Das wilde Schwein
Es war einmal ein König, dem seine Gemahlin nur einen Sohn geboren hatte, doch hatte
er nicht viel Freude an ihm, denn eine böse Hexe hatte ihn in ein wildes Schwein
verwünscht. Der König und die Königin waren darüber sehr betrübt, aber da geschehene
Dinge nicht zu ändern sind, fanden sie sich endlich doch damit ab. Das wilde Schwein
liessen sie auf dem Hof und im Schlossgarten herumlaufen, wo es sich auch ganz friedlich
verhielt und keinem Menschen etwas zuleide tat.
Nicht weit von dem Schloss des Königs stand ein anderes Schloss, worin ein reicher
Herr wohnte; der hatte drei Töchter, eine schöner als die andere. Eines Tages war das
wilde Schwein weiter als gewöhnlich gelaufen und hatte die älteste Tochter gesehen, als
sie auf dem Felde Blumen pflückte. Sie hatte ihm so gut gefallen, dass es sich Hals über
Kopf in sie verliebte und sie mit aller Gewalt heiraten wollte. Der König hatte gut
reden, das ginge nicht. Da war Hopfen und Malz verloren, und das wilde Schwein wollte
davon nichts hören, sagte auch, wenn sie nicht seine Frau würde, dann würde es vor
lauter Kummer sterben.
Da schickte der König jemand zu dem Herrn des Schlosses und liess ihm alles
ausrichten. Dem Herrn gefiel der Vorschlag anfangs nur wenig, doch als er bedachte, dass
der Königssohn sonst sterben würde, willigte er ein. Aber nun war die Tochter nicht
damit einverstanden und sagte im Gegenteil, sie wolle lieber Gott weiss was tun, als so
ein abscheuliches Schwein zum Mann haben. Das half ihr aber wenig. Als sie nicht wollte,
zwang sie der König dazu, und die Hochzeit wurde mit der grössten Pracht der Welt
gefeiert.
Als es nun schon spät war, und jeder zu Bett ging, da legte sich auch die Braut
schlafen. Das wilde Schwein wollte sich neben sie legen, aber als es in das Bett sprang,
trat es ihr unglücklicherweise mit einem seiner schweren Füsse auf den Hals und ... sie
war tot.
Wie betrübt das wilde Schwein und der König und die Eltern der Braut waren, das
lässt sich mit keiner Feder beschreiben.
Ein Jahr später hatte das wilde Schwein sich wieder verlaufen und fand auf dem Feld
die zweite Tochter des reichen Herrn, und die gefiel ihm so gut, dass es sie heiraten
wollte, was es auch kosten möge. Der König machte viele Einwände, aber das war nur Öl
ins Feuer gegossen, und am Ende blieb nichts übrig, als einmal mit dem Herrn darüber zu
reden.
Der wollte aber nichts davon wissen und widersetzte sich mit allen Kräften dieser
Heirat, sagte, er habe seine Töchter nicht für Schweine erzogen und dergleichen mehr.
Der König berichtete das seinem Sohn, aber der bestand nur noch mrhr darauf als zuvor,
und somit war der König genötigt, die Eltern zur Verheiratung der Tochter zu zwingen.
Unter Tränen und Jammern wurde die Braut aus dem Schloss geholt und zur Hochzeit
geschleppt. Da ging es nun gar traurig zu. Es war, als hätte jeder der Gäste
vorausgesehen, dass es der zweiten Braut nicht besser gehen werde als der ersten. So traf
es denn auch wirklich ein, denn als der Bräutigam in das Bett springen wollte, trat er
wieder mit seinen plumpen Füssen der Braut auf den Hals und ... sie war tot.
Der Jammer, der deshalb in dem Schloss des Königs wie auch in dem andern Schloss war,
ist nicht zu beschreiben. Das wilde Schwein war ganz verzweifelt darüber und schlug den
Kopf gegen die Mauern, als ob es seines Lebens müde geworden wäre. Die Eltern der Braut
konnten sich nicht trösten. Von drei Töchtern hatten sie nur noch eine, die noch ein
zartes junges Mädchen war, und weil sie fürchteten, sie auf dieselbe Weise zu verlieren
wie die beiden andern, wollten sie ihr Hab und Gut zusammenpacken und in ein fremdes Land
ziehen.
Als der König das hörte, war er noch betrübter als vorher und noch mehr erzürnt auf
seinen Sohn. Er bat den reichen Herrn, doch in seinem Schloss wohnen zu bleiben, und
versprach ihm zugleich, das wilde Schwein sofort wegzujagen. Dies Versprechen hielt er
auch, und der arme Königssohn wurde ohne Gnade und Barmherzigkeit aus dem Schloss des
Königs verjagt und lief in den nahen Wald.
Das dritte Töchterchen des reichen Herrn war ein wunderschönes und engelgutes
Mädchen, und dadurch dachten die Eltern bald nicht mehr daran, auf welche schreckliche
Weise sie ihre beiden anderen Töchter verloren hatten.
Eines Tages waren alle Leute aus dem Schloss in den Wald spazierengegangen. Die
schönen Waldblumen gefielen dem Mädchen so gut, dass sie nicht genug pflücken konnte,
und die Vögel sangen so süss, dass sie nicht genug hören konnte und immer pflückte und
immer lauschte. Dadurch blieb sie immer mehr zurück und fand sich endlich ganz allein.
Als sie nun so dasass und die Blumen pflückte, kam plötzlich ein wildes Schwein
gelaufen, nahm sie auf den Rücken und rannte mit ihr weg. Da hatten Vater und Mutter gut
rufen und die andern Leute gut suchen, kein Mensch konnte das Mädchen wiederfinden, und
abends musste man ohne das arme Kind ins Schloss gehen.
Das wilde Schwein hatte es aber nicht aufgefressen, sondern in eine fernabgelegene,
tiefe Höhle getragen, wo noch kein Mensch sich hineingewagt hatte. Da setzte es das
Mädchen still und sanft neider und machte ihr ein Bett von weichem Moos, leif dann in den
Wald zurück und holte noch Blumen und Erdbeeren. Kurzum, es tat alles, was es dem
Mädchen nur an den Augen absehen konnte.
Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, dass das wilde Schwein kein anderer war als der
verwünschte Königssohn. Das Mädchen wurde auch immer zutraulicher und streichelte
endlich mit ihren Händen den rauhen Borstenkopf des wilden Schweins, und dies leckte ihr
dafür die Hände und war so glücklich darüber, dass ihm die Tränen aus den Augen
liefen.
"Warum weinst du denn?" fragte das Mädchen, und das wilde Schwein sagte:
"Warum sollte ich nicht weinen. Ich bin so unglücklich. Du könntest mich erlösen,
aber das wirst du nicht tun, das weiss ich."
Das tat dem Mädchen leid und sie fing selbst an zu weinen. Sie sagte: "Doch, das
will ich gern tun, wildes Schwein, aber sag mir, wie ich das machen muss."
Das Schwein antwortete: "Und wenn ich dir das sage, du tust es doch nicht! Aber
sagen will ich es dir: du musst mich zum Mann nehmen und heiraten und meine Frau
werden."
Da lachte das Mädchen und sprang auf und sagte: "Ist das alles, dann will ich
dich erlösen." Und als das wilde Schwein das hörte, da sprang es dreimal hoch vor
lauter Freude. Dann lief es weg und holte so viel weiches, grünes Moos herbei, bis es ein
Bett zusammengetragen hatte, worin sie beide bequem zusammen schlafen konnten.
Nachts hatte das Mädchen einen sonderbaren Traum. Es dünkte ihr, als sagte ihr
jemand, sie müsse morgens früh aufstehen und das grosse Fell nehmen, das sie vor dem
Bett finden würde. Dann müsse sie aus der Höhle gehen, diese mit einem Stein schliessen
und auf dem Stein das Fell zu Asche verbrennen. Das schien ihr gar wunderlich.
Als sie aber beim ersten Tagesdämmern einmal aus dem Bett schaute, sah sie da in der
Tat ein grosses Fell wie von einem wilden Schwein liegen. Da fasste das Mädchen Mut, ging
vor die Höhle und wälzte mit allen Kräften, die sie hatte, einen schweren Stein davor,
der gleich neben dem Eingang lag. Dann machte sie ein grosses Feuer an, und als das so
richtig brannte, warf sie das Fell hinein. Doch kaum fing es an zu brennen, als ein
jämerliches Schrien und Jammern aus der Höhle ertönte. Da hätte sie nun gern die
Höhle aufgemacht, aber der Stein war zu heiss geworden, und das arme Mädchen hätte sich
die Hände tüchtig daran verbrannt.
Als das Feuer aus und der Stein eben ein wenig abgekühlt war, da schob sie, so gut sie
es konnte, den Stein ein wenig zurück; doch da stand der allerschönste Königssohn, den
man sich nur vorstellen kann, vor ihr, und der fiel ihr um den Hals und rief: "Siehst
du nun, dass du mich erlöst hast? Nun bist du mein und ich bin dein, und wären deine
Schwestern so willig gewesen wie du, dann wären sie nicht tot!"
Nun ging der Königssohn mit dem Mädchen aus der Höhle in das Schloss des Königs und
erzählte diesem und der Königin alles, und dann wurden die Eltern des Mädchens von dem
andern Schloss gerufen, und denen erzählte er auch alles.
Drei Tage nachher hielt man die Hochzeit mit viel Pracht und Staat, und nie hat man
einen schöneren Bräutigam gesehen als den Königssohn, und nie eine schönere Braut als
das Mädchen. Nicht lange darauf starb der alte König, und der Königssohn kam auf den
Thron und das Mädchen wurde seine Königin, und wenn sie nocht nicht vom Thron
aufgestanden sind, dann sitzen sie noch darauf.
A. M. A. Cox-Leick und H. L. Cox: Märchen der Niederlande. Köln 1977, Nr. 3.
(AT 441, Holland)
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