Der Bärenprinz
   
  Ein Kaufmann wollte einmal auf den Markt gehen; da fragte er seine drei Töchter, was
  er ihnen nach Hause bringen sollte.
  Die älteste sagte: "Ich möchte Perlen und Edelsteine."
  "Mir," sagte die mittlere, "kannst du ein himmelblaues Kleid
  kaufen."
  Die jüngste aber sprach: "Auf der Welt wäre mir nichts lieber, als eine
  Traube."
  Als nun der Kaufmann auf den Markt kam, da sah er bald Perlen und Edelsteine, so viel
  er nur wollte; und auch ein himmelblaues Kleid hatte er bald gekauft. Aber eine Traube,
  die konnte er auf dem ganzen Markt nirgends finden. Da ward er sehr betrübt; denn gerade
  die jüngste Tochter hatte er am liebsten.
  Als er nun so in Gedanken nach Hause ging, trat ihm ein kleines Männchen in den Weg,
  das fragte ihn: "Was bist du so traurig?"
  "Ach," antwortete der Kaufmann, "ich sollte meiner jüngsten Tochter
  eine Traube heimbringen, und nun hab ich auf dem ganzen Markt keine gefunden."
  Sagte das Männchen: "Geh nur ein paar Schritte dort in die Wiesen hinunter, dann
  kommst du zu einem grossen Weinberg. Da ist freilich ein weisser Bär drin. Der wird
  garstig brummen, wenn du kommst; aber lass dich nur nicht erschrecken. Die Traube kriegst
  du doch."
  Nun ging der Kaufmann die Wiese hinunter, und da geschah es, wie das Männchen gesagt
  hatt. Ein weisser Bär hielt die Wache vor dem Weinberg und brummte dem Kaufmann schon von
  Weitem entgegen: "Was willst du hier?"
  "Sei so gut," sagte der Kaufmann, "und lass mich eine Traube nehmen für
  meine jüngste Tochter, nur eine einzige."
  "Die bekömmst du nicht," sagte der Bär, "oder du versprichst mir, dass
  du mir zu eigen gibst, was dir zuerst begegnet, wenn du nach Haus kommst."
  Der Kaufmann besann sich nicht lange, und sagte es dem Bären zu. Da durfte er die
  Traube nehmen und machte sich vergnügt auf den Heimweg.
  Als er nun nach Haus kam, sprang ihm die jüngste Tochter entgegen, denn sie hatte am
  meisten lange Zeit nach ihm gehabt und konnte es kaum erwarten, bis sie ihn sah. Und als
  sie die Traube in seiner Hand erblickte, da fiel sie ihm um den Hals und konnte sich vor
  Freude nicht fassen. Aber jetzt wurde der Vater erst recht traurig und durfte doch nicht
  sagen warum. Alle Tage erwartete er, dass der weisse Bär kommen und sein liebstes Kind
  von ihm fordern würde. Und als gerade ein Jahr vergangen war, seit er die Traube aus dem
  Weinberg geholt hatte, da trabte der Bär wirklich daher, stellte sich vor den
  erschrockenen Kaufmann hin und sagte: "Nun gibst du mir, was dir zuerst begnete, als
  du nach Hause kamst; oder ich fress dich."
  Der Kaufmann hatte aber doch noch nicht alle Besinnung verloren, sondern sagte:
  "Da nimm meinen Hund, der ist gleich aus der Tür gesprungen, als er mich kommen
  sah."
  Der Bär aber fing an laut zu brummen und sagte: "Der ist nicht das Rechte. Wenn
  du mir dein Versprechen nicht erfüllst, so fress ich dich!"
  Da sagte der Kaufmann: "Nun denn, so nimm da den Apfelbaum vor dem Haus, der ist
  mir zuerst begegnet."
  Aber der Bär brummte noch stärker und sagte: "Der ist nicht das Rechte. Wenn du
  mir nicht gleich dein Versprechen erfüllst, so fress ich dich."
  Nun half nichts mehr. Der Kaufmann musste seine jüngste Tochter hergeben; und als sie
  herbeikam, fuhr eben eine Kutsche vor; da hinein führte sie der Bär und setzte sich
  neben sie, und fort ging's.
  Nach einer Weile hielt die Kutsche in einem Schlosshof, und der Bär fülhrte die
  Tochter in das Schloss hinauf und bewillkommte sie. Hier, sagte er, sei er zu Haus, und
  sie sei von jetzt an seine Gemahlin; und alles Liebe und Gute, was er ihr nur an den Augen
  absah, das tat er ihr, so dass sie mit der Zeit gar nicht mehr daran dachte, dass ihr
  Gemahl nur ein Bär sei. Nur Zweierlei nahm sie immerfort wunder: Warum der Bär des
  Nachts kein Licht leiden wollte und immer so kalt anzufühlen war.
  Als sie nun eine Zeit lang bei ihm gewohnt hatte, fragte er sie: "Weisst du, wie
  lange du schon hier bist?"
  "Nein," sagte sie, "ich habe noch gar nicht an die Zeit gedacht."
  "Desto besser," sagte der Bär. "Nun ist's aber gerade ein Jahr; darum
  rüste dich zur Reise, denn wir müssen deinen Vater wieder einmal besuchen."
  Das tat sie mit grossen Freuden; und als sie zu dem Vater kam, so erzählte sie ihm ihr
  ganzes Leben im Schloss. Wie sie aber hernach wieder Abschied von ihm nahm, steckte er ihr
  heimlich Zündhölzchen zu, dass es der Bär nicht sehen sollte. Der hatte es jedoch im
  Augenblick gesehen und brummte zornig: "Wenn du das nicht bleiben lässest, so fress
  ich dich."
  Dann nahm er seine Gemahlin wieder mit sich auf das Schloss, und da lebten sie wieder
  zusammen, wie vorher. Nach einiger Zeit sagte der Bär: "Weisst du, wie lang du schon
  hier bist?"
  "Nein," sagte sie, "ich spüre gar nichts von der Zeit."
  "Desto besser," sagte der Bär. "Du bist nun gerade zwei Jahre hier;
  darum rüste dich zur Reise. Es ist Zeit, dass wir deinen Vater wieder einmal
  besuchen."
  Das tat sie wieder, und es ging alles wie das erste Mal.
  Als sie aber noch zum dritten Mal bei ihrem Vater auf Besuch war, übersah es der Bär,
  dass ihr Vater ihr heimlich Zündhölzchen zugesteckt hatte; und wie sie nun zusammen
  wieder in das Schloss zurückgekehrt waren, so konnte sie es kaum erwarten, bis es Nacht
  war und der Bär neben ihr im Bette schlief. Leise zündete sie ein Licht an, und da
  erschrak sie vor lauter Verwunderung und Freude; denn neben ihr lag ein schöner Jüngling
  mit einer goldenen Krone auf dem Haupte. Der lächelte sie an und sagte: "Schönsten
  Dank, dass du mich erlöst hast. Du warst die Gemahlin eines verwünschten Prinzen. Jetzt
  wollen wir erst recht unsere Hochzeit feiern, denn jetzt bin ich der König dieses
  Landes."
  Alsbald wurde das ganze Schloss lebendig. Von allen Seiten kamen die Diener und
  Kammerherren herbei und wünschten dem Herrn König und der Frau Königin Glück.
   
  Otto Sutermeister: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz. Aarau 1873, Nr. 37.
  (AT 425C, Schweiz)
  
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