Die Schöne und das Tier
Es war einmal ein Kaufmann, der überaus reich war. Er hatte sechs Kinder: drei Söhne
und drei Töchter, und weil dieser Kaumann ein vernünftiger Mann war, so scheute er keine
Kosten bei der Erziehung seiner Kinder und hielt ihnen allerlei Lehrmeister. Seine
Töchter waren alle sehr schön, vornehmlich aber wurde die jüngste bewundert, und man
nannte sie nur, als sie klein war, das schöne Kind. Diesen Namen behielt sie, und das
erregte bei ihren Schwestern viel Eifersucht.
Diese jüngste, welche schöner war als ihre Schwestern, war auch besser als sie. Die
beiden ältesten besassen viel Hochmut, weil sie reich waren. Sie spielten die vornehmen
Frauen und wollten die Besuche der anderen Kaufmannstöchter nicht annehmen. Sie mussten
Standespersonen zu ihrer Gesellschaft haben. Sie gingen alle Tage auf den Ball, in die
Komödie, in die Gärten spazieren und hielten sich über ihre jüngste Schwester auf,
welche den grössten Teil ihrer Zeit auf das Lesen guter Bücher wandte.
Weil man wusste, dass diese Mädchen sehr reich waren, so hielten viele grosse
Kaufleute um sie zur Ehe an. Die beiden ältesten aber antworteten, sie wollten sich nicht
verheiraten, sofern sie nicht einen Grafen oder wenigstens einen Baron fänden. Die
Schöne (denn ich habe Ihnen schon gesagt, dass die jüngste diesen Namen führte), die
Schöne, sagte ich, dankte denjenigen sehr höflich, die sie heiraten wollten, sie sagte
aber zu ihnen, sie wäre noch gar zu jung und wünschte, ihrem Vater noch einige Jahre
Gesellschaft zu leisten.
Auf einmal kam der Kaufmann um sein Vermögen, und er behielt nichts übrig als ein
kleines Landgut, sehr weit von der Stadt. Er sagte unter Tränen zu seinen Kindern, sie
müssten auf dieses Gut ziehen, und sie könnten daselbst leben, wenn sie wie die Bauern
arbeiteten. Seine beiden ältesten Töchter antworteten: sie wollten die Stadt nicht
verlassen, sie hätten viele Liebhaber, die noch gar zu glücklich sein würden, wenn sie
sie heirateten, obwohl sie kein Vermögen mehr hätten. Die guten Jungfern betrogen sich.
Ihre Liebhaber wollten sie nicht mehr ansehen, als sie arm waren.
Weil ihnen niemand, wegen ihres Stolzes, gut war, so sagte man: "Sie verdienen
nicht, dass man sie beklagt; es ist uns sehr lieb, dass man ihren Hochmut gedemütigt
sieht; sie mögen nun hingehen und die vornehme Frau spielen, wenn sie die Schafe
hüten."
Zu gleicher Zeit aber sagte jedermann: "Was die Schöne betrifft, so geht uns ihr
Unglück sehr nahe; sie ist ein gutes Mädchen. Sie sprach mit den armen Leuten sehr
gütig, sie war sehr leutselig, sehr höflich. Es fanden sich sogar viele Edelleute, die
sie heiraten wollten, obwohl sie keinen Heller besass. Sie sagte aber zu ihnen, sie
könnte sich nicht entschliessen, ihren armen Vater in seinem Unglücke zu verlassen, und
sie wollte ihm auf das Land folgen, um ihn zu trösten und ihm arbeiten zu helfen."
Die arme Schöne war anfänglich sehr niedergeschlagen darüber gewesen, dass sie ihr
Vermögen verloren hatte, sie hatte aber zu sich gesagt: "Wenn ich auch noch so sehr
weine, so wird mir das doch nicht mein Gut wieder herbeischaffen. Man muss sich bemühen,
ohne Vermögen glücklich zu sein."
Als sie auf ihrem Landgut angekommen waren, so beschäftigten sich der Kaufmann und
seine drei Söhne damit, das Feld zu bebauen. Die Schöne stand des Morgens um vier Uhr
auf und eilte, das Haus reinzumachen und die Mittagsmahlzeit für die Familie zu bereiten.
Es wurde ihr anfangs sehr sauer, denn sie war es nicht gewöhnt, wie eine Magd zu
arbeiten. Nach zwei Monaten aber wurde sie stärker, und die Arbeit gab ihr vollkommene
Gesundheit. Wenn sie ihre Arbeit getan hatte, so las sie, spielte auf dem Klavier oder
sang auch wohl beim Spinnen.
Ihre beiden Schwestern hingegen hätten vor Langeweile fast sterben mögen. Sie standen
des Morgens um zehn Uhr auf, gingen den ganzen Tag spazieren und vertrieben sich die Zeit
damit, dass sie ihren schönen Kleidern und ihren Gesellschaften nachtrauerten. "Man
sehe nur unsere jüngere Schwester", sagten sie zueinander, "sie hat eine
niederträchtige Seele und ist so dumm, dass sie mit ihrem unglücklichen Zustande
zufrieden ist."
Der wackere Kaufmann dachte nicht so wie seine Töchter. Er wusste, dass die Schöne
viel geeigneter war als ihre Schwestern, sich in Gesellschaften zu zeigen. Er bewunderte
die Tugend dieser jungen Tochter und vornehmlich ihre Geduld. Denn ihre Schwestern liessen
sie nicht bloss alle Hausarbeit ganz allein verrichten, sondern schalten sie auch noch
alle Augenblicke.
Diese Familie hatte nun ein Jahr in der Einsamkeit gelebt, als der Kaufmann Briefe
erhielt, worinnen man ihm meldete, es wäre ein Schiff, worauf er Waren gehabt hatte,
glücklich angekommen. Diese Neuigkeit hätte seinen beiden ältesten Töchtern den Kopf
fast verwirrt, weil sie dachten, sie würden endlich das Land wieder verlassen können, wo
ihnen Zeit und Weile so lang würden. Als sie ihren Vater zur Abreise fertig sahen, so
baten sie ihn, er möge ihnen Röcke, Kleider, Kopfschmuck und allerhand Kleinigkeiten
mitbringen. Die Schöne aber bat ihn um nichts, denn sie dachte, alles Geld für die Waren
würde nicht reichen, das zu kaufen, was ihre Schwestern wünschten.
"Du bittest mich nicht, dass ich dir etwas kaufen soll?" sagte ihr Vater zu
ihr.
"Wenn Sie die Güte haben wollen, an mich zu denken", antwortete sie ihm,
"so bitte ich Sie, bringen Sie mir eine Rose mit, denn hier wachsen keine." Die
Schöne machte sich nicht eben viel aus Rosen, sie wollte aber nicht durch ihr Beipsiel
die Aufführung ihrer Schwestern verdammen, welche gesagt haben würden, es geschähe
bloss, sich von ihnen zu unterscheiden, dass sie nichts verlangte.
Der wackere Mann reiste ab. Als er aber angekommen war, so fing man mit ihm einen
Prozess wegen seiner Waren an, und nachdem er viel Mühe gehabt hatte, so reiste er ebenso
arm wieder zurück, als er vorher war. Er hatte nicht mehr dreissig Meilen bis nach Hause,
und er freute sich schon über das Vergnügen, seine Kinder wiederzusehen. Weil er aber
durch einen grossen Wald musste, ehe er nach Hause kommen konnte, so verirrte er sich
darin. Es schneite entsetzlich. Der Wind war so stark, dass er ihn zweimal vom Pferde
warf, und als ihn die Nacht überfallen hatte, so dachte er, er würde vor Hunger oder
Kälte sterben oder von den Wölfen gefressen werden, die er rund um sich herum heulen
hörte.
Auf einmal erblickte er, da er umhersah, an dem Ende einer grossen Allee von Bäumen
ein starkes Licht, welches sehr weit entfernt zu sein schien. Er ritt darauf zu und sah,
dass dieses Licht aus einem grossen Palaste kam, welcher ganz erleuchtet war. Der Kaufmann
dankte Gott für den Beistand, den er ihm schickte, und beeilte sich, an das Schloss zu
kommen.
Es nahm ihn aber sehr Wunder, dass er keinen Menschen in den Höfen desselben fand.
Sein Pferd, welches ihm folgte, sah einen grossen Stall offen und ging hinein. Weil es
daselbst Hafer und Heu fand, so fiel das arme Tier, welches vor Hunger fast gestorben war,
gierig darüber her. Der Kaufmann band es in dem Stalle an und ging in das Haus, wo er
keinen Menschen sah. Als er aber in einen grossen Saal kam, so traf er daselbst ein gutes
Feuer und eine mit Speisen besetzte Tafel an, die nur für eine Person gedeckt war.
Weil der Regen und der Schnee ihn bis auf die Knochen durchnässt hatten, so trat er an
das Feuer, um sich zu trocknen und sagte zu sich: "Der Herr des Hauses oder seine
Bedienten werden mir die Freiheit vezeihen, die ich mir nehme, und ohne Zweifel werden sie
bald kommen."
Er wartete eine ziemliche Weile, nachdem es aber elf geschlagen hatte, ohne dass er
jemand sah, so konnte er dem Hunger nicht widderstehen und nahm ein junges Huhn, welches
er mit zwei Bissen und mit Zittern verzehrte. Er trank auch einige Gläser Wein, und da er
dadurch kühner geworden war, so ging er aus dem Saale und durch viele grosse, möblierte
Gemächer. Endlich fand er ein Zimmer, worin ein gutes Bett stand, und weil Mitternacht
schon vorbei und er müde war, so hielt er es für das beste, dass er die Tür zuschloss
und sich niederlegte.
Es war zehn Uhr morgens, als er am nächsten Tag aufstand, und er wunderte sich sehr,
dass er ein sehr sauberes Kleid anstatt des seinigen antraf, welches ganz verdorben war.
"Ganz gewiss gehört dieser Palast", sagte er zu sich, "einer guten Fee,
die mit meinem Zustand Erbarmen hat." Er sah aus dem Fenster und sah keinen Schnee
mehr, sondern Lauben aus Blumen, die das Auge bezauberten.
Er trat in den grossen Saal, wo er am Abend gegessen hatte und sah einen kleinen Tisch,
worauf Schokolade stand. "Ich danke Ihnen, gnädige Frau Fee", sagte er ganz
laut, "dass Sie die Güte gehabt und an mein Frühstück gedacht haben."
Nachdem der wackere Mann seine Schokolade zu sich genommen hatte, so ging er hinaus und
wollte sein Pferd suchen. Als er nun unter einer Laube von Rosen entlangging, so erinnerte
er sich, dass ihn die Schöne um eine Rose ersucht hatte, und er brach einen Zweig ab,
woran ihrer viele sassen. Da hörte er ein lautes Geräusch und sah ein so entsetzliches
Tier auf sich zukommen, dass er beinahe in Ohnmacht gefallen wäre.
"Du bist sehr undankbar", sagte das Tier mit einer fürchterlichen Stimme zu
ihm. "Ich habe dir das Leben gerettet, indem ich dich in mein Schloss aufgenommen,
und für meine Güte stiehlst du mir meine Rosen, die ich unter allen Dingen in der Welt
am allerliebsten habe. Diesen Fehler zu büssen musst du sterben. Ich gebe dir nur eine
Viertelstunde Zeit, damit du Gott um Verzeihung bitten kannst."
Der Kaufmann fiel auf die Knie und sagte mit gefalteten Händen zu dem Tier:
"Gnädiger Herr, verzeihen Sie mir, ich wollte Sie nicht beleidigen, als ich eine
Rose für eine meiner Töchter abbrach, die mich darum gebeten hat."
"Ich heisse nicht gnädiger Herr", antwortete ihm das Ungeheuer,
"sondern Tier. Ich liebe die Komplimente nicht; ich will, dass man sagt, was man
denkt. Glaube also nicht, dass du mich durch deine Schmeicheleien rühren wirst. Doch du
hast mir gesagt, du hättest Töchter. Ich will dir wohl verzeihen, unter der Bedingung,
dass eine von deinen Töchtern freiwillig kommt, um statt deiner zu sterben. Sage mir
weiter kein Wort. Reise, und wenn deine Töchter sich weigern, für dich zu sterben, so
schwöre, dass du in drei Monaten wiederkommen wirst."
Der gute Mann war nicht willens, eine von seinen Töchtern diesem garstigen Untier
aufzuopfern, sondern er dachte: "Ich werde doch wenigstens das Vergnügen haben, sie
noch einmal zu umarmen."
Er schwor also, er wollte wiederkommen, und das Tier sagte zu ihm, er könnte abreisen,
wenn er wolle. "Allein", setzte es hinzu, "ich will nicht, dass du mit
leeren Händen weggehst. Kehre wieder in das Zimmer zurück, wo du geschlafen hast; du
wirst daselbst einen grossen leeren Koffer finden; in den kannst du alles legen, was dir
beliebt; ich will ihn in dein Haus bringen lassen."
Mit diesen Worten zog sich das Tier zurück, und der gute ehrliche Mann sagte su sich:
"Wenn ich auch sterben muss, so werde ich doch den Trost haben, dass ich meinen armen
Kindern etwas hinterlasse."
Er ging in das Zimmer zurück, wo er geschlafen hatte, und nachdem er daselbst eine
grosse Menge Goldstücke gefunden hatte, so füllte er den grossen Koffer damit an, von
dem ihm das Tier erzählt hatte. Er schloss ihn zu, und nachdem der sein Pferd
wiederhatte, welches er noch in dem Stalle fand, so ging er mit einer Traurigkeit aus dem
Palast, die der Freude glich, die er hatte, als er hineingeritten war.
Sein Pferd nahm von selbst einen Weg durch den Wald, und in wenigen Stunden kam der
ehrliche Mann in seinem kleinen Haus an. Seine Kinder waren um ihn herum. Allein, anstatt
dass er über ihre Liebkosungen hätte vergnügt sein sollen, so fing er an zu weinen, als
er sie ansah. Er hielt den Rosenzweig, welchen er der Schönen mitbrachte, in der Hand,
gab ihn ihr und sagte: "Da, Schöne, nimm diese Rosen hin, sie werden deinen
unglücklichen Vater sehr teuer zu stehen kommen." Und darauf erzählte er seiner
Familie die klägliche Begebenheit, die ihm widerfahren war.
Bei dieser Erzählung erhoben seine beiden ältesten Töchter ein grosses Geschrei und
schimpften und schmähten die Schöne, die nicht weinte. "Da sieht man, was der
Hochmut dieser kleinen Kreatur hervorbringt", sagten sie. "Warum verlangte sie
keine Kleidung wie wir? Aber nein, Mademoiselle wollte etwas Besonderes haben. Sie wird
unserem Vater den Tod bringen und sie weint nicht einmal."
"Das würde sehr unnütz sein", erwiderte die Schöne, "warum sollte ich
den Tod meines Vaters beweinen? Er wird nicht umkommen. Weil das Ungeheuer eine von seinen
Töchtern annehmen will, so will ich mich allein seinem Zorn überliefern; und ich halte
mich für sehr glücklich, weil ich bei meinem Tode die Freude haben werde, meinen Vater
zu retten und ihm meine Zärtlichkeit zu beweisen."
"Nein, meine liebe Schwester", sagten ihre drei Brüder zu ihr, "du
sollst nicht sterben, wir wollen das Ungeheuer aufsuchen und unter seinen Klauen umkommen,
wenn wir es nicht umbringen können."
"Hofft das nicht, meine lieben Kinder", sagte der Kaufmann zu ihnen,
"die Macht dieses Tieres ist so gross, dass mir keine Hoffnung übrigbleibt, es zu
töten. Ich bin über das gute Herz der Schönen sehr gerührt, ich will sie aber nicht in
den Tod geben. Ich bin alt, ich habe nur noch wenig Zeit zu leben: ich werde also bloss
einige Jahre von einem Leben verlieren, die ich nur euretwegen bedauere, meine lieben
Kinder."
"Ich versichere Sie, mein lieber Vater", sagte die Schöne, "Sie wollen
ohne mich nicht nach diesem Palast gehen. Sie können mich nicht abhalten, Ihnen zu
folgen. Obwohl ich jung bin, so bin ich dem Leben doch nicht sehr zugetan, und ich will
lieber von diesem Ungeheuer aufgefressen werden als von dem Kummer sterben, den mir Ihr
Verlust verursachen würde."
Man mochte noch soviel reden, die Schöne wollte durchaus zu dem schönen Palast
reisen, und ihre Schwestern waren recht froh darüber, weil die Tugenden dieser jüngsten
ihnen viel Eifersucht eingeflösst hatten. Der Kaufmann war von dem Schmerze, seine
Tochter zu verlieren, so eingenommen, dass er nicht an den Koffer dachte, welchen er mit
Gold angefüllt hatte. Sobald er sich aber in seiner Kammer eingeschlossen hatte und sich
niederlegen wollte, so erstaunte er sehr, dass er jenen hinter seinem Bette fand. Er
entschloss sich, seinen Kindern nichts davon zu sagen, dass er so reich geworden war, weil
seine Töchter gern wieder in die Stadt ziehen wollten, er aber entschlossen war, auf
diesem Landgute zu sterben.
Doch vertraute er dieses Geheimnis der Schönen an, als sie ihm meldete, es wären
unter seiner Abwesenheit einige Edelleute zu ihnen gekommen, und es befänden sich zwei
darunter, die ihre Schwestern liebten. Sie bat ihren Vater, er möchte sie verheirtaten;
denn sie war so gut, dass sie dieselben liebhatte und ihnen von ganzem Herzen alles
vergab, was sie ihr zuleide getan hatten.
Diese beiden boshaften Töchter rieben sich die Augen mit einer Zwiebel, damit sie
weinen konnten, als die Schöne mit ihrem Vater abreiste. Ihre Brüder aber weinten im
Ernst, ebenso wie der Kaufmann. Nur die Schöne weinte nicht, weil sie ihren Schmerz nicht
vermehren wollte.
Das Pferd nahm den Weg zum Palast, und gegen Abend sahen sie ihn so erleuchtet wie das
erste Mal. Das Pferd ging ganz allein in den Stall, und der wackere Mann ging mit seiner
Tochter in den grossen Saal, wo sie eine prächtig angerichtete Tafel fanden, die für
zwei Personen gedeckt war. Der Kaumann konnte nichts essen. Die Schöne aber, die sich
zwang, ruhig zu erscheinen, setzte sich zur Tafel und legte ihm vor. Darauf sagte sie zu
sich: "Das Tier will mich fett machen, ehe es mich auffrisst, weil es mir so gutes
Essen und Trinken gibt."
Als sie gegessen hatten, so hörten sie ein lautes Geräusch, und der Kaufmann nahm
unter Tränen von seiner Tochter Abschied, denn er dachte, das Tier käme. Die Schöne
konnte sich des Zitterns und Bebens nicht enthalten, als sie diese schreckliche Gestalt
sah. Sie fasste sich aber wieder, so gut sie konnte, und als das Ungeheuer sie fragte, ob
es aus gutem Herzen geschehen wäre, dass sie hergekommen sei, so sagte sie mit Zittern:
"Ja."
"Sie sind sehr gütig", sagte das Tier, "und ich bin Ihnen sehr
verbunden. Ihr aber, guter ehrlicher Mann, reist morgen früh, und lasst Euch niemals
einfallen, hier wieder herzukommen -- Leben Sie wohl, Schöne."
"Auf Wiedersehen, Tier", antwortete sie, und gleich darauf begab sich das
Ungeheuer hinweg.
"Ach, meine liebe Tochter", sagte der Kaufmann, indem er die Schöne umarmte,
"ich bin halbtot vor Schrecken. Folge mir, lass mich hierbleiben."
"Nein, mein lieber Vater", sagte die Schöne mit Standhaftigkeit zu ihm,
"Sie sollen morgen früh abreisen und mich dem Beistand des Himmels überlassen;
vielleicht wird er sich meiner erbarmen."
Sie legten sich nieder und glaubten, sie würden die ganze Nacht nicht schlafen
können. Sie waren aber kaum in ihren Betten, so taten sich ihre Augen zu. Die Schöne sah
im Schlafe eine Dame, die zu ihr sagte: "Ich bin mit deinem guten Herzen zufrieden,
Schöne. Die gute Tat, die du jetzt tust, indem du dein Leben hingibst, um das Leben
deines Vaters zu retten, wird nicht ohne Belohnung bleiben."
Die Schöne erzählte beim Aufwachen diesen Traum ihrem Vater; und obwohl er ihn ein
wenig tröstete, so hinderte er ihn doch nicht, sehr zu jammern und zu wehklagen, als er
sich von seiner geliebten Tochter trennen musste.
Als er abgereist war, so setzte sich die Schöne in den grossen Saal und fing auch an
zu weinen. Weil sie aber viel Mut hatte, so empfahl sie sich dem lieben Gott und
entschloss sich, sie wollte sich die wenige Zeit die sie noch zu leben hätte, nicht
kränken, denn sie glaubte steif und fest, das Tier würde sie abends auffressen.
Sie nahm sich vor, sie wollte unterdessen herumspazieren und dieses schöne Schloss
besehen. Sie konnte sich nicht enthalten, die Schönheit desselben zu bewundern. Sie
erstaunte aber sehr, als sie eine Tür fand, worüber geschrieben stand: "Zimmer der
Schönen." Sie machte die Türe in aller Eile auf und wurde von der Pracht ganz
geblendet, die daselbst herrschte. Was ihr aber am meisten in die Augen fiel, war eine
grosse Bibliothek, ein schöner Flügel und viele Notenbücher.
"Man will doch nicht, dass ich Langeweile haben soll", sagte sie leise zu
sich, und darauf dachte sie: "Wenn ich nur einen Tag hierbleiben sollte, so würde
man nicht soviel für mich angeschafft haben." Dieser Gedanke ermunterte ihren Mut
wider. Sie machte den Bücherschrank auf und sah ein Buch, worinnen mit goldenen
Buchstaben geschrieben war: "Wünschen Sie! Befehlen Sie! Sie sind hier die Königin
und Frau."
"Ach", sagte sie mit Seufzen, "ich wünsche nichts weiter, als dass ich
meinen armen Vater wiedersehen und erfahren möge, was er jetzt macht." Sie hatte
dieses zu sich gesagt. Wie erstaunte sie aber, als sie ihre Augen auf einen grossen
Speigel warf und darinnen sein Haus erblickte, woselbst ihr Vater mit einem überaus
traurigen Gesicht ankam. Ihre Schwestern gingen ihm entgegen und ungeachtet der
Verstellungen ihrer Gebärden, die sie machten, damit sie betrübt scheinen möchten, sah
man dennoch die Freude, die sie über den Verlust ihrer Schwester hatten, auf ihrem
Gesichte erschienen. Einen Augenblick danach verschwand alles wieder, und die Schöne
konnte sich nicht enthalten zu denken, das Tier sei sehr gefällig, und sie habe nichts
von ihm zu befürchten.
Zu Mittage fand sie die Tafel gesetzt und die Mahlzeit über hörte sie ein
vortreffliches Konzert, wiewohl sie keine Menschenseele sah. Am Abend, als sie sich zur
Tafel setzen wollte, hörte sie das Geräusch, welches das Tier machte, und konnte sich
des Zitterns und Bebens nicht enthalten.
"Schöne", sagte das Ungeheuer zu ihr, "wollen Sie wohl erlauben, dass
ich Sie heute abend speisen sehe?"
"Ihr habt hier zu befehlen", antwortete die Schöne zitternd.
"Nein", erwiderte das Tier, "es hat hier niemand zu befehlen als Sie.
Sie brauchen nur zu sagen, ich soll gehen, wenn ich Ihnen unangenehm bin, ich werde
sogleich weggehen. Sagen Sie mir, finden Sie mich nicht sehr hässlich?"
"Das ist wahr", sagte die Schöne. "Ich kann nicht lügen, aber ich
glaube, Sie sind sehr gut."
"Sie haben recht", antwortete das Ungeheuer, "allein darüber hinaus,
dass ich hässlich bin, habe ich auch keinen Geist. Ich weiss wohl, dass ich ein dummes
Vieh bin."
"Man ist kein dummes Vieh", erwiderte die Schöne, "wenn man glaubt,
dass man keinen Geist hat; ein Tor hat solches niemals gewusst."
"Essen Sie also, Schöne", sagte das Ungeheuer, "und lassen Sie sich die
Zeit in Ihrem Hause nicht lang werden, denn alles gehört hier Ihnen, und es würde mich
kränken, wenn Sie nicht vergnügt wären."
"Sie haben viel Güte", sagte die Schöne. "Ich gestehe es Ihnen, ich
bin mit Ihrem Herzen sehr zufrieden. Wenn ich daran denke, so kommen Sie mir nicht mehr so
hässlich vor."
"O warhlich, ja", antwortete das Tier, "ich habe ein gutes Herz, aber
ich bin ein Ungeheuer."
"Es gibt viele Menschen,die ärgere Ungeheuer sind als Sie", sagte die
Schöne, "und ich will Sie mit Ihrer Gestalt viel lieber haben als diejenigen, welche
unter der Menschengestalt ein falsches, verderbtes, undankbares Herz verstecken."
"Wenn ich Geist hätte", antwortete das Tier, "so würde ich Ihnen ein
grosses Kompliment machen und mich bei Ihnen bedanken; allein, ich bin dumm, und alles,
was ich Ihnen sagen kann, ist, dass ich Ihnen sehr verbunden bin."
Die Schöne speiste nun mit gutem Appetit. Sie hatte fast gar keine Furcht mehr vor dem
Ungeheuer. Sie wäre aber bald vor Schrecken gestorben, als es zu ihr sagte:
"Schöne, wollen Sie meine Frau werden?"
Sie blieb eine Zeitlang still, ohne zu antworten. Sie fürchtete sich, sie möchte den
Zorn des Ungeheuers erregen, wenn sie es abschlüge. Indessen sagte sie doch mit Zittern:
"Nein, Tier." In dem Augenblick wollte dieses arme Ungeheuer seufzen und machte
ein so entsetzliches Gezische, dass der ganze Palast davon erschallte.
Die Schöne bekam aber bald wieder Mut. Denn das Tier sagte mit Betrübnis zu ihr:
"Leben Sie denn wohl, Schöne!" und ging aus dem Zimmer hinaus, wobei es sich
von Zeit zu Zeit umkehrte, damit es die Schöne noch einmal ansähe.
Als die Schöne sich allein sah, so empfand sie ein grosses Mitleid mit diesem armen
Tier. "Ach", sagte sie, "es ist recht schade, dass es so hässlich ist; es
ist so gut!"
Die Schöne brachte drei Monate in diesem Palaste ziemlich ruhig zu. Jeden Abend
stattete das Tier seinen Besuch bei ihr ab, unterhielt sie bei der Tafel mit viel gesunder
Vernunft, aber niemals mit dem, was man in der Welt Geist nennt. Alle Tage entdeckte die
Schöne neue Güte an deisem Ungeheuer. Die Gewohnheit, es zu sehen, hatte sie an seine
Hässlichkeit gewöhnt, und sie fürchtete den Augenblick seines Besuches gar nicht mehr,
sondern sah statt dessen oft auf die Uhr, um zu sehen, ob es noch nicht bald neun wäre.
Denn das Tier kam immer zu dieser Stunde. Nur eine einzige Sache machte der Schönen
Kummer, nämlich, dass das Ungeheuer jedesmal, bevor es wegging, fragte, ob sie seine Frau
werden wollte? und dass es ganz von Schmerz durchdrungen zu sein schien, wenn sie Nein
dazu sagte.
Eines Tages sagte sie zu dem Ungeheuer: "Sie kränken mich, Tier. Ich wünschte,
ich könnte Sie heiraten, allein, ich bin viel zu aufrichtig, als dass ich Ihnen
weismachen wollte, es werde doch einmal geschehen. Ich werde stets Ihre gute Freundin
sein. Seien Sie damit immer zufrieden."
"Ich muss wohl", erwiderte das Tier, "denn ich beurteile mich richtig.
Ich weiss, dass ich recht abscheulich bin, ich liebe Sie aber sehr. Indessen bin ich
dadurch glücklich genug, dass Sie gern hierbleiben wollen. Versprechen Sie mir, dass Sie
mich niemals verlassen wollen!"
Die Schöne errötete bei diesen Worten. Sie hatte in ihrem Spiegel gesehen, dass ihr
Vater vor Bekümmernis darüber krank war, dass er sie verloren hatte, und sie wünschte
sich, ihn wiederzusehen. "Ich könnte es Ihnen wohl versprechen", sagte sie zu
dem Tier, "dass ich Sie ganz und gar niemals verlassen wollte, allein, ich habe ein
so grosses Verlangen, meinen Vater wiederzusehen, dass ich vor Schmerzen sterben würde,
wenn Sie mir diese Bitte abschlügen."
"Ich will lieber selbst sterben", sagte dieses Ungeheuer, "als Ihnen
Kummer verursachen. Ich will Sie zu Ihrem Vater schicken. Sie werden daselbst bleiben, und
Ihr armes Tier wird vor Schmerzen darüber sterben."
"Nein", sagte die Schöne mit Weinen zu ihm, "ich habe Sie viel zu lieb,
als dass ich Ihren Tod verursachen wollte. Ich verspreche es Ihnen, ich will in acht Tagen
wiederkommen. Sie haben mir gezeigt, dass meine Schwestern verheiratet und dass meine
Brüder zu den Soldaten gegangen sind. Mein Vater ist ganz allein; erlauben Sie, dass ich
eine Woche bei ihm bleibe."
"Sie sollen morgen früh dasein", sagte das Tier. "Erinnern Sie sich
aber Ihres Versprechens. Sie brauchen nur, ehe Sie zu Bett gehen, Ihren Ring auf einen
Tisch zu legen, wenn Sie wieder zurückkommen wollen. Leben Sie wohl, Schöne!"
Das Ungeheuer seufzte nach seiner Gewohnheit, als es diese Worte sagte, und die Schöne
legte sich ganz traurig darüber nieder, dass sie es so betrübt sah. Als sie am Morgen
aufwachte, so befand sie sich im Hause ihres Vaters, und nachdem sie eine Klingel gezogen,
die an der Seite ihres Bettes war, so sah sie die Magd kommen, die einen lauten Schrei
ausstiess, als sie die Schöne erblickte. Der gute ehrliche Mann kam auf dieses Geschrei
herbeigelaufen und wäre vor Freuden fast gestorben, als er seine liebe Tochter wiedersah.
Sie hielten sich über eine Viertelstunde lang umarmt.
Die Schöne dachte, nach den ersten Entzückungen, sie hätte keine Kleider anzuziehen,
dass sie aufstehen könnte, die Magd aber sagte zu ihr, sie hätte in der benachbarten
Kammer einen grossen Koffer voller goldener mit Diamanten besetzter Kleider gefunden. Die
Schöne dankte dem guten Tier wegen seiner Aufmerksamkeit. Sie nahm dasjenige der Kleider,
das am wenigsten kostbar war, und sagte zu der Magd, sie sollte die anderen einschliessen,
sie wolle ihre Schwestern damit beschenken. Kaum hatte sie aber diese Worte ausgesprochen,
so verschwand der Koffer. Ihr Vater sagte zu ihr, das Tier wollte, sie sollte alles das
für sich behalten, und sogleich kamen die Kleider und der Koffer wieder zum Vorschein.
Die Schöne kleidete sich an, und währenddessen wurde alles ihren Schwestern
berichtet, welche mit ihren Männern herbeieilten. Sie waren alle beide sehr unglücklich.
Die Älteste hatte einen Edelmann geheiratet, der so schön war wie Amor selbst, aber
er war in seine eigene Gestalt so verliebt, dass er sich von morgens bis abends nur damit
beschäftigte und die Schönheit seiner Frau verachtete.
Die zweite hatte einen Mann geheiratet, der viel Geist besass; er bediente sich dessen
aber nur, alle Welt toll zu machen und seine Frau zu allererst.
Die Schwestern der Schönen wollten vor Ärger fast sterben, als sie sie wie eine
Prinzessin gekleidet und schöner als der Tag sahen. Sie mochte sie liebkosen, wie sie
wollte; nichts konnte ihre Eifersucht ersticken, welche sehr zunahm, als sie ihnen
erzählt hatte, wie glücklich sie wäre.
Diese beiden eifersüchtigen Schwestern gingen in den Garten, um dort zu weinen und
sagten zueinander: "Warum ist diese kleine Kreatur glücklicher als wir? Sind wir
nicht liebenswürdiger als sie?"
"Meine liebe Schwester", sagte die Älteste, "es fällt mir etwas ein.
Wir wollen uns bemühen, sie länger als acht Tage hier zu behalten. Ihr dummes Tier wird
darüber in Zorn geraten, dass sie ihr Wort nicht gehalten, und wird sie vielleicht
affressen."
"Du hast recht, Schester", antwortete die andere. "Dazu aber müssen wir
ihr grosse Liebkosungen erweisen."
Nachdem sie diesen Entschluss gefasst hatten, so gingen sie wieder hinein und erwiesen
ihrer Schwester so viel Freundschaft, dass die Schöne vor Freuden darüber weinte. Als
die acht Tage vorbei waren, so rissen sich die beiden Schwestern die Haare aus dem Kopfe
und stellten sich über die Abreise so betrübt, dass sie versprach, sie wollte noch acht
Tage dableiben.
Aber dann dachte die Schöne an den Kummer, den sie ihrem armen Tier verursachen
würde, das sie von ganzem Herzen liebte, und es wurden ihr Zeit und Weile lang, weil sie
es nicht mehr sah. In der zehnten Nacht, die sie bei ihrem Vater zubrachte, träumte ihr,
sie wäre in dem Garten des Palastes und sähe das Tier auf dem Rasen liegen, das in dem
Augenblick sterben wollte und ihre Undankbarkeit beklagte.
Die Schöne wachte darüber auf und vergoss Tränen. "Bin ich nicht recht
boshaft", sagte sie, "dass ich einem Tiere Kummer verursache, das so viele
Gefälligkeit für mich hat? Ist es seine Schuld, dass es so hässlich ist und so wenig
Geist hat? Es ist gut; das ist besser als alles übrige. Warum habe ich das Ungeheuer
nicht heiraten wollen? Ich würde mit ihm glücklicher sein als meine Schwestern mit ihren
Männern. Weder die Schönheit noch der Witz eines Mannes machen eine Frau vergnügt, dur
die Güte seines Gemüts, die Tugend, die Gefälligkeit tun es, und das Tier hat alle
diese guten Eigenschaften. Ich liebe es nicht, aber ich habe Hochachtung und Freundschaft
für es. Wohlan, ich will es nicht unglücklich machen; ich würde mir meine Undankbarkeit
mein ganzes Leben lang vorwerfen."
Bei diesen Worten stand die Schöne auf, legte ihren Ring auf den Tisch und ging wieder
zu Bette. Kaum war sie darinnen, so schlief sie ein, und als sie am Morgen aufwachte, so
sah sie mit vieler Freude, dass sie wieder in dem Palast des Tiers war. Sie kleidete sich
prächtig an, damit sie dem Ungeheuer gefallen möge, und es wurden ihr den ganzen Tag
Zeit und Weile bis auf den Tod lang, während sie wartete, dass es neun Uhr abends würde.
Allein, es schlug neun, aber das Tier erschien nicht. Die Schöne befürchtete nunmehr,
sie hätte seinen Tod verursacht. Sie lief durch den ganzen Palast und erhob ein grosses
Geschrei; sie war in Verzweiflung.
Nachdem sie das Ungeheuer überall gesucht hatte, erinnerte sie sich ihres Traumes und
lief in den Garten, wo sie es im Schlafe gesehen hatte. Sie fand das arme Tier ohne
Bewusstsein ausgestreckt liegen und glaubte, es wäre tot. Sie fiel auf dessen Leib, ohne
vor seiner Gestalt einen Abscheu zu haben, und als sie fühlte, dass sein Herz noch
schlug, so nahm sie Wasser aus dem Graben und schüttete es ihm auf den Kopf. Das Tier
schlug die Augen auf und sagte zu ihr: "Sie haben Ihr Versprechen vergessen: der Gram
darüber, dass ich Sie verloren hatte, hat mich den Entschluss fassen lassen, mich zu Tode
zu hungern. Ich sterbe aber zufrieden, weil ich das Vegnügen habe, Sie noch einmal
wiederzusehen."
"Nein, mein liebes Tier, Sie sollen nicht sterben", sagte die Schöne zu ihm,
"Sie sollen leben und mein Ehegemahl werden; in diesem Augenblick gebe ich Ihnen
meine Hand, und ich schwöre es, ich will nur die Ihrige sein. Ach, ich glaubte, ich
hätte bloss Freundschaft für Sie; der Schmerz aber, den ich empfinde, zeigt mir, dass
ich nicht würde leben können, wenn ich Sie nicht sähe."
Kaum hatte die Schöne diese Worte ausgesprochen, so sah sie das Schloss im Lichte
schimmern; die Feuerwerke, die Musik, alles kündigte ihr ein Fest an. Alle diese
Schönheiten aber fesselten ihre Blicke nicht. Sie wandte sich wieder zu ihrem geliebten
Tier, um das sie sich ängstigte. Wie gross war aber ihr Erstaunen! Das Tier war
verschwunden, und sie sah nur einen Prinzen, schöner als Amor selbst, zu ihen Füssen,
welcher ihr dankte, dass sie seine Bezauberung aufgelöst hätte.
Obgleich dieser Prinz alle ihre Achtung verdiente, so konnte sie sich doch nicht
enthalten, ihn zu fragen, wo das Tier wäre?
"Sie sehen es hier zu Ihren Füssen", sagte der Prinz zu ihr. "Eine
boshafte Fee hatte mich verwünscht, so lange unter dieser Gestalt zu bleiben, bis ein
schönes Frauenzimmer sich's gefallen liesse, mich zu heiraten, und sie hat mir verboten,
meinen Geist zu zeigen. Es ist also niemand in der Welt so gütig gewesen und hat sich von
meinen guten Eigenschaften rühren lassen als Sie, und ich kann mich des Dankes, den ich
Ihnen schulde, nicht einmal dadurch entledigen, dass ich Ihnen meine Krone anbiete."
Die Schöne war auf eine angenehme Art erstaunt und reichte dem Prinzen die Hand, um
ihn aufzuheben. Sie gingen zusammen auf das Schloss, und die Schöne wäre vor Freude fast
gestorben, als sie in dem grossen Saale ihren Vater und ihre ganze Familie fand, welche
die schöne Dame, die ihr im Traume erschienen war, in das Schloss gebracht hatte.
"Schöne", sagte diese Dame zu ihr, die eine grosse Fee war, "empfangen
Sie die Belohnung Ihrer guten Wahl. Sie haben der Schönheit und dem Geist die Tugend
vorgezogen. Sie verdienen, alle diese Eigenschaften in einer und derselben Person
vereinigt zu finden. Sie werden eine grosse Königin werden; ich hoffe, der Thron wird
Ihre Tugenden nicht zerstören."
"Was euch aber anbetrifft, ihr beiden Weiber", sagte die Fee zu den beiden
Schwestern der Schönen, "so kenne ich euer Herz und alle Bosheit, die es in sich
schliesst. Werdet zwei Bildsäulen, behaltet aber alle eure Vernunft unter dem Stein, der
euch umhüllen wird. Ihr sollt an der Türe des Palastes eurer Schwester stehenbleiben,
und ich lege euch keine andere Strafe auf, als dass ihr Zeuginnen ihres Glücks sein
sollt. Ihr werdet nicht eher wieder zu eurem vorigen Stande kommen können, als in dem
Augenblicke, da ihr eure Fehler erkennen werdet. Ich fürchte, ihr werdet wohl immer
Bildsäulen bleiben. Man bessert sich von dem Hochmute, dem Zorne, der Gefrässigkeit und
der Trägheit; die Bekehrung eines boshaften und neidischen Herzens aber ist eine Art von
Wunder."
In dem Augenblicke tat die Fee einen Schlag mit ihrer Rute, und alle diejenigen, die in
dem Saale waren, wurden in das Königreich des Prinzen versetzt. Seine Untertanen sahen
ihn mit Freuden, und er vermählte sich mit der Schönen, die mit ihm sehr lange und in
vollkommenem Glück lebte, weil es auf die Tugend gegründet war.
Friedmar Apel und Norbert Miller: Das Kabinett der Feen: Französische Märchen
des 17. und 18. Jahrhunderts. Darmstadt 1984, p. 712 ff. (AT 425C, Frankreich,
Jeanne-Marie Leprince de Beaumont)
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