Die weissen Vögel vom Arpsee
Ein armer Geissbub trieb alle Tage seine Ziegenherde zu dem Arpsee hinauf. Als er einst
zur Mittagszeit sein schwarzes Ledertäschchen öffnete, um Mahlzeit zu halten, flogen
drei weisse Vögel heran und liessen sich auf dem See nieder. Solch grosse Vögel hatte er
noch nie gesehen. Ihr Federkleid war schneeweiss, der Hals lang und dünn und der Schnabel
gelb. Sie schwammen eilig gegen ihn heran und schienen vor ihm keine Furcht zu hegen.
Die Vögel gefielen dem Geissbuben sehr, und er ergriff Steine, um den einen oder
andern totzuwerfen; er traf aber nicht. Die Vögel liessen sich durch sein böses Vorhaben
nicht erschrecken und rückten dem Ufer immer Näher. Da trat er ans Wasser heran, ergriff
den Vogel, der ihm zunächst war, am Halse und zerrte ihn ans Land.
Aber im Nu liess er ihn wieder fahren und fuhr zusammen wie noch nie in seinem Leben,
denn der Vogel fing an zu reden: "Ach, was willst du mich so grob behandeln. Ich bin
nur der geringste der drei Vögel, und wir sind gar keine Vögel, sondern verwunschene
Jungfrauen. Der schöne Schwan mit dem goldenen Schnabel ist eine Prinzessin vom Land der
Radamanten. Wir zwei andern sind Kammerzofen, und wir sind alle drei von einem
Hexenmeister verwandelt worden, weil die Prinzessin nicht heiraten wollte. Jetzt müssen
wir so lange Vögel bleiben, bis wir drei Sachen erhalten. Drei Pflanzen müssen es sein,
und wenn du uns diese verschaffen kannst, so werden wir wiederkommen und dann bald erlöst
werden!"
"Nennt mir die drei Pflanzen", sagte der Bub.
"Naterkraut, Beldrian und Nachtschatten müssen es sein."
Der Geisshirt sagte, er kenne die Kräuter nicht, aber seine Mutter sei
Kräutersammlerin und werde sie schon kennen.
"So geh und komm bald wieder", sagte der Schwan und schwamm zu den Gefährten
zurück. Dann flogen sie alle drei zusammen auf und verschwanden hinter dem Berge.
Der Bub trieb die Herde bald darauf nach Hause und erzählte seiner Mutter, was ihm
heute begegnet sei. Drei schöne weisse Vögel seien auf dem Arpsee hergeschwommen, er
habe den einen erwischt, und der habe ihn angesprochen und die drei Kräutlein von ihm
verlangt zur Erlösung. Die Mujtter sagte: "Wenn nur das fehlt, so ist bald geholfen.
Ich kenne die Kräuter wohl, sie wachsen hier in der Nähe."
Sie sammelte sie noch im Verlauf des Abends und legte sie zu der Speise ins schwarze
Täschlein. Am nächsten Morgen zog der Bub mit den Ziegen wieder hinauf zum See. Als er
aufblickte, flogen die Vögel schon daher, liessen sich auf dem blauen kühlen Wasser
nieder und schwammen eilig auf ihn zu. Der Bub zog die drei Kräutlein heraus. Die
Schwäne ruderten mit aller Kraft zu ihm hin, und er steckte jedem eines der Kräutlein in
den Schnabel.
Der eine fing wieder an zu reden und sagte: "Wir danken dir sehr, lieber Bub, für
den grossen Dienst, den du uns erwiesen hast. Wir fliegen jetzt wieder zurück ins Land
der Radamanten, wo man uns mit Hilfe der drei Kräutlein erlösen wird. Der Zauberer aber
muss sterben. Wenn du willst, so nehmen wir dich mit. Du brauchst nur zwei von uns an den
Flügeln zu ergreifen, dann geht es durch die Lüfte, und bevor die Sonne sinkt, sind wir
zu Hause!"
Der Geissbub sagte: "Ich danke schön, ich bleibe lieber Geissbub im Walliserland,
als dass ich mit euch zu den Radamanten fliege!"
Da flogen die Vögel auf und verschwanden.
Hanns Bächtold: Schweizer Märchen. Basel 1916. p. 201 ff. (AT 400, Schweiz)
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