Das Mädchen und die Schlange
Es war einmal ein Mädchen, das sollte in den Wald gehen und das Vieh heimholen, aber
sie fand die Herde nicht, sondern verirrte sich und kam an einen grossen Berg. Da waren
Pforten und Türen, und sie ging hinein. Ein Tisch stand gedeckt mit allerhand guten
Esswaren. Sogar ein Bett stand da, und darin lag eine grosse Schlange. Die sagte zu dem
Mädchen: "Setz dich, wenn du willst. Komm und leg dich ins Bett, wenn du willst!
Aber wenn du nicht willst so lass es bleiben!"
Aber das Mädchen tat nichts davon. Schliesslich sagte die Schlange: "Nun kommen
Leute, die wollen mit dir tanzen. Aber geh nicht mit ihnen."
Gleich darauf kamen Leute, die wollten mit dem Mädchen tanzen, doch sie wollte nichts
davon wissen; aber da fingen sie an zu essen und zu trinken. Das Mädchen ging aus dem
Berg hinaus und wieder nach Hause.
Am nächsten Tag ging sie wiederum in den Wald, um ihre Herde zu suchen, aber sie fand
nicht, was sie suchte, sondern ging wieder irr und kam an denselben Berg. Sie trat auch
dieses Mal ein und fand alles wie das erstemal, einen gedeckten Tisch und das Bett mit der
Schlange. Die sagte zu ihr wie das erstemal: "Setz dich, wenn du willst! Iss, wenn du
willst! Komm und leg dich ins Bett, wenn du willst! Aber wenn du nicht willst, so lass es
bleiben! Nun kommen noch viel mehr Leute, die mit dir tanzen wollen, aber geh nicht mit
ihnen!"
Die Schlange hatte kaum ausgeredet, da kamen viel mehr Leute, die fingen an zu tanzen,
zu essen und zu trinken, aber das Mädchen tat nirgends mit, sondern ging aus dem Berg
heraus und heim.
Am dritten Tag ging sie wiederum in den Wald, und es ging ihr genau wie an den ersten
Tagen. Die Schlange lud sie wieder zum Essen und Trinken ein, was sie mit gutem Appetit
tat, und darauf hiess sie die Schlange neben sich legen. Auch das tat das Mädchen. Da
sagte die Schlange: "Nimm mich in deinen Arm!" Sie tat so. "Küsse
mich!" sagte die Schlange. "Und wenn du Angst hast, so leg deine Schürze
dazwischen!" Das Mädchen tat so, und im Augenblick verwandelte sich die Schlange in
einen wunderschönen Jüngling und war in Wirklichkeit ein Prinz, der durch Zauberei in
diese Gestalt verhext, aber nun durch den Mut des Mädchens wieder erlöst war.
Die beiden gingen natürlich fort, und weiter hat man nichts von ihnen gehört.
Klara Stroebe: Nordische Volksmärchen. Jena 1915, Teil 1, Nr. 8. (AT 433A,
Schweden)
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