Die Wildgänse
Es lebte einmal ein junges Mädchen, dessen Eltern angesehene, wohlhabende Leute waren.
Dieses Mädchen liebte einen braven und tüchtigen, aber armen jungen Mann von ganzem
Herzen, und auch er konnte sich ein Leben ohne das geliebte Mädchen nicht mehr
vorstellen. So beschlossen sie, einander für immer anzugehören und zu heiraten.
Die Mutter des Mädchens aber, die sich für ihre Tochter einen ganz anderen Bräutigam
wünschte, einen vermögenden, aus vornehmer Familie, weigerte sich hartnäckig, ihre
Einwilligung zu dieser Heirat zu geben. Das Mädchen jedoch liess sich durch nichts davon
abbringen, das ihrem Geliebten gegebene Jawort einzulösen.
In der damaligen Zeit, und es ist schon lange, lange her, geschah es noch häufig, dass
Flüche, im Zorne ausgesprochen, auch tatsächlich in Erfüllung gingen.
Als nun eines tages die Mutter des Mädchens wieder vergebens versucht hatte, ihre
Tochter von dem Vorhaben, diesen Jüngling zu heiraten, abzubringen und sie die
Erfolglosigkeit all ihrer Bitten und Drohungen endgültig erkennen musste, geriet sie in
solche Aufregung und Wut, dass sie den Fluch ausstiess: "Eher möge sich unsere ganze
Familie in Wildgänse verwandeln, als dass ich es zulasse, dass dieser Bursche mein
Schwiegersohn werde!"
Kaum hatte die Mutter diese Worte ausgesprochen, da geschah etwas Schreckliches.
Mutter, Vater sowie alle ihre Söhne und Töchter begannen sich zu verwandeln. Aus den
Armen wurden Flügel, die Körper bedeckten sich mit Federn, die Hälse wurden lang und
dünn wie bei Gänsen, und so verwandelte sich rasch ein Teil ihres Körpers nach dem
anderen. Im Nu war alles menschliche Aussehen verschwunden, und anstatt der Familie stand
plötzlich eine Schar Wildgänse da. So ging also der Fluch der Mutter genau in
Erfüllung.
Die Wildgänse breiteten nun ihre Flügel aus, erhoben sich von der Erde und flogen
hoch in die Luft, um gemeinsam in eine andere Gegend, zu den grossen Seen der Wildgänse,
zu fliegen, wo sie fortan mit ihren Artgenossen gemeinsam leben könnten.
Nur das Mädchen und ihr Geliebter, die wie die anderen auch in Wildgänse verwandelt
waren, blieben allein zurück. Sie flogen gemeinsam zu einem warmen See, dessen Wasser
auch im Winter nicht zufror, liessen sich dort nieder und führten nun in inniger
Gemeinsamkeit ein freies, glückliches Dasein.
In der Nähe dieses Sees, wo sie lebten, war ein Forsthaus, in dem ein Jäger wohnte.
Als er auf die Jagd ging, bemerkte er die neuangesiedelten Wildgänse und beobachtete sie
öfters. Nach einiger Zeit fiel es ihm ein, dass er doch einen guten Gänsebraten gerne
essen möchte. Er nahm also seine Flinte und ging zu dem See. Als er in die Nähe der
Gänse kam, flogen diese auf. Er zielte auf eine von den beiden und schoss. Die getroffene
Gans viel herunter und blieb an einem Strauch hängen. Da nahm der Jäger ein Boot, fuhr
zu dem Strauch, nahm die gans herunter und trug seine Beute heim.
Zu Hause stellte er fest, dass die Gans gar nicht tot, sondern nur betäubt war. Er
legte sie zum Kamin, damit sie sich erholte, und überlegte, womit er sie am besten
füttern sollte, um zum kommenden Weihnachtsfeste einen guten Braten zu haben. Er war
nämlich Junggeselle, hatte bloss ein recht bescheidenes Einkommen und musste ganz allein
für sich sorgen und den Haushalt bestellen. Begreiflich, dass ein feiner Braten für ihn
eine grosse Freude bedeutete.
Als er am nächsten Tage seinen Rundgang im Walde beendet hatte und nach Hause
zurückkam, setllte er fest, dass jemand seine kleine Wonung in Ordnung gebracht hatte.
Sein Bett war gemacht, der Fussboden gekehrt, das schmutzige Geschirr abgewaschen, Staub
abgewischt, und sogar von den Wänden waren die Spinnenweben entfernt worden. Ebenso war
der Tisch gedeckt, und das Essen, das fertig darauf stand, duftete verführerisch. Da
wunderte er sich und wusste keine Erklärung dafür. Als er wegging, hatte er bestimmt das
Häuschen gut verschlossen und kein Fremder konnte hinein. Wie konnte nun all das
geschehen sein? Es schien ihm wie Zauberei.
Am nächsten Tage stieg er auf den Speicher und bohrte ein Loch in die Decke, um durch
dieses zu sehen, was in seiner Wonung vorginge. Am folgenden Tage tat er, als ob er
weggehen würde, schlich ganz leise auf den Speicher, legte sich auf den Boden und mit
einem Auge schaute er, voll Neugier und Spannung, durch das am Vortage geborhte Loch in
die Wohnung hinunter.
Er brauchte gar nicht lange zu warten, da sah er, wie die Gans von ihrem Liegeplatz am
Kamin aufstand, in die Mitte des Zimmers ging, sich dort die Federn vom Leibe schüttelte
und sogleich zu einem wunderschönen Mädchen wurde. Es fing nun an aufzuräumen, kehrte,
wirtschaftete und bereitete das Essen vor. So hatte der Jäger das Rätsel gelöst. Er
ging nun fort, um sinen Dienst im Walde zu tun, und als er abends wieder heimkam, war
wieder die Wohnung schön aufgeräumt, das Bett gemacht, und das schmackhaft zubereitete
Essen stand auf dem gedeckten Tisch, und die Gans sass auf ihrem Platz am Kamin.
Der Jäger war glücklich, und es gefiel ihm sehr, eine so gute Hausfrau gefunden zu
haben. Er wollte aber anstatt der Gans das schöne Mädchen bei sich behalten und es
heiraten. Lange überlegte er, was er machen könnte, um die Rückverwandlung des
wunderschönen Mädchens in eine Gans zu verhindern und unmöglich zu machen.
Eines Tages tat er so, als ob er in den Wald ginge, um dort seine Runde zu machen,
blieb aber in Wirklichkeit vor der Tür stehen und schaute durch das Schlüsselloch.
Sobald nun die Gans von ihrem Plätzchen am Kamin aufstand und in die Mitte des Zimmers
ging und dort die Federn abschüttelte, sprang er schnell in das Zimmer hinein und hielt
es fest. Das Mädchen wollte sich aus seinen Armen befreien, aber er hielt es fest und
liess es nicht los. Dann klaubte er die Federn, die am Boden herumlagen, auf, schloss
diese in einen Schrank in der Kammer ein und versteckte den Schlüssel. Auf diese Weise
blieb das Mädchen in seiner menschlichen Gestalt bei ihm, denn es konnte seine Federn
nicht wieder anlegen.
Nach einiger Zeit heirateten sie. Die junge Frau hatte zwar durch den Verlust der
Federn vergessen, dass sie verflucht gewesen war, als Gans zu leben, sowie, dass sie mit
ihrem früheren Geliebten am nahegelegenen See gelebt hatte. Ihr war nur eine unbestimmte,
grosse Sehnsucht nach einem gewissen Etwas geblieben, das sie zwar fühlte, doch nicht
beschreiben und erklären konnte.
Sie sass sehr oft vor dem Hause auf einer Bank und schaute sehnsüchtig nach dem
Himmel. Oft sassen sie auch gemeinsam vor dem Hause. Ihr Mann schlang dann zärtlich seine
Arme um sie und war glücklich wie immer, diese hübsche, brave Frau gefunden zu haben.
Oft war er müde von der Jagd bei der wunderbaren Stille ringsum eingeschlafen und hielt
sie weiter im Arme, seinen Kopf an ihre Schulter gelehnt. Die Frau sass dann bewegungslos,
um ihn nicht zu wecken, und sah sinnend und verträumt zum Himmel. Auch heute war es
wieder so, doch da geschah etwas Eigenartiges.
Es war die Zeit, in welcher die Wildgänse nach dem Süden zogen, um den Winter in
warmen sonnigen Ländern zu verbringen. Als eine Schar von Wildgänsen gerade über das
Ehepaar hinwegflog, vernahm die Frau etwas wie Stimmen von oben. Die Gänse, die früher
ihre Schwestern gewesen waren, schnatterten ihr zu: "Unser Schwesterlein im Arm ihres
Mannes! Komm mit, komm mit mit uns!"
Sie antwortete: "Gott mit euch! Viel Glück auf dem Flug! Ich kann nicht mit euch
fliegen!"
Danach kamen wieder zwei andere Gänse angeflogen. Es waren die beiden Brüder. Sie
schnatterten ihr zu: "Unser Schwesterlein im Arm ihres Mannes! Komm mit mit uns,
Schwesterlein!"
Sie antwortete wieder: "Gott mit euch! Viel Glück auf dem Flug! Gute Reise! Ich
kann nicht mit euch fliegen!"
Hinterher flogen zwei weitere Gänse. Es waren Vater und Mutter der Frau. Auch sie
riefen ihr zu: "Unser Töchterlein im Arm ihres Mannes! Komm mit mit uns,
Töchterlein! Komm mit!"
Da antwortete sie wieder: "Gott führe euch, Gott führe euch! Ich kann nicht mit
euch fliegen!"
Zum Schluss flog eine einsame Gans vorbei. Das war der frühere Geliebte der Frau, mit
dem sie als Wildgans ein so glückliches Leben am See geführt hatte. Mit klagend
wehmütiger Stimme schnatterte er ihr zu: "Mein Liebling in den Armen eines Jägers!
Komm mit mit mir, mein Allerliebstes! Komm mit, Geliebte!"
Die Rufe ihrer Schwestern, ihrer Brüder und die ihrer Eltern klangen wie eine
entfernte, doch völlig unklare Erinnerung an ihre Ohren. In dem Moment aber, als sie den
Schrei ihres Geliebten vernommen hatte, erwachte sie wie aus einem tiefen Traum: Auch das
Dunkel ihres Vergessens war gerissen, sie sah und fühlte wieder klar und wusste, dass sie
sich frei machen und mit ihrem Geliebten wegfliegen musste.
Sie erinnerte sich ihrer im Kasten aufbewahrten Federn. Der Jäger, der sich seiner
Frau sicher fühlte, verschloss jetzt den Schrank nicht mehr, so konnte sie leicht ihr
Gefieder wiederhaben. Sie hob behutsam die Hände ihres Mannes, die sie umschlungen
hielten, von ihren Schultern und glitt us seinen Armen heraus. Dann lief sie in die
Kammer, wo die Federn, die sie einmal getragen hatte, im Schrank lagen, legte sie an, und
im Nu war sie wieder verwandelt in eine Wildgans. Durch das offene Fenster flog sie nun
hoch in die Luft, um ihrem Geliebten auf seiner Reise nach dem Süden zu folgen.
Ewa Bukowska-Grosse und Erwin Koschmieder: Polnische Volksmärchen.
Köln 1981, Nr. 20. (AT 400, Polen)
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