Der Wunderbaum
  
  Der Hirtenknabe - ob er gerade der Sohn des armen Mannes war, den unser Herr
  Christus und Petrus gesegnet hatten, weiss ich nicht - erblickte eines Tages, als er die
  Schafe weidete, auf dem Felde einen Baum, der war so schön und gross, dass er lange Zeit
  voll Verwunderung dastand und ihn ansah. Aber die Lust trieb ihn hinzugehen und
  hinaufzusteigen; das wurde ihm auch sehr leicht, denn an dem Baume standen die Zweige
  hervor wie Sprossen an einer Leiter. Er zog seine Schuhe aus und stieg und stieg in einem
  fort neun Tage lang. Siehe da kam er nur einmal in ein weites Feld, da waren viele
  Paläste von lauter Kupfer, und hinter den Palästen war ein grosser Wald mit kupfernen
  Bäumen, und auf dem höchsten Baume sass ein kupferner Hahn; unter dem Baume war eine
  Quelle von flüssigem Kupfer, die sprudelte immerfort, und das war das einzige Getöse;
  sonst schien alles wie tot, und niemand war zu sehen, und nichts regte und rührte sich.
  Als der Knabe alles gesehen, brach er sich ein Zweiglein von einem Baum, und weil seine
  Füsse vom langen Steigen müde waren, wollte er sie in der Quelle erfrischen. Er tauchte
  sie ein, und wie er sie herauszog, so waren sie mit blankem Kupfer überzogen; er kehrte
  schnell zurück zum grossen Baum; der reichte aber noch hoch in die Wolken, und kein Ende
  war zu sehen. "Da oben muss es noch schöner sein!" dachte er und stieg nun
  abermals neun Tage aufwärts, ohne dass er müde wurde, und siehe da kam er in ein offenes
  Feld, da waren auch viele Paläste, aber von lauter Silber, und hinter den Palästen war
  ein grosser Wald mit silbernen Bäumen, und auf dem höchsten Baum sass ein silberner
  Hahn; unter dem Baum war eine Quelle mit flüssigem Silber, die sprudelte immerfort, und
  das war das einzige Getöse, sonst lag alles wie tot, und niemand war zu sehen, und nichts
  regte und rührte sich.
  
  Als aber der Knabe alles gesehen hatte, brach er sich ein Zweiglein von einem Baum und
  wollte sich aus der Quelle die Hände waschen; wie er sie aber herauszog, waren sie von
  blinkendem Silber überzogen. Er kehrte schnell zurück zum grossen Baum, der reichte noch
  immer hoch in die Wolken, und es war noch kein Ende zu sehen. "Da oben muss es noch
  schöner sein!" dachte er und stieg abermals neun Tage aufwärts, und siehe da war er
  im Wipfel des Baumes, und es öffnete sich ein weites Feld; darauf standen lauter goldne
  Paläste, und hinter den Palästen war ein grosser Wald mit goldnen Bäumen, und auf dem
  höchsten Baum sass ein goldner Hahn; unter dem Hahn war eine Quelle mit flüssigem Golde,
  die sprudelte immerfort, und das war das einzige Getöse; sonst lag alles wie tot, und
  niemand war zu sehen, und nichts regte und rührte sich. Als der Knabe alles gesehen
  hatte, brach er sich ein Zweiglein von einem Baum, nahm seinen Hut ab, bückte sich über
  die Quelle und liess seine Haare ins sprudelnde Gold hineinfallen. Als er sie aber
  herauszog, waren sie übergoldet. Er setzte seinen Hut auf, und wie er alles gesehen
  hatte, kehrte er zurück zum grossen Baum und stieg nun in einem fort wieder hinunter und
  wurde gar nicht müde. Als er auf der Erde angelangt war, zog er seine Schuhe an und
  suchte seine Schafe; doch er sah von ihnen keine Spur. In weiter Feme aber erblickte er
  eine grosse Stadt; jetzt merkte er, dass er in einem andern Lande sei. Was war zu
  tun. 
  Er entschloss sich hineinzugehen und sich dort einen Dienst zu suchen. Zuvor jedoch
  versteckte er die drei Zweiglein in seinen Mantel, und aus dem Zipfel desselben machte er
  sich Handschuhe, um seine silberigen Hände zu verbergen.
  Als er in der Stadt ankam, suchte der Koch des Königs gerade einen Küchenjungen und
  konnte keinen finden; indem kam ihm der Knabe zu Gesicht. Er fragte ihn, ob er um guten
  Lohn Dienste bei ihm nehmen wolle. Der Junge war das zufrieden unter einer Bedingung: er
  solle den Hut, den Mantel, die Handschuhe und die Stiefel nie ablegen müssen, denn er
  habe einen bösen Grind und müsste sich schämen. Das war dem Koch nicht ganz recht;
  allein weil er sonst niemanden bekommen konnte, musste er einwilligen. Er gedachte bei
  sich: "Du kannst ihn ja immer nur in der Küche verwenden, dass niemand ihn
  sieht." Das währte so eine Zeitlang. Der Junge war sehr fleissig und tat alle
  Geschäfte, die ihm der Koch auftrug, so pünktlich, dass ihn dieser sehr liebgewann. Da
  geschah es, dass wieder einmal Ritter und Grafen erschienen waren, die es unternehmen
  wollten, auf den Glasberg zu steigen, um der schönen Tochter des Königs, die oben sass,
  die Hand zu reichen und sie dadurch zu erwerben. Viele hatten es bisher vergebens
  versucht; sie waren alle noch weit vom Ziele ausgeglitscht und hatten zum Teil den Hals
  gebrochen. Der Küchenjunge bat den Koch, dass er ihm erlauben möchte, von ferne
  zuzusehen. Der Koch wollte es ihm nicht abschlagen, weil er so treu und fleissig war, und
  sagte nur: "Du sollst dich aber versteckt halten, dass man dich nicht sieht!"
  Das versprach der Junge und eilte in die Nähe des Glasberges.
  Da standen schon die Ritter und Grafen in voller Rüstung mit Eisenschuhen, und sie fingen
  bald an, der Reihe nach hinaufzusteigen; allein keiner gelangte auch nur bis in die Mitte,
  sie stürzten alle herab, und manche blieben tot liegen. Nun dachte der Knabe bei sich:
  "Wie wäre es, wenn du auch versuchtest?" Er legte sogleich Hut und Mantel und
  Handschuhe ab, zog seine Stiefel aus und nahm den kupfernen Zweig in die Hand, und ehe ihn
  jemand bemerkt hatte, war er durch die Menge gedrungen und stand am Berge; die Ritter und
  Grafen wichen zurück und sahen und staunten; der Knabe aber schritt sogleich den Berg
  hinan ohne Furcht, und das Glas gab unter seinen Füssen nach wie Wachs und liess ihn
  nicht ausgleiten. Als er nun oben war, reichte er der Königstochter demütig das kupferne
  Zweiglein, kehrte darauf sogleich um, stieg hinab, fest und sicher, und ehe sich's die
  Menge versah, war er verschwunden. 
  Er eilte in sein Versteck, legte seine Sachen an und war schnell in der Küche. Bald kam
  auch der Koch und erzählte seinem Jungen die Wunderdinge von dem schönen Jüngling mit
  den kupfernen Füssen, den silbernen Händen und den goldnen Haaren, und wie er den
  Glasberg erstiegen und ein kupfernes Zweiglein der Königstochter gereicht habe und wie er
  dann wieder verschwunden sei; dann fragte er den Jungen, ob er das auch gesehen habe. Der
  Junge sagte: "Nein, das habe ich nicht gesehen, das war ich ja selbst!" Aber der
  Koch lachte über den dummen Einfall und erwiderte im Scherz: "Na, da müsste ich
  dann ein grosser Herr werden!"
  Am andern Tage wollten es mehrere Ritter und Grafen wieder versuchen und versammelten sich
  vor dem Glasberg. Der Junge bat den Koch abermals, er möchte ihm erlauben, aus der Ferne
  zuzusehen. Der Koch konnte es ihm nicht abschlagen und sagte nur: "Du sollst dich
  aber versteckt halten, dass niemand dich sieht!" Das versprach der Junge und eilte an
  seinen gestrigen Platz. Die Ritter fingen an hinaufzusteigen, allein vergebens: sie
  stürzten alle herab, und mehrere blieben tot. Der Junge zögerte nicht länger und
  versuchte zum zweitenmal. Er hatte schnell seine Kleider abgelegt; er nahm das silberne
  Zweiglein und schritt, ehe man es merken konnte, woher er kam, durch die Menge, und alles
  wich vor ihm zurück, und er ging ruhig und sicher den Glasberg hinan, und das Glas gab
  nach wie Wachs und zeigte die Spuren, und wie er oben war, überreichte er demütig der
  Königstochter das Zweiglein; gerne hätte sie auch seine Hand gefasst; er aber kehrte
  gleich zurück und schritt hinab und war in der Menge auf einmal verschwunden. Er warf
  seine Kleider um und eilte nach Hause. Bald kam auch der Koch und erzählte wieder von den
  Wunderdingen, von dem schönen Jüngling mit den kupfernen Füssen, den silbernen Händen,
  den goldenen Haaren und wie er hinangestiegen, der Königstochter ein silbernes Zweiglein
  gereicht, wie er herabgekommen und verschwunden sei. Er fragte seinen Jungen, ob er das
  nicht gesehen. 
  Der Junge sagte: "Nein, das habe ich nicht gesehen, das war ich selbst!" Der
  Koch lachte wieder recht herzlich und sagte im Scherz; "Da müsste ich auch ein grosser
  Herr werden!"
  Am dritten Tage wollten es einige Ritter und Grafen noch einmal versuchen und versammelten
  sich vor dem Glasberg. Der Junge bat den Koch wieder, er möchte ihm erlauben, aus der
  Ferne zuzusehen. Der Koch wollte ihm's nicht abschlagen und sagte nur; "Du sollst
  dich aber versteckt halten, dass niemand dich sieht!" Das versprach der Junge und
  eilte sogleich an seinen Platz. Die Ritter und Grafen versuchten's, aber umsonst; sie
  stürzten alle herab, und mehrere blieben tot liegen. Der Knabe dachte: "Noch einmal
  willst du es auch versuchen; er warf seine Kleider von sich, nahm das goldene Zweiglein
  und eilte, noch ehe man's merken konnte, woher er kam, durch die Menge bis zum Glasberg;
  alles wich vor ihm zurück. Da schritt er fest und sicher hinan, und das Glas gab nach wie
  Wachs und zeigte die Spuren, und als er oben war, überreichte er demütig das
  Goldzweiglein der Königstochter und bot ihr die rechte Hand; sie ergriff sie mit Freuden
  und wäre gern mit ihm den Berg hinabgestiegen. Der Junge aber machte sich frei und stieg
  allein hinunter und war wieder schnell unter der Menge verschwunden. Er legte seine
  Kleider an und eilte zurück an seinen Platz in die Küche.
  Als der Koch nach Hause kam, erzählte er von den Wunderdingen, von dem schönen Jüngling
  mit den kupfernen Füssen, den silbernen Händen, den goldnen Haaren und wie er zum
  drittenmal den Glasberg erstiegen, der Königstochter ein goldnes Zweiglein gereicht und
  ihr die Hand geboten habe, wie er aber allein wieder herabgestiegen und unter der Menge
  verschwunden sei; er fragte ihn, ob er das nicht gesehen hätte. Der Junge sagte wieder:
  "Nein, das habe ich nicht gesehen, das war ich selbst!" Der Koch lachte wieder
  über den dummen Einfall und sprach: "Da müsste ich auch ein grosser Herr
  werden!" 
  Der König aber und die Königstochter waren sehr traurig, dass der schöne Junge nicht
  erscheinen wollte. Da liess der König ein Gebot ausgehen, dass alle jungen Burschen aus
  seinem Reiche barfüssig und blosshäuptig und ohne Handschuhe vor dem König der Reihe
  nach vorübergehen und sich zeigen sollten. Sie kamen und gingen, aber der rechte, nach
  dem man suchte, war nicht unter ihnen. Der König liess darauf fragen, ob sonst kein Junge
  mehr im Reich wäre. Der Koch ging sofort zum König und sprach: "Herr, ich habe noch
  einen Küchenjungen bei mir, der mir treu und redlich dient; der ist es aber gewiss nicht,
  nach dem ihr sucht! Denn er hat einen bösen Grind, und er trat nur unter der Bedingung zu
  mir in den Dienst, dass er Handschuhe, Mantel, Hut und Stiefel nie ablegen dürfe."
  Der König aber wollte sich überzeugen, und die Königstochter freute sich im stillen und
  dachte: "Ja, der könnte es sein!" Der Koch musste dableiben; ein Diener brachte
  den Küchenjungen herein, der sah aber ganz schmutzig aus. Der König fragte: "Bist
  du es, der dreimal den Glasberg erstiegen hat?" - "Ja, das bin ich!" sprach
  der Junge, "und ich habe es auch meinem Herrn immer gesagt!" Der Koch fühlte
  bei diesen Worten den Boden nicht unter seinen Füssen, und die Rede blieb ihm eine
  Zeitlang stehen; endlich sagte er: "Aber wie kannst du hier so reden" Der König
  achtete indes nicht darauf, sondern sprach gleich zum Jungen: "Wohlan, entblösse
  dein Haupt, deine Hände und Füsse!" Alsbald warf der Junge seine Kleider ab und
  stand da in voller Schönheit und reichte der Jungfrau die Hand, und sie drückte sie und
  war über die Massen froh; es wurde die Hochzeit gefeiert, und nicht lange darauf übergab
  der König das Reich dem Jungen. "Glaubst du nun, dass ich es war, der dreimal den
  Glasberg erstiegen?" sprach der Junge zum Koch. "Was sollt' ich denn glauben,
  wenn ich das nicht glaubte!" sprach der Koch und bat um Verzeihung. "Nun, so
  sollst du auch ein grosser Herr werden, wie du hofftest, und über alle Köche im Reich
  die Aufsicht führen."
  
  Die junge Königin aber hätte gar zu gerne gewusst, woher ihr Gemahl die drei Zweiglein
  und die kupfernen Füsse, die silbernen Hände und das goldige Haar habe. "Das will
  ich dir, mein Kind, nun sagen!" sprach der junge König eines Tages, "und du
  sollst auch selbst sehen, wie das zugegangen!" Er wollte mit ihr noch einmal auf den
  Wunderbaum steigen und die Herrlichkeit ihr zeigen; allein, als er an die Stätte kam, so
  war der Baum verschwunden, und kein Mensch hat weiter davon etwas gehört und gesehen.
   
  Josef Haltrich: Sächsische Volksmärchen aus Siebenbürgen. Wien 1882 u.ö.,
  Nr. 16. (AT 317, AT 314, AT 530, Deutschland)
  
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