Die Schlange und das kleine Mädchen
Es war einmal ein kleines Mädchen, das sollte seinem Vater, der auf dem Felde
arbeitete, das Essen bringen. Als sie zu ihm hinauskam mit dem Essen, sagte er, sie solle
ihm seine Jacke holen, die er unter einen Baum gelegt hatte. Das Mädchen ging und wollte
sie holen. Aber wie sie hinkam, sah sie, dass eine unheimliche, grosse Schlange auf der
Jacke lag, und sie nahm einen Stock und wollte sie wegjagen; aber die Schlange blieb
liegen.
Da sagte das Mädchen zur Schlange, sie solle doch endlich weggehen, damit sie die
Jacke für den Vater mitnehmen könte.
"Ja", sagte die Schlange, "wenn du wieder zu mir zurückkommen und dich
auf meinen Rücken setzen willst, so darfst du die Jacke nehmen."
Das Mädchen sagte ja, und die Schlange kroch von der Jacke weg, und das Mädchen
brachte sie seinem Vater. Dann kam sie gleich wieder und setzte sich der Schlange auf den
Rücken, aber kaum hatte sie sich gesetzt, so kroch sie zum Wald hin und immer weiter in
den Wald hinein.
Als sie nun weit gelaufen war, sagte sie: "Kleines Mädchen, stell dich auf meinen
Rücken und schau, ob du etwas siehst?"
Das Mädchen stand auf und sagte: "Ich sehe etwas glänzen wie das helle
Silber."
"Ja, das ist das Schloss meiner Mutter", sagte die Schlange, "dann haben
wir noch einen weiten Weg."
Dann kroch die Schlange wieder weit durch den Wald, und dann sagte sie abermals:
"Kleines Mädchen, stell dich auf meinen Rücken und schau, ob du etwas siehst?"
"Ja", sagte das Mädchen, "ich sehe etwas glänzen wie pures Gold."
"Ja, das ist meines Vaters Schloss", sagte die Schlange, "dann haben wir
noch einen weiten Weg."
Nun kroch sie wieder ein langes Stück und sagte zum drittenmal: "Kleines
Mädchen, stell dich auf meinen Rücken und schau, ob du etwas siehst?"
"Ja", sagte das Mädchen, "nun sehe ich etwas, das leuchtet wie
Diamant."
"Ja, dann sind wir gleich da", sagte die Schlange.
Und sie kroch weiter, bis sie an ein schönes Schloss kam. Da legte sie sich vor die
Tür und sagte zu dem Mädchen: "Stell dich auf meinen Rücken und läute die Glocke!
Und wenn der Pförtner kommt und fragt, was du willst, so sage, dass du einen Dienst auf
dem Schloss suchst; dann wird er dich gut empfangen."
Das Mädchen tat, wie die Schlange gesagt hatte, und als der Pförtner kam und fragte,
was sie wolle, sagte sie, sie wolle einen Dienst auf dem Schloss suchen. Er fragte, was
sie arbeiten könne, und sie sagte, sie könne den Boden fegen und Wasser tragen und in
der Küche helfen. Dann solle sie nur kommen, sagte er, so jemand könnten sie gerade
brauchen. Er führte sie nun ins Schloss und zeigte ihr ihre Schlafkammer, und dann ging
sie in die Küche hinunter und half bei allen Arbeiten, und alle Leute konnten sie gut
leiden, weil sie so flink war.
Am Abend, als sie in ihr Kämerchen kam, hörte sie jemand an die Tür klopfen und
fragte, wer da sei?
"Ach, ich bin es", gab die Schlange zur Antwort, "Hier ist es so kalt,
ich friere. Darf ich hereinkommen und in deiner Kammer liegen?"
Das Mädchen hatte Mitleid mit der Schlange, dass sie draussen liegen und frieren
sollte, und sie liess sie ein. Aber kaum war sie drinnen, so wollte sie das Mädchen
küssen. Das hielt seine Schürze dazwischen, aber die Schlange erwischte sie doch, und
auf einmal verwandelte sie sich in den schönsten Prinzen, den man sich denken kann. Er
dankte ihr für seine Befreiung und erzählte, er sei ein Königssohn, und sie seien auf
seinem eigenen Schloss. Der Prinz und das Mädchen hielten nun Hochzeit mit grosser
Pracht, und dann reisten sie zu seinem Vater und dann zu seiner Mutter und dann zu den
Eltern des kleinen Mädchens, und die holten sie zu sich auf ihr Schloss, wo sie in
Frieden und Freude lebten.
Klara Stroebe: Nordische Volksmärchen. Jena 1915, Teil 1, Nr. 5. (AT 433A,
Dänemark, Bornholm)
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