Die beiden Mädchen und die Hexe
Eine Frau hatte zwei Töchter; die ältere war ihre eigene Tochter und war sehr hässlich,
die jüngere ihre Stieftochter und war sehr schön. Das ärgerte die böse Mutter, und sie
gab dieser immer nur zerlumpte Kleider und liess sie daheim in der Asche sitzen; ihrer
Tochter aber kaufte sie schöne Kleider und nahm sie überall mit. Zuletzt schickte sie
ihre Stieftochter ganz aus dem Hause. Du bist jetzt gross und kannst dich
ernähren!" sprach sie, gehe, wohin dich deine Augen leiten!" Da machte
sich das arme Mädchen auf und wanderte fort. Als es ein Stück Weges gegangen war, kam es
an einen Apfelbaum, der sprach zu ihr: Willst du mich nicht ein wenig von den Dornen
reinigen!" - Warum nicht!" sagte das Mädchen und machte sich gleich an
die Arbeit und reinigte den Baum. Es ging wieder ein Stück weiter; da sah es einen lahmen
Hund, der schleppte sich mühselig auf der Erde fort. Willst du mir nicht meinen Fuss
verbinden?" sprach der Hund, Warum nicht?" sagte das Mädchen und ging
gleich daran. Als es noch ein Stück weiter kam, sah es einen Backofen, in welchem das
Feuer brannte: Willst du nicht das Eisen vorschieben?" sprach der Backofen.
Warum nicht?" sagte das Mädchen und tat es sogleich. Nun kam es zuletzt an ein
Häuschen; drin wohnte eine alte Hexe. Es klopfte an und fragte, ob sie es nicht in Dienst
nehmen wolle. Die Hexe war froh, denn sie brauchte gerade ein Dienstmädchen. Sie übergab
ihm alle Schlüssel, aber in das siebente Zimmer verbot sie ihm zu gehen.
Als die Hexe fern war, besah das Mädchen sich die Gelegenheit, und die Neugierde liess
ihm keine Ruhe; es trat auch in das verbotene Zimmer, da war alles eitel Gold, und das
Mädchen wurde selbst auf einmal ganz goldig. Nun bekam es Angst; es schloss schnell die
Türe und lief fort und wollte nach Hause.
Aber über der Tür stand ein Hahn, der fing gleich an zu krähen, wie er das Mädchen
laufen sah. Die Hexe hörte den Hahn schrei gleich und kam herbei und eilte dem Mädchen
nach. Doch konnte sie den Weg schlecht sehen; denn vor ihr war finstre Nacht, vor dem
Mädchen lichter Tag. Das bewirkte ein alter Mann, der das arme Mädchen so ängstlich
laufen sah und sich seiner erbarmte. Als es an den Ofen kam, rief der ihm Mut zu und
sprach: Laufe nur fort, die garstige erreicht dich nicht!" Sowie die Hexe zum
Ofen kam und ihn fragte, ob nicht ein Mädchen da vorbeigelaufen, wollte er nichts von ihm
wissen. Der Hund rief dem Mädchen auch zu: Laufe nur fort, die garstige erreicht
dich nicht!" Die Hexe kam keuchend heran und fragte den Hund, ob nicht ein Mädchen
da vorbeigelaufen. Der Hund sagte: Nein, ich habe keines gesehen!" Ebenso
machte es der Apfelbaum: Laufe nur schnell!" sagte er zum Mädchen, die
garstige erreicht dich nicht!" und als die Hexe ihn fragte, ob nicht ein Mädchen da
vorüber gelaufen, hatte er auch nichts gesehen. Weiter hinaus hatte die Hexe keine Macht,
und sie musste mit langer Nase umkehren.
Als aber das arme Mädchen zu Hause anlangte, sang die Hausschwalbe vom Dache;
Litum, titum, tärchen,
Et sätzt e güldich Frächen .
Eangderm Fenster en lacht!"
Da eilte die Stiefmutter hinaus und sah das Goldmädchen und verwunderte sich sehr; sie
führte es hinein und tat ganz freundlich; aber die Stiefschwester wurde ganz grün vor
Neid und sprach: Ich will auch hingehen und gewiss noch schöner heimkehren als der
Aschenputtel!" Sie ging denselben Weg; als sie zum Apfelbaum kam, bat er sie auch,
sie solle ihn von den Dornen reinigen. Das fällt mir gerade ein!" sprach sie
höhnisch, dass ich mir meine Hände zersteche !" und ging weiter.
Ebenso machte sie es beim lahmen Hund. Willst du mir nicht meinen lahmen Fuss
verbinden?" bat dieser. Nu, das fehlte noch; glaubst du, ich sei eine gemeine
Magd?" rief sie trotzig und ging weiter. Als sie zum Backofen kam, loderte das Feuer
stark heraus; da rief er: Willst du nicht das Eisen vorschieben?" - Unverschämter!"
rief sie, das ist kein Geschäft für mich!" Sie ging weiter und kam bald zur
Wohnung der Hexe und nahm bei ihr Dienste.
Als die Hexe am frühen Morgen ausging, sprach sie: Nur in das siebente Zimmer wage
es nicht zu gehen, sonst wehe dir!" - Ja, ja " sagte das Mädchen; kaum
war sie jedoch fort, so trat es ohne weiters in das verbotene Zimmer und wurde auch auf
einmal ganz goldig. Alsbald ergriff es die Flucht; der Hahn über der Türe krähte
wieder, und die Hexe war bald zurück und sah, was es gab. Das Mädchen lief, wie es nur
konnte, allein es konnte schwer fortkommen; denn vor ihm war finstere Nacht, hinter ihm
lichter Tag. Das bewirkte jener alte Mann, der das garstige Mädchen auch laufen sah und
ihm eine Züchtigung bereiten wollte. Als es beim Ofen vorbeilief, versengte ihm der
Fuchs, der aus dem Ofen herausschlug, das Kleid, und als die Hexe fragte, ob nicht ein
Mädchen vorübergelaufen, rief der Ofen: Eile nur, gleich hast du's!" Als es
zu dem Hund kam, bellte der und biss es in den Fuss, dass es nur mit Not weiterkam, und
wie die Hexe fragte, ob er nicht ein Mädchen vorüberlaufen gesehen, rief er: Nur
schnell, gleich hast du's!" Endlich kam es zum Apfelbaum, der hatte alle seine Domen
in den Weg geschüttelt, darin verwickelte es sich so, dass es nicht von der Stelle
konnte, und sogleich war ihm die Hexe auf dem Genick: Warte, Diebsgesicht, mein Gold
sollst du nicht heimtragen!" und da fing sie gleich an mit ihren langen Nägeln zu
kratzen und kratzte ihm alles Gold vom Leibe, dass nicht ein Staubpünktchen mehr an ihm
blieb, und machte ihm blutige Furchen am ganzen Leib und liess es dann laufen.
Als es zu Hause ankam, sang die Hausschwalbe vom Dache:
Litum, titum, tärchen,
Et sätzt e bleädich Frächen
Eangderm Fenster en schroati"
Ihre Mutter lief schnell hinaus und erkannte sogleich ihre Tochter; sie führte sie
hinein und versteckte sie in den Keller, dass kein Mensch sie sehen sollte, und da blieb
sie ihr Leben lang. Als aber der junge König von dem schönen Goldmädchen hörte, kam er
in einer Kutsche mit vier weissen Hengsten herbeigefahren, führte das Mädchen als seine
liebe Braut in seine Burg und hielt eine glänzende Hochzeit, die acht Tage dauerte.
Josef Haltrich: Sächsische Volksmärchen aus Siebenbürgen. Wien 1882 u.ö.,
Nr. 35. (AT 480, Deutschland)
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