Der tausendfleckige, starke Wila
Ein junger König hatte eine wunderschöne Königstochter zur Frau; aber er hatte auch
eine boshafte und falsche Mutter, die wurmte es, dass jene so überaus schön war; sie
stellte sich aber immer freundlich gegen sie.
Nun trug es sich zu, dass der junge König in den Krieg zog und seiner Mutter die Sorge
für die junge Königin übertrug, denn die war schwanger. Da liess die Alte eines Tages
eine grosse Jagd anstellen und befahl dem Jäger, eine Flasche mit Blutstropfen von
tausenderlei Tieren zu füllen. Als sie das Blut hatte, lud sie die junge Frau zum
Abendmahle ein, schenkte sich ein Glas dunkeln Wein und der jungen Frau Blut ein. Dann
sprach sie: "Stossen wir an und leeren das Glas auf das Wohl des Königs, der jetzt
im Kriege ist!" Sie trank den Wein, die junge Königin das Blut; aber diese merkte
gleich, dass es Blut war, was sie getrunken hatte. Als nun die junge Frau nach einigen
Tagen eines Söhnleins genas, so hatte das tausenderlei Blutflecken am Leib und Gesicht,
also dass man sich mit Entsetzen von ihm abwenden musste. Aber die alte Königin hielt die
Sache des Jägers wegen geheim, denn der hätte sie verraten können, und schrieb allein
ihrem Sohn so und so, wie untreu ihm seine Gattin gewesen, und der befahl zurück, wie
wehe es ihm auch tat, das Gericht solle über sie erkennen. Alsbald wurden sieben Könige
zusammenberufen, und die meisten stimmten dafür, man solle sie hinrichten; nur der
Älteste schlug vor: man solle sie dahin und dahin in den tiefen Abgrund führen, den
verschliessen, da werde sie wohl umkommen und niemand werde sie weiter sehen. Das wurde
auch angenommen, und die junge Königin wurde mit ihrem Kinde bald hinausgeschleppt in den
Abgrund, und vor die kleine Öffnung wurde ein mächtiges Felsstück gewälzt.
Da lebte sie und nährte sich und ihr Kind kümmerlich von Kräutern und Wurzeln viele
Jahre lang, und der Knabe, seine Mutter nannte ihn Wila, ward gross und stark. Eines Tages
sagte er: "Mutter, ich möchte doch sehen, wohin die Bergspalte führt!" -
"Ach, mein Kind, du bist nicht stark genug, um den Stein fortzuwälzen!" Er aber
ging hin und versuchte; doch regte und rührte sich der Fels nicht von der Stelle. Nun
versuchte er jeden Tag, und nach einem Jahr fing der Stein an sich zu rühren, nach dem
zweiten Jahre schon mehr, und als das dritte zu Ende ging, hatte er's so weit gebracht,
dass er den Stein leicht auf die Seite schob. "Jetzt bin ich stark genug, Mutter; ich
will dienen gehen!" - "So gehe denn in Gottes Namen und vergiss meiner nicht;
ich bleibe hier; wälze den Stein wieder vor, dass keine Menschenseele mich Unglückliche
hier treffen kann!" Also nahm der Knabe Abschied von seiner Mutter, wälzte den Stein
wieder vor und wanderte fort, um einen Dienst zu suchen. Er war aber so stark geworden, dass
er die grösste Tanne im Walde ausriss und auf die Spitze stampfte, dass das Gezweig
zerbrach und abfiel; den Stumpf behielt er als Stab in der Hand. Wenn er ausatmete, blies
er alles fort, und wenn er Atem holte, zog er alles an; wenn er einmal laut schrie, so
zersplitterten Steine und Bäume, auf die der Schall fuhr.
Da traf es sich, dass ein König die Strasse kam, der wollte eben zu seiner Braut fahren
und Hochzeit halten. Der starke Wila stellte sich in den Weg und rief: "Haltet ein
wenig! wünschet Ihr keinen Knecht!" Da sah der König aus dem Wagen heraus, und wie
er den starken Wila mit den tausenderlei Blutflecken im Gesichte erblickte, so entsetzte
er sich. "Nein, nein!" rief der König und befahl weiterzufahren; aber der
starke Wila zog den Atem an, und der Wagen konnte nicht von der Stelle. "So nehmet
mich doch, ich werde Euch treue Dienste leisten! Warum zaudert Ihr!" - "Ich
fürchte mich vor dir", sprach der König, "und meine Leute würden alle
davonlaufen, wenn sie dich nur sähen l" - "Haltet mich am Tage verborgen und
lasset mich nur in dunkler Nacht arbeiten!" Der König sah, dass er nicht frei werden
konnte. "So ist es mir recht!" sprach er; "allein du musst hier warten, bis
ich von der Hochzeit heimkehre!" - "Aber ich möchte gerne auch bei der Hochzeit
sein steckt mich in den Keller, dass niemand mich sieht." - "Lege dich denn
zurück in meinen Wagen, ich will dich verbergen." Der König gelangte endlich in das
Schloss seiner Braut und versteckte den starken Wila gleich in den Keller, gab ihm Essen
und Trinken die Fülle und verschloss dann die Türe; aber der König hatte an dem ganzen
Fest keine rechte Freude, sondern sass still und traurig neben seiner fröhlichen Braut,
und der Vater und die Mutter derselben und die Hochzeitsgäste verwunderten sich sehr
darüber, und es war ihnen nicht recht.
Da trug es sich zu, dass die Braut, als sie mit dem Bräutigam in ihr Zimmer ging,
plötzlich zusammensank und tot war. Der Verdacht fiel auf den Bräutigam, er habe sie
vergiftet oder ihr ein geheimes Leid getan; er wurde gleich festgenommen, und am folgenden
Morgen sprach man über ihn das Urteil: er solle in einem einsam stehenden Turm vermauert
werden. Alsbald wurde das Urteil auch vollzogen. Wila aber hatte im Keller alles gehört,
und als es wieder Abend und alles ruhig war, so atmete er einmal gegen die Tür und sie
fiel gleich hinaus, dann blies er die Schlossmauer durch und ging hinaus zu dem Turme,
rief dem König, dass die Mauer durch den Ruf gleich einen Riss bekam, und sprach:
"Wenn Ihr mir etwas versprecht, so will ich Euch retten!" - "Und was ist
das?" fragte der König. "Ihr sollt meine Mutter zur Frau nehmen!" -
"Ist sie auch so hässlich, wie du bist?" - "Noch tausendmal hässlicher!"
sprach Wila. "So will ich lieber hier bleiben und sterben!" sagte der König.
Wila ging fort und kam nach einiger Zeit wieder und fragte: "Wie denkt Ihr noch, Herr
König?" - "Lieber sterben!" sprach er wieder. Aber bald kam ihn die Lust
zum Leben an, dass er seinen Sinn änderte und, als Wila zum drittenmal fragte: "Wie
denkt Ihr noch, Herr König?" "Ich will sie nehmen! doch möcht' ich erst nach
Hause und die Hochzeitsfeier anordnen!" - "Das kann geschehen!" sprach
Wila, "ich gehe mit Euch", und nun tat er seinen Mund auf und stiess einen so
mächtigen Schrei aus gegen den Turm, dass der sogleich barst und auseinander fiel. Der
König kam gerettet heraus und zog mit Wila nach Hause. Da liefen alle Leute des Königs
vom Hofe fort, als sie den tausendfleckigen Diener ihres Herrn sahen.
Der König erzählte, was ihm alles begegnet sei, wie ihn Wila gerettet und wie er ihm
dafür versprochen habe, seine Mutter zum Weib zu nehmen, obgleich sie noch tausendmal hässlicher
sei als jener. Da entsetzten sich die Seinigen, vor allem seine Mutter, denn sie ahnte
nichts Gutes. Sie suchten den König zu überreden, er solle Wila insgeheim umbringen
lassen, so werde er seines Versprechens ledig. Aber der König sprach zornig: "Was
ich versprochen habe, ist versprochen, und das will ich halten; es sei ferne von mir, dass
ich so grosse Untreue üben sollte!" und liess nun Anstalten machen und das Fest
bereiten; dann zog er mit Wila fort, um seine Braut zu holen. Wie sie nun durch den Wald
an die Höhle kamen, schob Wila das Felsstück fort. Der König aber zitterte im voraus
vor der entsetzlichen Gestalt, die er bald sehen werde; er hielt beide Hände vors
Gesicht; um nicht auf einmal die volle Hässlichkeit zu sehen, blickte er nur durch die
Finger; aber was sah er nur einmal? Die schönste Frau auf Gottes Erdboden sass da in
tiefer Trauer. Er nahm die Hände vom Gesicht: "Ist es möglich! Weib, mein liebes
Weib!" und sank in ihren Schoss. Nachdem sie sich beide vom Wiedersehen erholt
hatten, sagte die Frau:
"Siehe, das ist dein Sohn!" und erzählte nun dem König die ganze Geschichte,
wie es gekommen, dass er tausenderlei Blutflecken am Leib und im Gesicht habe und wie an
allem die Mutter des Königs schuld sei. "Sie soll die wohlverdiente Strafe
empfangen!" rief der König ausser sich vor Zorn, "wohlan! ziehen wir nach
Hause."
Als sie nun daheim anlangten, da hielten viele die Hände vors Gesicht, andere hatten sich
versteckt, um die hässliche Braut nicht zu sehen; nur die alte Königin sah durch die
Finger, und wie sie die schöne Frau erblickte, so erkannte sie dieselbe gleich.
"Huhu!" rief sie voll Entsetzen und schlug gleich die Augen zu und sank zu
Boden. Die Leute glaubten, die Alte habe sich vor der Hässlichkeit der Königsbraut so
entsetzt, taten die Augen auf, um ihr beizustehen; da erblickten sie die grosse Schönheit
ihrer neuen Herrin und freuten sich sehr.
Der König aber liess seine Mutter ergreifen, und das Gericht erkannte über sie, man
solle sie in einen Turm vermauern, und das Urteil wurde auch gleich vollzogen, und sie musste
dort den Hungertod sterben.
Nun aber liess der König seine Weisen zusammenkommen und fragte sie, ob es keine Mittel
gebe, die Blutflecken vom Leibe des starken Wila zu tilgen. "Das ist wohl
möglich", sprachen sie, "wenn alle Tiere, von denen das Blut herrührt, die
Blutmale ablecken!" Da musste der Jäger, der die Tropfen ohne zu wissen wozu, der
alten Königin herbeigeschafft hatte, die tausenderlei Tiere fangen, und als diese den
starken Wila geleckt hatten, war er nicht nur der stärkste, sondern auch der schönste
Königssohn, und sein Name wurde berühmt in allen Landen.
Josef Haltrich: Sächsische Volksmärchen aus Siebenbürgen. Wien 1882 u.ö.,
Nr. 20 (AT 708, Deutschland)
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