieferung der einzelnen Fassungen hindurch zur Urform
vorzudringen. Wo diese erwuchs, lässt sich am ehesten dann mit einiger Aussicht auf
Sicherheit vermuten, wenn die Erzählung Bestandteile enthält, die dem Siedlungsraume,
der Kultur, dem Glauben, der Sitte, dem Geiste eines ganz bestimmten einzigen Volkes
eigentümlich sind. Diese günstige Lage ergibt sich selten, so dass man auf andere
Methoden angewiesen bleibt. Von finnischen Forschern ausgebildet, neuerdings auch in
Skandinavien und Deutschland viel angewandt und öfters für die Methode der
Märchenforschung ausgegeben, ist das Verfahren, aus der geographischen Verbreitung einer
Märchenform und ihrer besseren oder schlechteren Fassungen ihre Heimat zu erschliessen.
Schlüsse dieser Art ruhen offenbar auf sehr unsicherem Grunde. Da man erst seit den
Brüdern Grimm Märchen reichlicher zu sammeln begonnen hat, kennen wir ihre Ausbreitung
nur für das letzte Jahrhundert und auch da äusserst unvollkommen. Neben Landschaften,
die sehr gründlich abgesucht sind, wie Finnland, Jütland, Holstein, stehen weite
Strecken, aus denen wenig oder nichts bekannt ist. Dass die gänzlich verschiedenen
Lebensverhältnisse verschiedener Länder den stärksten Einfluss auf die
Märchenüberlieferung äussern mussten, beispielsweise also die Aufzeichnung von weniger
zersagten Formen aus Litauen gegenüber zersagteren in Deutschland noch nicht beweisen
kann, dass dort, nicht hier die Heimat einer Märchenform sei, liegt auf der Hand. Es kann
sehr wohl eine Märchenform heute in einem Lande auch ganz fehlen, das sie früher
besessen hat. Immer gilt es, neben der Volksüberlieferung auch die Literatur zu
durchforschen, in der sich Märchenformen nicht selten und oft in sehr früher Zeit
spiegeln.
Immerhin wird aus dem bisher genauer untersuchten Teile unseres Märchenschatzes schon so
viel klar, dass es in der Tat eine Heimat des Märchens schlechtweg nicht gibt. Eine ganze
Reihe von Märchen sind wohl wirklich, wie Benfey das annahm, in Indien zu Hause, das bei
der Entstehung der Märchen überhaupt eine bedeutsame Rolle gespielt haben mag; hierher
gehören z. B. Märchenformen wie "De Gaudeif un sin Meester" KHM 68,
"Tischlein deck dich" KHM 36, "Die beiden Wanderer" KHM 107 und manche
andere. Sicher aber sind andere Märchenformen mehr oder weniger ferne von Indien
erwachsen.
42. Die Frage des Wann? der Märchenentstehung lässt sich ebensowenig mit einem Worte
beantworten wie die Frage nach dem Wo. Die Verhältnisse liegen hier noch schwieriger als
bei der Heimatfrage. Dass die einzelnen Märchenzüge mit ihrem Gehalte mehrfach in den
Dämmer ferner Urzeiten zurückreichen, bewiese, auch wenn ihr mythischer Grund in den
Märchen noch wirklich bewusst wäre, noch nicht, dass die kunstvoll daraus gebauten
Geschichten gleichen Alters sein müssten; lebt der Glaube, der diese Züge schuf, in der
in urtümlichem Denken gebundenen Schicht aller Völker doch in geschichtliche Zeiten
hinein bis in unsere Tage. Auch hier ist die Untersuchung für jede Märchenform gesondert
zu führen; gesicherte Ergebnisse sind noch schwerer erreichbar als bei der Heimatfrage.
Die Überlieferung der Märchen selbst lässt uns im Stich; sie ist oft ganz jung, ohne
dass damit über das Alter der Grundform etwas entschieden wäre. Spiegelung einer
Märchenform in einem datierbaren Literaturwerke gibt öfter wenigstens einen Zeitpunkt,
vor dem sie entstanden sein muss. Eine Wahrscheinlichkeit kann sich dort ergeben, wo ein
wesenhafter Märchenzug einer Kulturstufe von begrenzter Dauer angehört.
Manche Märchenformen sind aber gewiss auch allmählich auf- und ausgewachsen. Für das
Märchen vom "Treuen Johannes" KHM 6 z. B. ist wahrscheinlich gemacht, dass ein
in Indien entstandener Kern im mittelalterlichen Abendlande nach dem Jahre 1000 sich
erweitert hat, indem er die sog. Amicus-Ameliussage in sich aufnahm. Es kommen also hier
für die Entstehung einer Märchenform zwei Schauplätze und zwei Zeiten in Betracht und
sonach auch zwei Verfasser, so dass dies Märchen von vornherein sich als eine Art
Gemeinschaftsdichtung darstellt, zu der schliesslich jedes Märchen in der Überlieferung
wird durch das fortgesetzte Eingreifen so vieler Erzähler in seine Gestaltung. Ähnlich
erweist sich das Märchen vom "Teufel mit den drei goldenen Haaren" KHM 29 als
eine europäische Verschweissung zweier ursprünglich selbständig gewesener Märchen, die
wohl beide in Indien entstanden sind: hier stehen also wieder mindestens zwei Schauplätze
und Zeiten und drei Verfasser in Frage.
43. So hat das Märchen also - ob von Anfang an oder nachdem an einem bestimmten Orte
sein Stil gefunden war, bleibt noch festzustellen - von verschiedenen Punkten aus sich
weithin verbreitet und ist eine übernationale Erscheinung geworden. Die Wanderung ist auf
die verschiedenste Weise und auf den verschiedensten Wegen erfolgt. Das Märchen hat sich,
geschrieben, mit bestimmten Literaturwerken verbreitet, es ist vor allem aber mündlich
gewandert. Der tägliche Verkehr von Volk zu Volk trug es von Nachbar zu Nachbar. Es
wanderte aber zu allen Zeiten auch in weitere Fernen mit den Waren des Kaufmanns, mit dem
Stabe des Pilgers wie des Fahrenden, es fand wohl auch plötzliche Verbreitung über weite
Gebiete hin, indem etwa grosse Religionsbewegungen es auf ihre Schwingen nahmen, wie der
Buddhismus und der Islam, die es nach Mittel- und Ostasien und durch Nordafrika
verbreiteten; es zog mit den Kolonisten über Meer - jedem Wanderer war es gerne
getragenes Gepäck, jeder Ruhestunde willkommener Genosse.
44. So überwiegt denn in der Märchenüberlieferung aller Völker das Gemeinsame, das
Besondere, das gleichwohl nicht völlig mangelt: alle Märchen, mögen sie wo immer
entstanden sein, gewinnen doch ihre besondere Prägung. So unterscheidet auch das deutsche
Märchen sich nicht unerheblich von den Märchen aller anderen Völker. Es versteht sich
ohne weiteres, dass jedes Volk die Umwelt, in der die Märchenbehandlung sich abspielt,
mit seinen besonderen Natur- und Kulturverhältnissen in Einklang bringt. In dem
waldgesegneten Deutschland waren so beispielsweise der dichte, dunkle, einsame Wald ein
bevorzugter Schauplatz märchenhaften Geschehens, unbewusste Schlösser die bevorzugte
Wohnstätte dämonischer Wesen. Nicht minder verständlich ist, dass diese dämonischen
Wesen bei jedem Volke in Namen und Art mit den Dämonengestalten heimischen Glaubens in
Einklang gebracht werden. Wie in den indischen Märchen die Rakschasas und Vetalas, die
Widhyadaras und Apsaras, in den arabischen die Dschinns, in den russischen die Baba Jaga
und der unsterbliche Koschtschei ihr Wesen treiben, so in den deutschen die Riesen und
Zwerge, die Erd- und Wichtelmännchen usw.
IV. Die Märchenforscbung
45. Die wissenschaftliche Erforschung des Märchens setzte erst mit der Sammlung ein,
die die Brüder Grimm 1812 und 1814 als "Kinder- und Hausmärchen" in zwei
Bänden veröffentlichten. Die Art, wie hier die Märchen aufgenommen und mitgeteilt und
in wissenschaftlichen Anmerkungen, die beiden Bänden beigegeben waren, sich gewürdigt
fanden, hat nicht nur die Märchenforschung, sondern überhaupt die Volkskunde als
Wissenschaft begründet. Dass die Märchenforschung so spät dem Reigen wissenschaftlicher
Bemühungen der Neuzeit sich anschloss, hat verschiedene Gründe. Weder Humanismus noch
Renaissance noch das anschliessende Zeitalter der Aufklärung waren ihrer geistigen
Struktur nach geeignet, dem Märchen Aufmerksamkeit zu schenken. Ein aristokratisches
Bildungsideal, Kunstformen und -grundsätze aus der Fremde geholt, an der Antike
orientiert, auf gelehrtes Wissen gegründet; die Vernunft zur Alleinherrscherin im Reiche
des Geistes erhoben; der stolzeste Ruhmesteil der Zeit, die letzten Gebundenheiten des
Mittelalters gelöst, die letzten Reste unvernünftigen Aberglaubens aus allen Winkeln
geleuchtet zu haben: das waren Anschauungen und Massstäbe, vor denen das Märchen in ein
Nichts verschrumpfte oder gar lebhafte Abneigung auslösen musste. Das Märchen, das
ungeschrieben im Munde des ungelehrten, verachteten "Pöfels" lebte, ungeformt,
vernunftwidrig, wunderbar und phantastisch, ja voll des tollsten Zauberspuks: kein Wunder,
dass man diese "Ammenmärchen" verächtlich beiseite schob als künstlerischer,
geschweige denn wissenschaftlicher Beachtung durchaus unwürdig.
46. Der unaustilgbare dichterische Reiz, den diese phantasiegewaltigen
Geschichtchen ausstrahlten, konnte freilich nie ganz unwirksam bleiben. In Italien hatten
im 16. und 17. Jahrhundert Straparola und Basile ganze Reihen von Märchen
kunstreich erzählt, ohne damit eine bedeutsame Folge zu finden. In Frankreich griff
Charles Perrault 1697 in seinen Contes de ma mère loye Volksmärchen
auf und erzählte sie in verhältnismässiger Reinheit; kleine moralische und satirische
Spitzchen, die er ihnen aufsetzte, empfahlen sie dem Geschmacke der Zeit. Rasch fanden sie
Nachahmung; ein neuer Anstoss und neue Vorbilder erwuchsen aus den Erzählungen der
Tausendundeinen Nacht, die Galland 1704-1708 dem Abendlande zum ersten Male in
einer französischen Übersetzung zugänglich machte. Die daran schliessenden Contes de
fées und Contes orientaux bildeten bald eine ganze Literatur, in der das
eigentlich Märchenhafte freilich rasch in einem wüsten Zauber- und Feenspuk und frivoler
Selbstironie erstickte.
47. In Deutschland übte Wieland an solchen Geschichten seine
schlüpfrig-zierliche Erzählungskunst. Musäus' Volksmärchen übertrugen die Form dann
auf heimische Stoffe. Trat er damit bodenständiger und volksmässiger auf, so blieb doch
auch seiner Erzählungsart das spielende Witzelnde der Contes de fées, und in den
Volksmärchen der Benedikte Naubert war es nicht wesentlich anders.
48. Wirklich ernst hat erst der grosse Bringer neuer Massstäbe, hat erst Herder das
Volksmärchen genommen; in seiner Abhandlung über die Ähnlichkeit der mittleren
englischen und deutschen Dichtkunst von 1777 rief er auch zur Sammlung der
Volkssagen und -märchen auf. Die Romantik musste aus ihrer Gesamteinstellung heraus
solchen Anregungen willig folgen. So hat Ludwig Tieck 1797 in seinen
Volksmärchen von Peter Leberecht den Ruhm des Märchens laut verkündigt. Gerade seine
aller Vernunft spottende Phantastik musste der Romantik als der leidenschaftlichen
Gegnerin der Aufklärung das Märchen ebenso empfehlen, wie sie es dieser verhasst gemacht
hatte. Was in den von Romantikern verfassten Märchen ans Licht trat, waren freilich
Erzählungen, die mehr nach diesem Gesetz grundsätzlicher Phantastik gearbeitet waren,
als dass ihnen wirkliche Märchenstoffe zugrunde gelegen hätten: die künstlerische Form,
nicht der Märcheninhalt, waren hier wirksam. Auch Goethes und Novalis' Märchen
gehören in diese Reihe.
Die jüngere Romantik, Brentano vor allem, war den Märchen lebhaft geneigt.
Brentano hat sich eifrig mit dem Einsammeln deutscher Volksmärchen beschäftigt. In
seinen eigenen Märchen hat er auch wirklich vielfach echte Märchenstoffe verarbeitet.
Aber sowenig wie beim Wunderhorn dachte er daran, volkstümliche Überlieferung so
wiederzugeben, wie er sie gefunden. Ein Geistesverwandter Basiles, des obengenannten
Bearbeiters einer im 17. Jahrhundert in Neapel entstandenen Märchensammlung, die er
mehrfach benutzte, dienten ihm die Märchenstoffe wesentlich nur als das Gerüst, das dann
sein spielender Witz mit fröhlichen Ranken wild überwucherte.
49. Von der Romantik waren auch die Brüder Grimm ausgegangen und
entscheidend bestimmt. Sie aber verbanden damit Herders historischen Sinn, der ihnen in
der Schule Savignys, des Mitbegründers einer geschichtlich gerichteten
Rechtswissenschaft, eingepflanzt war. Seit 1806 hatten sie eifrig gesammelt, Brentano und
Arnim, den Brüdern nahe befreundet, spendeten Beifall und Anregung, der Maler Philipp Runge
gab durch seine Märchen vom Fischer un siner Fru und vom Machandelboom, die er in der
"Zeitung für Einsiedler", dem Organ der Heidelberger Jungromantik,
veröffentlicht hatte, das Beispiel, wie Märchen volksmässig und doch kunstvoll erzählt
werden können. So erschien denn Weihnachten 1812 der erste Band ihrer Sammlung
"Kinder- und Hausmärchen", Weihnachten 1814 der zweite. In sieben Auflagen hat
Wilhelm Grimm die Texte immer wieder überarbeitet und vervollständigt.
Die hier vereinigten Märchen waren zum kleineren Teile literarischen Quellen entnommen.
Weitaus die meisten waren aus mündlicher Überlieferung geholt, von den Brüdern und
ihren Freunden vorzüglich in Hessen und Westfalen gesammelt. Zumeist Personen der unteren
Stände, hauptsächlich Frauen - darunter die bekannte "Märchenfrau" aus dem
Dorfe Zwehrn bei Kassel -, hatten sie geliefert. Und ängstlich hatten die Brüder sich
bemüht, das Vernommene auch wirklich "rein und treu" - so lautet das immer
wiederholte Stichwort - wiederzugeben, wie es ihnen zugekommen war. Freilich gilt das nur
für den Inhalt der Märchen und auch da mit einer gewissen Einschränkung. Ganz Wilhelm
Grimms Eigentum ist die sprachliche Formung. Sie stellt ein in der Wirklichkeit in solcher
Vollendung nicht vorkommendes Ideal volkstümlicher Erzählung dar, das Runges Vorbild und
eigene Beobachtung und künstlerische Kraft für Wilhelm Grimm erreichbar gemacht hatte.
50. Was die Zeit dem Vorbilde der Brüder zunächst entnahm, war Anregung und Lust,
ihre Sammeltätigkeit fortzusetzen. In Deutschland und bald in aller Welt erschienen dann
eine lange Reihe mehr oder weniger glücklich angelegter Märchensammlungen, die zunächst
einmal die Kenntnis des Stoff es unendlich vermehrten. Es galt nun vor allem, diese immer
reicher werdende Überlieferung zu sichten, in sich zu vergleichen, das Zusammengehörige
zusammenzustellen; hier haben neben dem schon genannten Benfey Reinhold Köhler,
Emanuel Cosquin, Georg Polivka und vor allem, mit schrankenloser
Kenntnis des Vorhandenen, Johannes Bolte Ausserordentliches geleistet. Welch grosse
Bedeutung das Märchen auch für die geschriebene Literatur aller Zeiten und Völker
besitzt, mit der es immer in lebhafter Wechselwirkung gestanden hat, trat dabei immer
klarer hervor. Man hat sich allmählich bemüht, feste Methoden der Märchenforschung
herauszubilden und das Wesen der ganzen Erscheinung theoretisch und geschichtlich klarer
zu erkennen; der Arbeiten in- und ausländischer Forscher wie des Finnen Anti Aarne, des
Schweden Carl von Sydow, des Dänen Axel Olrik, des Deutschen
Friedrich von der Leyen mag dabei ausdrücklich gedacht werden. Heute ist eine
ganze Schar jüngerer Forscher um die Aufhellung aller hier berührten Probleme bemüht,
und wir geben uns gerne der Hoffnung hin, dass Wesen und Geschichte des Märchens in einem
Jahrzehnt schon wieder in vielen Punkten bestimmter und klarer sich wird schildern lassen,
als es in diesem, auch sonst ja nur auf die Grundlinien bedachten Abrisse geschehen
konnte.
Friedrich Panzer. Märchen. In: Deutsche Volkskunde. Leipzig
1926. (leicht gekürzt und sprachlich angepasst)
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