Der Vogel, der die Wahrheit sagt
   
  Eines Morgens hat ein Müller auf dem Mühlrad eine grosse und schwere Kiste gefunden.
  Er hat diese Kiste schnell genommen und geöffnet und hat darin drei Kinder gefunden, wie
  Wein und Milch, mit einem goldenen Stern auf der Stirn, zwei Knaben und ein Mädchen. Ganz
  verwundert hat unser Müller die Kleinen seiner Frau gebracht, und weil sie keine Kinder
  hatten, haben sie diese wie eigene Kinder aufgezogen. Als die Kinder erwachsen gewesen
  sind, ist der Müller mit der Wahrheit herausgerückt und hat gesagt, sie seien nicht
  seine Kinder und er wisse nicht, woher sie kämen. Und nun drangen die Jungen immer wieder
  in den Müller, er solle sagen, wer ihnen wohl eröffnen könnte, woher sie kämen. Nach
  langem Bitten sagt der Müller: "Das weiss der Vogel, der die Wahrheit sagt und
  irgendwo auf einem Schloss ist!" Nun war der jüngste der Knaben nicht mehr zu Hause
  zu halten. Am andern Tag ist er auf das schwarze Pferd des Müllers gestiegen, um den
  Vogel zu suchen, der die Wahrheit sagt. Es sind indessen viele Tage verstrichen, und der
  Junge kehrte nicht zurück. Im andern Frühling ist der ältere Bruder gegangen, um den
  Vogel, der die Wahrheit sagt, und den Bruder zu suchen. Auch er ist nicht zurückgekehrt.
  Da mochte die Schwester, die Amalia hiess, nicht mehr in der Mühle bleiben. Sie hat das
  weisse Pferd des Müllers genommen und ist in die Welt hinaus, um den Vogel, der die
  Wahrheit sagt, und die beiden verlorenen Brüder zu suchen. Der Müller und die Müllerin
  haben geweint, so dass sie ganz rote Augen hatten, als Amalia wegging, denn sie war schön
  und gut, wie ein Engel. Mutig ist das Mädchen durch einen weiten, dunklen Wald geritten,
  bis es ein altes Mütterchen getroffen hat, und das sagt zu ihm: "Ich weiss schon, du
  willst den Vogel, der die Wahrheit sagt, und die beiden Brüder suchen. Wenn du alles
  bekommen willst, dann schau bloss nie hinter dich, möge geschehen was auch immer!"
  Dankend hat das Mädchen versprochen, den guten Rat nicht zu vergessen, und ist
  weitergeritten. Neben einem dunklen und tiefen See hat sie einen hohen und steilen Berg
  entdeckt, auf dessen Spitze ein grosses, schönes Schloss stand. So schnell sie konnte,
  ist sie vom Pferd gesprungen, hat einen Stab genommen und hat begonnen, den Berg
  hinaufzusteigen. Immerzu hörte sie hinter sich rufen: "Amalia! Amalia!" Und es
  machte einen grossen Lärm. Amalia aber schaute nie zurück und schritt frisch voran.
  Schliesslich ist sie zu einem schönen Schloss aus grünem Marmor gekommen, mit hohen
  Türmen und goldenen Dächern. Vor dem Tor aber war ein schrecklicher Waldmensch mit einer
  Tanne in der Hand; der bewachte den Eingang und liess niemanden eintreten. Amalia aber
  ist, flink wie ein Wiesel, dem Waldmenschen zwischen den Beinen durchgeschlüpft und ins
  Schloss gekommen. Da waren überall Zimmer mit Gold, Silber und Edelsteinen. Im schönsten
  Zimmer war eine Menge Käfige mit allerlei Vögeln, roten , weissen, gelben, grünen,
  schwarzbraunen, kurz, von allen Farben. Als das Mädchen in jenes Zimmer gekommen ist,
  rief jeder: "Ich bin der Vogel, der die Wahrheit sagt, nimm mich!" Nur in einer
  Ecke sass ein kleines Vöglein, das nichts sagte. Dieses hat Amalia genommen. Der graue
  Vogel hat sich sehr gefreut und gesagt: "Ich durfte nicht sagen, dass ich der Vogel
  bin, der die Wahrheit sagt, aber du hast dennoch den richtigen gefunden! Du musst in jenen
  Rosengarten gehen und jene Rute nehmen neben der klaren Quelle inmitten des Gartens. Mit
  dieser Rute berührst du alle Steine, die wir sehen, wenn wir den Berg
  hinuntersteigen!" Das Mädchen hat die Rute aus dem Garten genommen und hat sich mit
  dem Vogel auf den Weg den Berg hinunter gemacht. Jeder Stein, den sie mit der Rute
  berührte, verwandelte sich in einen Ritter oder in eine Jungfrau. Die beiden Brüder
  Amalias sind ebenfalls aus zwei Steinen hervorgekommen und haben mit Tränen auf den
  Wangen die gute Schwester umarmt. Der Vogel aber hat gesungen, sie seien Königskinder,
  und ihr Oheim habe, während der Vater im Krieg war, sie in eine Kiste gelegt und vom
  Wasser forttragen lassen. Und dem König habe er gesagt, die Königin habe kleine
  Kätzchen geboren. Voller Wut auf den bösen Onkel sind die Brüder in Begleitung vieler
  Ritter und Jungfrauen in die Stadt des Königs gezogen, und dort hat der Vogel dem König
  die Geschichte der Kinder erzählt. Närrisch vor Freude hat dieser seine Kinder umarmt
  und hat die Mutter aus dem Gefängnis zum Festmahl kommen lassen. Der Schurke von einem
  Onkel aber wurde von vier Pferden in vier Stücke gerissen. Amalia ist eine feine und
  zarte Königin geworden, ihre Brüder mutige und gute Könige. Das ist die Geschichte vom
  "Vogel, der die Wahrheit sagt"!
   
  Kurt Derungs: Amalia oder Der Vogel der Wahrheit. Mythen und Märchen aus
  Rätien im Kulturvergleich. Chur 1994. (AT 707, Schweiz, Graubünden)
  
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