Der goldene Baum
  
  In einem grossen Wald lebte ein alter Eremit. Eines Tages kam zu ihm ein mageres und halb
  verhungertes Hündchen gelaufen, die Augen voller Furcht. "Komm, du arme kleine
  Kreatur!" sagte der Eremit, denn er hatte Mitleid mit dem Tier. "Die wilden
  Tiere des Waldes werden dich sicher töten. Bleibe bei mir! Da tut dir niemand etwas
  zuleide." Der Eremit gab dem Hündchen ein Plätzchen, und sie teilten sich die
  Früchte und Beeren, von denen sie lebten.
  Eines Tages sass der Einsiedler lange, lange Zeit da und schaute auf das Hündchen.
  Schliesslich sagte er: "Ich werde immer älter und bin nicht länger imstande,
  Früchte und Beeren für meine täglichen Mahlzeiten zu sammeln. Ich brauche jemanden, der
  in meinen alten Tagen nach mir schaut. Deshalb werde ich beten, dass du menschliche
  Gestalt annehmen mögst." Der alte Eremit schloss die Augen und begann zu beten. Er
  betete lange. Als er die Augen wieder öffnete, stand vor ihm ein schönes Mädchen. Der
  Eremit war sehr glücklich über die Erfüllung seines Wunsches. Er behandelte das
  Mädchen, als wäre es seine Tochter. Auch das Mädchen war sehr glücklich. Sie kümmerte
  sich um den Eremiten, so gut sie konnte. Der Eremit lebte zufrieden, nur eines beunruhigte
  ihn. Das Mädchen war sehr gut, aber sie hatte einen Fehler. Wie alle Hunde fand sie
  grossen Gefallen, in Leder zu beissen. Der Eremit wusste das, und jede Nacht, ehe er
  schlafen ging, versteckte er seine Sandalen. Jede Nacht hörte er aber das Mädchen weinen
  und schluchzen und dem Geruch des Leders nachgehen, um etwas zum Kauen zu finden. Erst mit
  der Zeit gab das Mädchen diese Angewohnheit auf.
  
  Als etliche Wochen vergangen waren, wurde eines schönen Morgens der Frieden des Waldes
  durch den Klang von Hörnern und das Tuten von Blasmuscheln gestört. Der König
  veranstaltete eine Jagd. Er war gerade einem Reh auf der Spur und kam dabei zu der Hütte
  des Eremiten. Dort sah er das hübsche Mädchen und hielt auf der Stelle sein Pferd an.
  Noch niemals hatte er ein schöneres Mädchen gesehen, und sie gefiel ihm gleich. "O
  frommer Mann", sagte der König zum Eremiten, "wenn dieses schöne Mädchen
  deine Tochter ist, dann gib deinen Segen und erlaube mir, sie zu meiner einzigen Königin
  zu machen!" "Sie ist nicht von hoher Geburt, um eine passende Königin für Euch
  zu sein", entgegnete der Eremit. "Ich bitte Euch, zieht weiter und lasst meine
  Tochter hier!" "Was kümmert es mich, ob sie von edler Geburt ist oder
  nicht!" sagte der König. "Sie wurde geboren, um an meiner Seite zu regieren.
  Ich möchte sie zur Königin haben, oder ich brauche überhaupt keine Königin." Der
  Eremit erkannte den Ernst, mit dem der König sein Heiratsangebot vorbrachte. Deshalb nahm
  er ihn zur Seite und sagte zu ihm: "Ich stimme einer Ehe mit meiner Tochter zu. Aber
  versprecht mir, dass ihr sie nie und nimmer unglücklich macht! Sie hat eine grosse
  Schwäche, und diese Schwäche wird nur zutagetreten, wenn sie unglücklich ist." Der
  König versprach es, und der Eremit erlaubte ihm, das Mädchen mit sich zu nehmen und zu
  heiraten. Der König war zufrieden, und er machte seine Königin so glücklich, wie er nur
  konnte. Und weil die Königin glücklich war, dachte sie nie daran, ihre Zähne Leder
  kauen zu lassen.
  Jahre gingen ins Land. Die Königin war stolze Mutter von sechs hübschen Töchtern. Als
  die Mädchen eines nach dem anderen heranwuchsen, heirateten die fünf älteren hübsche
  und mächtige Prinzen. Lediglich die jüngste Prinzessin verliebte sich in einen
  Holzfäller, der dem Koch des Königs täglich Feuerholz brachte. Als der König das
  erfuhr, wurde er sehr zornig, und er befahl der Prinzessin, nie mehr den jungen
  Holzfäller zu sehen. Am nächsten Morgen, als der Holzfäller wieder seine Ladung Holz
  brachte, lief die Prinzessin mit ihm davon, um als seine Frau in seiner ärmlichen Hütte
  zu leben. Der König erboste sich, als er entdeckte, dass seine jüngste Tochter seine
  Wünsche missachtet und den Holzfäller geheiratet hatte. Er nahm sein Schwert und
  stürmte voll Zorn in das Gemach der Königin. "Die jüngste Prinzessin hat mir
  Schande gemacht!" schrie er. "Am liebsten möchte ich sie mit meinen eigenen
  Händen umbringen, aber dir zuliebe muss ich mich im Zaume halten. Von heute an ist sie
  meine Tochter nicht mehr. Ich wünsche ihr Gesicht niemals mehr zu sehen, und ich verbiete
  auch dir, sie je zu treffen!"
  Die Königin liebte ihre jüngste Tochter sehr und war in grosser Verzweiflung. Den ganzen
  Tag über weinte und schluchzte sie. Des Nachts konnte sie kaum schlafen. Spät in der
  Nacht stieg sie, ohne zu wissen, was sie tat, aus ihrem Bett, nahm einen Pantoffel des
  Königs und begann zu beissen und zu kauen. Plötzlich wurde sie gewahr, was sie tat. Sie
  nahm den angekauten Pantoffel, lief zu ihrem Bett zurück und verbarg ihn unter dem
  Bettuch. Am nächsten Morgen vermisste der König zu seinem grossen Erstaunen einen
  Pantoffel. Er suchte allerorts. Vergeblich! "Das ist ja seltsam", sagte er.
  "Der Pantoffel war mit Rubinen und Brillanten besetzt. Wenn ihn ein Dieb genommen
  hat, warum dann bloss einen und nicht beide?" Der König konnte sich das alles nicht
  erklären. Er nahm ein anderes Paar Pantoffeln, die waren noch teurer als die vorigen, zog
  sie an und ging seinen Geschäften nach. Spät in der Nacht kaute die Königin wieder an
  einem der Pantoffeln. Erst als ihr bewusst wurde, was sie tat, lief sie zurück zu ihrem
  Bett und verbarg ihn unter dem Bettuch. "Heute Nacht werde ich der Sache auf den
  Grund gehen", schwor sich der König. "Ob es ein Dieb ist oder ein Geist, ich
  werde ihn fangen." Mit einem neuen Paar Pantoffeln ging er am nächsten Tag seinen
  Staatsgeschäften nach. Als es Zeit zum Schlafengehen war, legte er seine Pantoffeln ab
  und stellte sie neben das Bett. Aber er legte sich nicht schlafen, sondern nahm sein
  Schwert und verbarg sich hinter einer Säule. Es war schon spät - der König wollte es
  gerade aufgeben -, da sah er die Königin sein Gemach betreten. Sie ging zum Bett, setzte
  sich dort auf den Fussboden, nahm einen der Pantoffeln und begann gierig daran zu kauen.
  Der König konnte kaum glauben, was seine Augen sahen. Er kam hinter seiner Säule hervor.
  Seine Augen waren gerötet vor Zorn. Er verlangte von der Königin eine Erklärung. Da war
  die arme Königin gezwungen, ihm die Wahrheit zu sagen. Sie erzählte ihm, wie sie der
  gute Eremit von einem Hündchen in ein Mädchen verwandelt hatte. Beschämt, dass er eine
  Hündin geheiratet hatte, trieb der König seine Frau aus dem Palast. Weinend und
  schluchzend ging sie zurück zum Eremiten und bat ihn, ihr die einstige Gestalt
  wiederzugeben, da sie nicht den Wunsch habe, als menschliches Wesen weiterzuleben. Der
  alte Eremit betete wieder, und seine Gebete wurden erhört. Die Königin verwandelte sich
  wieder in eine Hündin.
  
  Viele Tage vergingen. Da begann die Hündin ihre sechs Töchter zu vermissen. Sie bat den
  Eremiten um Erlaubnis und machte sich auf den Weg. Sie ging zur Wohnung ihrer ältesten
  Tochter, stellte sich draussen vor die Tür und rief nach ihrer Tochter: "Öffne die
  Tür und lass mich ein! Ich bin deine Mutter und komme, dich zu besuchen." Die
  Prinzessin öffnete. Doch als sie eine Hündin draussen stehen sah, wurde sie zornig. Sie
  warf einen Stein nach ihr und trieb sie davon. Das gleiche geschah bei den anderen
  Töchtern. Nachdem sie von allen fünf Töchtern mit Steinen beworfen worden war, ging die
  Mutter zuletzt zur jüngsten Tochter, die mit dem Holzfäller verheiratet war. Hier wurde
  sie mit Freundlichkeit und Liebe empfangen. Die jüngste Tochter wusch und säuberte ihre
  Wunden und fütterte sie mit warmer Milch und Reis. "Hab Dank, liebe Tochter!"
  seufzte die Mutter. "Die Wunden an meinem Körper sind tief. Tiefer jedoch sind die
  Wunden der Undankbarkeit, die deine Schwestern in mein Herz geschlagen haben. Ich weiss,
  dass ich sterben werde, bevor die Sonne untergeht. Wenn ich tot bin, begrabe mich vor
  deiner Hütte!" So geschah es auch. Bei Sonnenuntergang starb die Mutter. Die
  jüngste Tochter liebte ihre Mutter sehr, obwohl sie sich in eine Hündin verwandelt
  hatte. Sie weinte lange. Dann begrub sie den toten Körper vor ihrer bescheidenen Hütte.
  Am nächsten Morgen, als die Tochter aufstand, war sie überrascht, einen grossen goldenen
  Baum an dem Platz zu sehen, wo sie ihre Mutter begraben hatte. Alle Zweige waren von
  reinem Gold und glänzten hell. Jeder Zweig war voll seltsamer Früchte aus reinem
  schwerem Gold.
  
  Es dauerte nicht lange, da hörten die bösen Schwestern von dem goldenen Baum. Als sie
  erfuhren, dass er auf dem Grab ihrer Mutter wachse, wollten sie ihren Anteil an dem Gold.
  Sie liefen zu ihrem Vater, dem König, und sagten: "Der goldene Baum ist ein Geschenk
  unserer Mutter. Wie haben mehr Recht daran, als unsere böse jüngste Schwester. Die
  Mutter hat mit uns viele glückliche Tage verlebt. Gegen unsere Warnung besuchte sie
  unsere jüngste Schwester. Dort starb sie, kaum hatte sie den Fuss in ihre Hütte gesetzt.
  Wir fordern für unsere jüngste Schwester Bestrafung, weil sie unsere Mutter getötet
  hat, und für uns die Früchte des goldenen Baumes!" Als der König das hörte,
  begann er zu überlegen. Je länger er nachdachte, desto trauriger war er darüber, dass
  er die Königin aus dem Palast vertrieben hatte. "Mag sie auch einst eine Hündin
  gewesen sein, als Königin war sie eine wunderbare und liebenswerte Frau." Voller
  Ärger und Hass gegen seine jüngste Tochter erhob sich der König und ging mit den
  anderen Töchtern zu dem Goldbaum und erklärte: "Pflückt alle Früchte und
  Blätter! Sie stehen euch rechtmässig zu." Mit gierigem und bösem Lächeln rannten
  die fünf Schwestern auf den Baum los, langten nach den Früchten und zogen und zerrten,
  bis sie ganz rot im Gesicht wurden. Die Blätter und Früchte aber liessen sich nicht
  lösen. Der König stand dabei und schaute zu. Plötzlich wurde ihm alles klar.
  "Wartet!" rief er. "Lasst die jüngste versuchen, eine Frucht von diesem
  goldenen Baum zu pflücken!"
  Die jüngste Tochter aber wollte keine Frucht pflücken. Da geschah mit einem Mal das
  Wunder. All die goldenen Früchte fielen von selbst herab und ihr vor die Füsse. Der
  König schloss mit Tränen in den Augen seine jüngste Tochter in die Arme. "Vergib
  mir, mein liebes Kind!" sagte er. "Ich war einst sehr böse auf dich, weil du
  einen armen Mann geheiratet hast. Heute weiss ich, dass arme Leute nicht solche mit leeren
  Taschen, sondern solche mit leerem Herzen sind. Auch mein Herz war leer, und ich stehe vor
  dir als Bittender. Ich bitte dich und deinen Mann, mich wieder reich zu machen. Übernehmt
  den Thron und lasst mich in eurer Hütte in der Nähe des Grabes meiner Königin
  leben!" So geschah es, dass der Holzfäller und die jüngste Prinzessin König und
  Königin wurden.
   
  Kurt Derungs: Amalia oder Der Vogel der Wahrheit. Mythen und Märchen aus
  Rätien im Kulturvergleich. Chur 1994. (AT 707, Burma)
  
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