Von den zwölf Brüdern, die 
  zwölf Schwestern zu Frauen suchen
   
  Ein Mann hatte zwölf Söhne, und als diese gross waren, sprach er: "Ihr sollt
  nicht eher heiraten, bis ihr nicht zwölf Schwestern in einem Hause findet!" Da waren
  die Söhne traurig und sprachen: "Wo werden wir denn zwölf Schwestern in einem Hause
  finden?" Nun ging aber der Älteste zuerst in die Welt, ein solches Haus zu suchen,
  und kehrte lange nicht zurück; darauf ging der zweite; auch der blieb aus, und so der
  dritte, vierte bis zum elften, und keiner kam wieder. Zuletzt machte sich auch der
  Jüngste auf, um seine Brüder und das Haus mit den zwölf Schwestern zu suchen. Der Weg
  aber führte ihn durch einen dichten Wald. Da trat ein alter Mann zu ihm und sprach:
  "Wohin, du Junge?" - "Ich will meine Brüder suchen und die zwölf
  Schwestern in einem Hause, die wir heiraten sollen!" - "Wenn du mir ein Jahr
  dienen willst, will ich dir beistehen!" sprach der Alte. "Ein Jahr ist ja nicht
  viel!" dachte der Knabe und war damit zufrieden. Er diente treu und redlich und wurde
  in der Zeit ein guter Jäger. Als das Jahr vorüber war, schenkte ihm der alte Mann eine
  Büchse und sprach: "Mit dieser triffst du alles, worauf du zielst. Gehe jetzt nur
  fort in den Wald, da wirst du zu einer Hütte kommen, in der wohnt eine Hexe, die hat
  deine elf Brüder in Steine verzaubert; hätten sie bei mir Dienste genommen, so wäre es
  ihnen nicht geschehen; doch sie waren zu stolz und wollten nicht. Wenn du nun hingelangst,
  so halte die Büchse nur immer in der Hand, und die Hexe kann dir nichts anhaben!"
  Als der Knabe fortging, hatte er grosse Lust, seine Büchse zu versuchen, und bald sah er
  einen Löwen. "Du kommst mir gerade recht", dachte er bei sich, nahm die Büchse
  und zielte. Aber der Löwe rief ihm zu: "Schiesse nicht; ich will dir's vergelten:
  ich bin der König der vierfüssigen Tiere; nimm hier dies Haar von mir, und wenn du in
  Not bist, so drehe nur daran, und gleich komme ich dir mit allen meinen Tieren zu
  Hilfe!" Er setzte ab, nahm das Haar und ging weiter; nur einmal sah er einen Adler
  hoch in den Lüften kreisen; sogleich legte er an und wollte schiessen. Da rief ihm der
  Adler zu:
  "Schiesse nicht; ich will dir's vergelten; ich bin der König aller Vögel; nimm hier
  diese Feder, und wenn du in Not bist so drehe daran, und gleich komme ich dir zu Hilfe mit
  meinen Scharen!" Er legte ab, nahm die Feder und ging weiter; nur einmal sah er ein
  grosses Wasser und einen mächtigen Fisch. "Halt! dachte er, "den kannst du
  endlich doch schiessen!" Wie er aber losdrücken wollte, rief ihm der Fisch zu:
  "Schiesse nicht, ich will dir's vergelten; ich bin der König der Wassertiere; nimm
  hier diese Flosse, und wenn du in Not bist, drehe sie nur, und ich komme dir zu Hilfe mit
  meinem Volke!" Er setzte wieder ab, nahm die Flosse und ging.
  Es dauerte nicht lange, so war er an der Hütte, wo die Hexe wohnte; er trat unerschrocken
  hinein und sprach: "Hexe, jetzt gleich schaffe mir meine elf Brüder zur Stelle,
  sonst schiesse ich dich nieder!" Aber die Hexe lachte hell auf und rief: "O du
  närrischer Erdwurm, schiesse, so viel du Lust hast, mir schadet das nicht; denn wisse,
  mein Leben wohnt nicht in mir sondern weit, weit weg. In einem verschlossenen Berg ist ein
  Teich, auf dem Teich schwimmt eine Ente, in der Ente ist ein Ei, in dem Ei brennt ein
  Licht, dies ist mein Leben; wenn du das auslöschen könntest, so wäre mein Leben zu
  Ende; aber das kann nie und nimmer geschehen, und darum bekommst du auch deine Brüder
  nicht!" Da ward der Junge zornig und rief: "Du sollst doch mein Blei
  kosten!" und schoss, einmal, zweimal, dreimal, aber umsonst; die Kugeln trafen zwar
  und gingen durch die Hexe, aber sie schadeten ihr nicht, und sie blieb frisch und gesund
  und verlachte und verspottete den Knaben. Weil er aber die Büchse immer in der Hand
  behielt, hatte sie keine Macht über ihn, sonst hätte sie ihn auch verzaubert. Endlich
  liess er ab vom Schiessen und sprach :"Nu warte, ich will dein Leben schon
  finden?"
  Damit machte er sich auf und ging aus dem Wald hinaus; endlich sah er einen Berg. "Es
  kann kein anderer sein!" dachte er und ging darauf los. Als er aber ankam, wusste er
  nicht wie er hineinkommen solle. Da fielen ihm seine Geschenke ein. Er nahm zuerst das
  Haar des Löwen und drehte. Nur einmal kamen alle vierfüssigen Tiere der Erde, der Löwe
  an der Spitze, und fragten, was er befehle. "Scharrt mir den Berg da fort!" Es
  dauerte nur einige Minuten, so war kein Berg mehr zu sehen, und es zeigte sich ein klarer
  See und darauf eine Ente. Diese hob sich sogleich in die Lüfte, um fortzufliegen. Schnell
  drehte der Knabe seine Feder, und im Nu war der Adler mit allen seinen Vögeln da und
  fragte, was er tun solle. "Fanget mir die Ente und bringet sie her!" Da flogen
  sie aus, packten, so viele ankommen konnten, alle die Ente und zerrissen sie auf tausend
  Stücke, und jeder brachte eine Feder. "Ach, das Rechte bringt ihr nicht!' sprach dar
  Junge traurig und fragte nach dem Ei. "Ja, das ist in den See zurückgefallen!"
  Der Junge nahm seine Flosse, drehte, und gleich war der Fischkönig mit allen Seegetieren
  am Ufer und fragte, was er tun solle. "Sucht und bringt mir das Ei, das in den Teich
  gefallen ist!" Da tauchten alle unter, und nach einer Weile kam der Fischkönig und
  hatte selbst das Ei im Munde. Der Knabe nahm es und ging damit schnell zur Hexe und zeigte
  es ihr und sprach:
  "Siehe hier dein Leben, gleich zerstöre ich's, wann du mir nicht auf der Stelle
  meine Brüder lebendig machst!" Da zitterte die Hexe am ganzen Leibe, nahm ein
  grünes Stäbchen und ging zu den elf Steinen, die vor der Hütte lagen, schlug darauf,
  und es standen da seine elf Brüder, und es war ihnen, als erwachten sie aus schweren
  Traume: "Seht da die Hexe, die euch verzauberte, aber nun ist es aus mit ihr!"
  und damit zerbrach er das Ei, löschte das Licht aus, und die Hexe sank tot nieder.
  Darauf gingen alle zwölf Brüder miteinander aus, ihre Bräute zu suchen, und endlich
  fanden sie auch ein Haus mit zwölf Schwestern. Sie führten sie heim zu ihrem Vater und
  feierten eine gemeinschaftliche grosse Hochzeit und waren froh und glücklich, und es ist
  leicht möglich, dass sie noch leben, wenn sie nicht gestorben sind.
   
  Josef Haltrich: Sächsische Volksmärchen aus Siebenbürgen. Wien 1882 u.ö.,
  Nr. 34. (AT 303A, Deutschland)
  
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