Die Seidenspinnerin
Es war einmal ein Bauer, der fuhr in's Holz und nahm seine älteste Tochter mit sich,
dass sie ihm hülfe bei der Arbeit. Da es nun aber sehr heiss war, hatte er seinen Rock
ausgezogen und ihn auf's Gras gelegt. Als er aber fertig war, heisst er seine Tochter ihn
holen. Wie die nun hinkommt, liegt auf dem Rock ein Würmchen, und da mag sie ihn nicht
aufheben, sondern läuft zurück zum Vater und fragt ihn, was sie tun solle, aber der
Vater sagt, was sie sich doch vor einem kleinen Würmchen fürchte, so solle es nur
herunterwerfen und den Rock bringen. So tut sie denn auch, und sie fahren darauf heim.
Andern Tags fährt der Bauer wieder in's Holz und nimmt seine zweite Tochter mit, da
geht alles ebenso, sie wirft zuletzt das Würmchen von dem Rock herunter und dann fahren
sie heim.
Am dritten Tag soll die erste wieder mitfahren. Da bittet die dritte, der Vater möge
sie doch mitnehmen, sie wolle ja alles ebenso gut machen wie die andern; die aber lachen
sie aus und sagen, was sie doch wohl helfen wolle, denn sie achteten sie immer sehr gering
und hielten sie im Haus als Aschenbrödel, aber sie bat den Vater doch so sehr, dass er
endlich sagte, sie solle mitfahren.
Als sie nun wieder heim wollen, sagt ihr der Vater, sie solle ihm den Rock holen, da
geht sie hin und findet das Würmchen wieder da; als sie das sieht, sagt sie: "Du
liebes Würmchen, du möchtest wohl gern ein weiches Lager haben?" und das Würmchen
sieht sie mit so hellen und freundlichen Augen an, als wollte es ja! sagen.
Drum trägt sie Moos zusammen und bereitet ihm ein schönes weiches Lager, und als sie
es darauf legt, fängt das Würmchen an zu sprechen und fragt sie: "Möchtest du mir
wohl dienen? Du brauchst mich nur alle Tage ein Paar Stunden herumzutragen, und hast
weiter nichts zu tun, aber du bekömmst dafür gutes Lohn und Essen und Trinken voll auf,
und wenn du es drei Jahre hintereinander getan hast, dann bin ich erlösst, denn ich bin
ein verwünschter Prinz, und dann will ich dich heiraten!"
Da sagte das Mädchen, das wolle sie tun, und darauf sprach das Würmchen: "So
komm morgen wieder um dieselbe Zeit hierher."
Darauf fuhr das Mädchen mit ihrem Vater nach Hause, und als sie dort ankam, sagte sie
den Schwestern: "Ich bin nun lange genug daheim gewesen, nun will ich mir auch einmal
was in der Welt versuchen."
Da lachten sie die andern aus und sagten: "Du Aschenbrödel, wer kann dich wohl
brauchen?" Aber das Mädchen sagte, sie habe schon einen Dienst und bat ihren Vater,
dass er sie möge ziehen lassen; der wollte zwar erst seine Einwilligung nicht geben, denn
wenn sie auch nicht viel verstand, so konnte sie doch gut arbeiten, aber endlich gab er
ihren Bitten doch nach und da zog sie am andern Tage ab.
Als sie nun in den Wald kam, fand sie auch bald das Würmchen wieder und das freute
sich gar zu sehr, dass sie gekommen sei, und sagte ihr, nun solle sie es nur noch etwas
herumtragen. Das tut sie denn auch, und wie die Zeit um ist, da steht auf einmal ein
prächtiges Schloss da, und in dem Schlosse ist ein grosser Saal, darin steht eine grosse
Tafel, auf der steht Essen und Trinken, so schön wie sie es in ihrem ganzen Leben noch
nicht gehabt hat, und da isst und trinkt sie sich recht satt und geht dann zu Bette.
Und so geht es nun alle Tage, sie trägt das Würmchen ein Paar Stunden herum und
nachher geht sie in's Schloss, wo ihr alles aufwartet und sie prächtig bewirtet wird.
Als nun ein Jahr um ist, bittet sie das Würmchen um die Erlaubniss, ihren Vater
besuchen zu dürfen, und da erlaubt es ihr das Würmchen, sagt aber, sie solle ja zur
rechten Zeit wieder da sein. Da nimmt sie denn vieles Gold und andere kostbare Dinge für
ihren Vater und ihre Geschwister mit und geht nach Hause; als sie aber da mit all dem
Reichtum ankommt, wollen die Schwestern wissen, wo sie diese Schätze her habe und bei wem
sie diene, aber sie sagt es ihnen nicht, denn das hatte ihr das Würmchen verboten, und
soviel sie sie auch schelten und schlagen, sie verrät es nicht.
Am andern Tage geht sie darauf wieder zurück in den Wald zum Würmchen und trägt es
wieder alltäglich ein Paar Stunden herum; als aber das zweite Jahr um ist, besucht sie
wieder ihren Vater und ihre Schwestern und ebenso im dritten Jahre; als sie da aber vom
Würmchen scheidet, befiehlt es ihr, ja zur rechten Zeit wiederzukommen, und das
verspricht sie auch.
Der Vater und die Schwestern aber verlangen wieder zu wissen, wo sie diene, und wolllen
sie gar nicht fortlassen, so dass sie sich endlich mit Gewalt losmacht, und als sie nun in
den Wald kommt, da ist es doch etwas zu spät geworden und kein Würmchen mehr da. Traurig
sieht sie sich nach allen Seiten um, aber das Schloss ist verschwunden und das Würmchen
auch, denn das war unterdess erlöst und wieder König geworden, und war schon wieder
daheim in seinem Königreich.
Da beschloss das Mädchen, in die weite Welt zu gehen und es zu suchen, und als sie so
fortging, kam sie im Walde zu einer Hütte, in der wohnte eine alte Frau, die bat sie um
ein Nachtlager. Da nahm sie die Alte freundlich auf, und als sie des andern Morgens wieder
aufbrach, schenkte sie ihr noch drei Äpfel und sagte ihr, in dem einen sei eine goldene
Spindel, in dem zweiten ein goldener Haspel, in dem dritten ein goldenes Spinnrad, und
verkündete ihr zuletzt noch alles, was ihr begegnen würde und was sie dann tun solle.
Da bedankte sich das Mädchen schön bei der freundlichen Alten und zog weiter, und als
sie nun schon viele Tage und eine weite, weite Strecke gegangen war, da kam sie an den
Glasberg. Nun wusste sie gar nicht, wie sie hinüberkommen sollte, denn er war so glatt,
dass sie immer wieder hinabrutschte; aber endlich sah sie nicht weit davon eine Schmiede,
dahinein ging sie, liess sich an beiden Händen und Knieen beschlagen und kam nun
glücklich über den Berg.
Darauf gelangte sie in eine grosse Stadt, da wohnte der König, der das Würmchen
gewesen war, welches sie alle Tage herumgetragen hatte, aber er war schon verheiratet und
hatte eine sehr schöne Gemahlin, und hatte das Mädchen lange vergessen.
Da machte sie sich unkenntlich und ging in's Schloss und vermietete sich dort als
Seidenspinnerin. Am ersten Tage öffnete sie nun den ersten Apfel, welchen ihr die Alte im
Walde geschenkt hatte, und nahm die goldene Spindel heraus; als die Königin diese sah,
gefiel sie ihr über die Massen und sie fragte das Mädchen, ob sie sie nicht verkaufen
wolle.
"Nein", sagte das Mädchen, "zu verkaufen ist sie nicht, aber zu
verdienen: lass mich eine Nacht bei dem Könige schlafen, so ist sie dein."
Das wird schon gehen, dachte die Königin und versprach es ihr. Als nun der Abend
herankam, gab sie dem Könige einen Schlaftrunk ein, und als er nun ganz fest schlief,
holte sie die Seidenspinnerin und führte sie in des Königs Kammer.
Diese aber setzte sich an sein Bett und jammerte und klagte: "Nun sehe ich doch,
dass Undank der Welt Lohn ist, drei Jahre lang habe ich dich als Würmchen herumgetragen,
habe deinethalb vom Vater und den Schwestern böse Scheltworte und Schläge ausgehalten,
habe mich an Händen und Knieen beschlagen lassen, um über den Glasberg zu kommen, und
nun ist doch alles vergessen, und du hast eine andere Gemahlin."
Aber der König schlief so fest, dass er kein Wort von alle dem vernahm, und als es
Morgen wurde, kam die Königin und führte die Seidenspinnerin wieder hinaus. Da war sie
gar betrübt und nahm den zweiten Apfel, brach ihn auf und holte den goldenen Haspel
hervor; als den die Königin sah, gefiel er ihr wieder so über all Massen, dass sie das
Mädchen fragte, ob sie ihn verkaufen wollte; aber die sagte wieder, zu verkaufen sei er
nicht, aber wohl zu verdienen: wenn sie noch eine Nacht bei dem Könige schlafen dürfe,
solle sie den Haspel haben. Da versprach's ihr die Königin und es ging alles wie in der
ersten Nacht: Der König schlief so fest, dass er kein Wort vernahm; aber einer von des
Königs Dienern hatte gesehen, wie die Königin die Spinnerin in des Königs Schlafkammer
geführt hatte, und da war er neugierig geworden und hatte gehorcht und alles gehört, was
die Seidenspinnerin gesprochen und das erzählte er am andern Tage dem Könige.
Die Königin hatte die Seidenspinnerin aber am andern Morgen wieder aus der Königs
Schlafkammer geführt und diese hatte betrübt ihren letzten Apfel mit dem goldenen
Spinnrade geöffnet, und als die Königin das gesehn, hatte sie ihr erlaubt noch eine
Nacht bei dem Könige zu schlafen, wenn sie ihr das goldene Spinnrad schenken wolle. Das
tat sie gern, und als es Abend wurde, ging die Königin wieder hin und brachte ihrem
Gemahl den Schlaftrunk, der tat aber nur, als tränke er davon, und goss ihn heimlich aus,
legte sich darauf nieder und stellte sich, als schliefe er. Darauf ging die Königin hin,
holte die Seidenspinnerin und führte sie in des Königs Schlafkammer. Da setzte sie sich
traurig an des Königs Bett und jammerte und klagte: "Nun sehe ich doch, dass Undank
der Welt Lohn ist; ich habe dich als Würmchen drei Jahre lang herumgetragen, habe
deinethalb vom Vater und den Schwestern Scheltworte und Schläge ausgehalten, habe mich an
Händen und Knieen beschlagen lassen, um über den Glasberg zu kommen, und nun ist doch
alles vergessen, und du hast eine andere Gemahlin."
Das hörte der König alles still mit an und tat, als wenn er weiter schliefe, am
andern Tage aber liess er ein grosses Gastmahl anrichten, und die Seidenspinnerin musste
auch herbeikommen und sich ihm zur Rechten setzen. Als nun alles bei Tafel sass, sagte er:
"Ich will euch eine Frage vorlegen, darauf gebt mir frei und offen Antwort. Vor
Jahren habe ich den Schlüssel zu meinem Spinde verloren, und liess mir deshalb einen
neuen machen; jetzt aber habe ich den alten wiedergefunden, welchen soll ich nun
gebrauchen?"
"Den alten", sagten alle wie aus einem Munde, "denn der passt doch immer
besser."
"Nun", sagte der König, "die Seidenspinnerin, welche hier zu meiner
Rechten sitzt, die hat mich, als ich verwünscht und ein Würmchen war, drei Jahre lang
täglich gewartet und geplflegt und viel Leid und Elend um mich erduldet, drum will ich
mich von meiner Gemahlin so lange scheiden, als jene lebt, und sie heiraten."
Und das tat er denn auch und so ward die Seidenspinnerin Königin.
A. Kuhn und W. Schwartz: Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche aus
Meklenburg, Pommern, der Mark, Sachsen, Thüringen, Braunschweig, Hannover, Oldenburg und
Westfalen. Aus dem Munde des Volkes gesammelt. Leipzig 1848, p. 347 ff. (AT 425A,
Deutschland, Havelland)
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