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Der Baum in der Volksliteratur,
in Märchen, Mythen und Riten

Lutz Röhrich

 

In Literatur und bildender Kunst hat man das Leben des Menschen immer wieder mit einem Baum verglichen. Die Analogie von Wachstumsstadien der Natur und Lebensstufen des Menschen spielt insbesondere in der romantischen Kunst eine nicht geringe Rolle. Schon Daniel Chodowiecki hat 1793 unter dem Titel "Lebenslauf" acht Blätter gestochen, in deren Mittelpunkt - analog zu verschiedenen Lebensstufen des Menschen - jeweils ein Baum steht, der sich von einem jungen Bäumchen zu einem knorrigen, weitausladenden Baum entwickelt.

In diesen Zusammenhang gehört auch der Brauch, bei der Geburt eines Menschen einen Baum zu pflanzen. Goethes Grossvater pflanzte zur Geburt seines Enkels einen Birnbaum. In der Schweiz war es üblich, zur Geburt eines Sohnes einen Apfelbaum, bei der Geburt einer Tochter einen Birnbaum zu pflanzen. Auch wenn einer eine weite Reise unternahm, pflanzte man einen Baum, der den Zurückgebliebenen das Schicksal des Abwesenden anzeigte. Verdorrte ein solcher Geburtsbaum, so war das ein Zeichen für den nahen Tod seines menschlichen Ebenbildes. Im Grimmschen Märchen von den "zwei Brüdern" (KHM 60) machen die Brüder bei ihrer Trennung Schnitte in einen Baum; sie werden bluten, wenn einer der Brüder in Not gerät.

Immer wieder hat der Mensch sein Leben im Bild des Baumes gesehen. Im Baum verdichtet sich das Naturgeschehen: das Wachsen, Blühen, Reifen, Früchtetragen und schliesslich das Welken und Vergehen, das Gefälltwerden. In diesem Sinne findet sich das Baummotiv häufig auf Grabsteinen, etwa das Bild der vom Blitz getroffenen Eiche als Symbol für einen im besten Mannesalter verstorbenen, vielleicht verunglückten jungen Mann, das Bild des dürren Baumes als Zeichen der Vergänglichkeit, oder auch das Bild eines abgesägten Baumstammes: gleichzeitig das Symbol des Gefälltseins, wie der Hoffnung auf neue Blüte und Ausschlagen, auf Weiterleben und Auferstehung.

Die gleiche Idee findet sich auch im Zauberspruch und Heilsegen, worin Bäume wie Personen begrüsst und angeredet werden, z. B. als "Frau Hasel", "Herr Flieder", "Frau Fichte": Frau Fichte, hier bringe ich dir meine Gichte.

Zu bestimmten Anlässen des menschlichen Lebens oder im Ablauf des Kalenderjahres gibt es den Brauch, einen Baum aufzustellen und zu schmücken. Wichtigstes Beispiel ist der Maibaum mit seinen höchst unterschiedlichsten Erscheinungsformen: als grüner Zweig, als neubelaubter Baum oder als kranzgeschmückte Stange. Dazu gibt es den Maibaum in den verschiedensten privaten und öffentlichen Ausprägungen. Der Tanz um den Maibaum lässt sich historisch weit zurückverfolgen. Er war nicht nur Dorfsitte, sondern sogar am Hofe üblich. Von besonderer Bedeutung und Festlichkeit ist der von der ganzen Gemeinde errichtete Maibaum. Nicht selten ist er verziert mit allen möglichen Figurengruppen, meist Darstellungen der Handwerker und Berufe. Jeder möchte seine eigene Berufssparte auf dem Maibaum verewigt sehen. So gibt der Maibaum sowohl ein Beispiel für die Identifikation des Individuums wie einer ganzen Gemeinde mit dem Maibaum.

Neben den Maibäumen, die ganzen Gemeinden zugeordnet sind, gibt es das private "Maienstecken": der Maibaum vor dem Fenster der Braut als einen Liebesbrauch. Die Burschen stellten ihren Mädchen nachts heimlich einen Maibaum vor die Tür. Aber es konnte natürlich auch vorkommen, dass ein Rivale diesen Baum einfach absägte und zu Fall brachte. Solche Vorkommnisse konnten dann zu einer lebensgefährlichen Rauferei ausarten. Leichtfertige Mädchen bekamen dagegen einen "Schandmaien" vors Fenster gesetzt. Der Schandmai konnte ein mit Lumpen oder mit einem Strohmann behängter dürrer Baum sein. Noch heute ist es vielerorts üblich, in der Walpurgisnacht, das ist die Nacht vor dem 1. Mai, allen möglichen Schabernack zu begehen und z.B. einer missliebigen Person das Gartentor oder einen Handwagen auf einen Baum zu hängen.

Das Gegenteil ist der individuelle Ehrenbaum, der z.B. einem prominenten Mitbürger anlässlich eines runden Geburtstags aufgestellt wird. Es gibt die Errichtung solcher Ehrenbäume anlässlich von Familienfesten, vor allem Hochzeiten und Geburtstagen. Nahe verwandt ist auch der Richtbaum. Er wird beim Richtfest geschmückt und auf das fertig gezimmerte Dach gesetzt. Und ausgesprochen oder unausgesprochen spielt dabei der Wunsch mit, das Haus möge so stabil, gross und dauerhaft werden wie ein Baum.

Auch das Osterfest ist mit einem Baumbrauch verbunden. Es gibt die Sitte des Osterstrausses oder Osterbaumes, an dessen grünenden Zweigen bemalte Ostereier aufgehängt werden. Baum und Osterei sind ja verwandte Symbole: beim Baum beobachtet man das scheinbare Sterben im Herbst, die Totenstarre im Winter und seine Wiederbelebung im Frühling. Ähnliches gilt für das Ei: aus scheinbar Totem bricht neues und junges Leben hervor.

Schon acht Tage vor Ostern, am Palmsonntag, gibt es einen anderen Frühlingsbaum, der zwar aber dem späteren Maibaum durchaus ähnlich ist, jedoch zu einem rein christlichen Festbrauch gehört. Im Mittelpunkt des Tages steht ja die Weihe der Palmen, die etwa im südbadischen Raum sich zu riesigen Schmuck- oder Stangenpalmen auswachsen können. Nach dem Palmsonntag bleibt der Palmbuschen am Hause stehen als Heils- und Segenszeichen, bis er am nächsten Palmsonntag durch einen neuen abgelöst wird. So wird die Palmenstange zu einem Schutzbaum, der mit dem Leben und Glück eines Hofes und einer Familie in Zusammenhang gebracht wird.

Der Brauch, einen grünenden Baum oder eine Baumstange aufzustellen oder herumzutragen, wiederholt sich an den verschiedensten profanen oder christlichen Anlässen. Zur Fastnacht gehört die Errichtung eines Narrenbaumes. Und fast alle schwäbisch-alemannischen Narrenzünfte haben diesen Brauch in den vergangenen zwei Jahrzehnten eingeführt.. Dennoch knüpft dieser Brauch an ältere Vorstellung an. Schon im 16. Jh. kannte man das Motiv des Narrenbaumes, von dem man die Narren herunterschüttelt, die auf ihm gewachsen sind.

Baumdarstellungen auf Grabsteinen bringen Trauer zum Ausdruck, wie z.B. die Darstellung der Trauerweide, die aus demselben Grund auch als Grabbepflanzung, als Friedhofbaum vorkommt; ebenso wie andere Bäume. die ihre Zweige "hängen" lassen, vergleichbar einem Menschen, der in fassungsloser Trauer und Erschrecken die Arme sinken lässt. Bäume auf Gräbern sind aber auch Zeichen des Überlebens und Weiterlebens. Oft ist der Grabesbaum eine Art pflanzlicher Nachtodgestalt des Verstorbenen, sozusagen seine Körperseele. Das sog. Grabespflanzen- oder Grabesbaum-Motiv erscheint im gesamten europäischen Balladenschatz, insbesondere am Schluss der sog. Liebestodballaden: Aus den Gräbern unglücklicher Liebender spriessen zwei Bäume, die sich in der Höhe vereinigen. In einem neugriechischen Volkslied heisst es:

Aus ihr wuchs ein Zitronenbaum,
aus ihm wuchs die Zypresse,
es neigte die Zypresse sich,
küsst' das Zitronenbäumchen.

In all diesen Fällen erscheint der Baum als eine Art "Alter ego" des verstorbenen Menschen. Diese Idee ist vor allem auch in Volksmärchen geläufig. Im Grimmschen Märchen vom "Singenden Knochen" (KHM 28) wächst ein Baum aus dem Grab eines Getöteten. Eine Flöte, die aus seinem Holz geschnitzt wird, berichtet von der Untat und überführt den Mörder. Im Märchen vom "Machandelbaum" (KHM 47) lässt sich die bei der Geburt eines Knaben sterbende Mutter unter dem Machandelbaum begraben, von wo aus die Wiedergeburt des von der Stiefmutter ermordeten Sohnes eingeleitet wird.

Der von Aschenputtel (Grimm, KHM 21) auf das Grab der Mutter gepflanzte Zweig wird zum glückbringenden Baum, durch den die Verstorbene weiterhin ihre mütterlich schützenden Arme über das Waisenkind ausbreitet. Eine ähnliche Segenspende aus dem Grab finden wir schon in der Vorstufe dieses Märchens, in dem Märchen vom "Erdkühlein". Da gibt es einen wunderbaren Apfelbaum, der aus den einzelnen Teilen des in der Erde begrabenen "Erdkühleins" hervorwächst.

Man hat von der "Gegenwart der Ahnen im Baum" gesprochen. In diesen Zusammenhang gehört auch Theodor Fontanes berühmte Ballade "Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland", wo der Birnbaum auf dem Grab des verstorbenen Landbarons den Kindern die Birnen gibt, die dieser schon zu Lebzeiten immer gern gespendet hatte. Nach seinem Tod tut es der Baum; er ist ein sprechender Grabesbaum:

Und kommt ein Jung übern Kirchhof her,
So flüsterts im Baum: "Wiste 'ne Beer?"
Und kommt ein Mädel, so flüsterts: "Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick geb di 'ne Birn."

Bäume als Grabschmuck sind sicher auch ein Zeichen dauernder Trauer und Fürsorge der Lebenden für die Toten. Immergrüne Bäume wie Zypressen, Eibe oder Taxus sind die bevorzugten Trauerbäume unserer Friedhöfe. Das Gleiche gilt auch für den Buchsbaum. Besonders aber mit der Zypresse, diesem obeliskartigen tiefdunklen Baum mit den weichen Formen, verbindet sich bis auf den heutigen Tag die Vorstellung der Trauer. Unter den Toten- und Friedhofsbäumen wäre noch der Rosmarin zu nennen. Er hat diese Rolle schon in der antik-mittelmeerischen Welt, wo der Rosmarin auch Baumgrösse erreicht. Bekannt ist das Volkslied:

Ich hab die Nacht geträumet
Wohl einen schweren Traum,
Es wuchs in meinem Garten
Ein Rosmarienbaum.

Ein Kirchhof war der Garten,
Ein Blumenbeet das Grab,
Und von dem grünen Baume
Fiel Korn und Blüte ab.

Die Blätter tät ich sammeln
In einen goldnen Krug,
Der fiel mir aus den Händen,
Dass er in Stücken schlug.

Draus sah ich Perlen rinnen
Und Tröpflein rosenrot:
Was mag der Traum bedeuten?
Ach Liebster, bist du tot?

Dass Bäume prophetische Fähigkeiten haben, ist jedoch keine Angelegenheit bloss des Volksaberglaubens, sondern reicht in mythische Zeiten zurück. Sprechende Bäume und Orakelbäume gehören zu den religiösen Vorstellungen vieler Völker. Nach indischer Auffassung konnten im Goldenen Zeitalter auch die Bäume sprechen, und eine alte Märcheneingangsformel lautet: "Vor Zeiten, als die Bäume noch redeten". Die Suche nach dem singenden Baum ist ein bekanntes Märchenmotiv. Das "singende, springende Löweneckerchen" bei Grimm (KHM 88) meint den Lärchenbaum. Eine der bekanntesten eschatologischen Sagen spielt an einem zukunftsweisenden Baum. Es handelt sich um die Sage von der "Zukunftsschlacht am Birkenbaum", eine Vision vom Ende der Zeiten, von einer noch bevorstehenden Völker- und Weltenschlacht, die über die Zukunft bestimmen soll. Fast immer ist die letzte Schlacht aufs engste mit einem schicksalhaften dürren Baum verbunden, meist einer Eiche, Linde oder Esche. Der Baum ist nicht nur Ort und Mittelpunkt des Schlachtgetümmels, sondern der Zeitpunkt der Schlacht knüpft sich an das Aufwachsen, Wiederergrünen oder Absterben dieses Baumes. Lokalisiert wird er in Westfalen, aber auch auf dem Walserfeld bei Salzburg.

Eine wichtige Rolle spielt der Baum in der Liebesmetaphorik. Der Baum ist Treffpunkt und Zufluchtsort der Liebenden. Pyramus und Thisbe, das klassische Liebespaar, treffen sich unter einer Linde. Bekannt ist Walther von der Vogelweides Liebesgedicht: Under der linden an der heide, dâ unser zweier bette was... In einer Abbildung der Mannesse-Handschrift sitzt ein Liebespaar unter einem Rosenbaum. Die Zweige des Baumes laufen herzförmig ineinander und halten ein Wappenschild, auf dem das Wort "Amor" zu lesen ist.

Der Baumgarten, insbesondere der Obstgarten, ist in Literatur und Volksdichtung immer auch ein "locus amoenus" der Liebe. Das gemeinsame Abbrechen und Verzehren von Früchten ist ein erotisches Symbol. Unter der Dorflinde ist der Tanzplatz und Treffpunkt der Liebenden. In einem Volkslied wird die Lindenmetaphorik sehr breit ausgesponnen:

Gehn wir beide in den grünen Wald
eine Linde fällen wir dort miteinander
schneiden drauss weisse Bretter
schlafen beide dort im Bettlein miteinander
zimmern weiter auch ein Wieglein miteinander.

In die Rinde des Baumes schnitzen die Liebenden ihre Herzen, und dahinter steht wohl die Vorstellung: zugleich mit dem Baum wächst die Liebe mit. "Ich schnitt es gern in alle Rinden ein..." oder "Ich schnitt in seine Rinde so manches liebe Wort" heisst es im Schubertlied vom Lindenbaum. Es gibt eine ganze Reihe von Sexual-Metaphern, die etwas mit dem Baum zu tun haben, z.B. "auf einen Baum steigen", "zwischen zwei Bäumen etwas wegen" (gemeint ist: zwischen zwei Beinen), "Bäume brechen" oder "biegen". Das Zweigbrechen ist eine deutliche erotische Metapher. Zunächst war es im älteren Rechtsbrauch einfach eine Art Besitzergreifung: der Verkäufer oder Richter reichte dem Käufer einen grünen Zweig zum Zeichen der Übergabe.

Im Märchen von "Frau Holle" (Grimm KHM 24) kommt die Heldin an einen Baum voller reifer Äpfel, den sie schütteln soll - sicherlich ein Reifungssymbol. Für Aschenputtel (Grimm KHM 21) ist es bezeichnend, dass es sich vor dem Prinzen in einem Baum voll reifer Birnen versteckt.

Baumheiligtümer gab es schon bei den alten Germanen. Am bekanntesten ist die heilige Donarseiche bei Geismar. Als Bonifatius im Jahre 724 den mächtigen Baum fällte, ohne von Donars rächendem Blitz getroffen zu werden, konnte er den Sieg des Christentums verkünden. Ein Baumheiligtum nach dem anderen fiel. Die Germanen wurden gezwungen, das Christentum anzunehmen. Gleichwohl mögen viele diesen Baumfrevel nicht verziehen haben, und so wurde Bonifatius 754 von den Friesen erschlagen.

Mit der Heiligkeit der Bäume wird jedes Vergehen an ihnen zum Frevel. Nach vielen Sagen quillt aus einem mit der Axt verletzten Baum Blut. Der Holzfäller bittet daher den Baum vor dem Schlagen um Verzeihung. Und von grausamen Strafen für Baumfrevel berichten viele Sagen. Letztlich steht hinter solchen Vorstellungen die Idee, dass der Baum ein Sitz der Gottheit ist. Aus einem feurigen Dornbusch spricht Gott zu Moses; aus den Zweigen eines Baumes zu Johanna von Orleans. Die Erleuchtung Buddhas erfolgt unter einem Baum. Und die alteingewurzelte Idee von der Heiligkeit von Bäumen lebt im Christentum weiter in Sagen und Legenden von Heiligenbildern auf oder in Bäumen. Besonders häufig begegnet dies in Legenden von Maria oder ihrem Bild im Baum. Viele Namen von Wallfahrten halten die Auffindung eines Gnadenbildes im Baume fest, wie "Maria von der Linde", "Maria Tax", "Maria in der Hasel", "Maria Birnbaum", "Maria Lärch", "Maria im Busch" - dies alles sind sprechende Namen solcher Wallfahrtsbäume. Vorzugsweise geht es um Marien-Wallfahrten und -Verehrung. Aber auch die Nikolausverehrung erfolgt gelegentlich an einem Baum. An Bäumen werden Weihegaben und Votive aufgehängt.

Ebenso wie das Heilige kann sich auch das Unheilige in Bäumen aufhalten, das Dämonische und Todbringende. Auf dem Holzschnitt mit dem Bild der beiden Landsknechte von Urs Graf (1524) sitzt im Hintergrund der Tod im Baum und weist grinsend mit dem Finger auf die Stundenuhr. Der Tod im Baum erscheint auch in dem Grimmschen Märchen vom "Spielhansel" (KHM 82). Es ist der Erzähltyp "Tod im (Apfel-) Baum": Von einem listigen Helden wird der Tod auf einen Baum gebannt, von dem er nicht mehr herunter kann. Alle Leute sind heilfroh über diese Botschaft, weil niemand mehr zu sterben braucht. Die Menschheit hat die Unsterblichkeit erreicht. Aber auf die Dauer werden die vielen alten Leute doch zu einer Belastung für die Gesellschaft. Auch die Kranken, die gerne sterben wollen, können nicht sterben. Leben bedingt auch Sterben und umgekehrt, so befreit man den Tod wieder von seiner Verbannung, der nun alles nachholt, was er in der Zeit seines Baumaufenthaltes versäumt hatte.

Diese Erzählung bietet keineswegs nur ein didaktisches Exempel. Die Geister von Krankheiten und Seuchen sitzen unheildrohend im Baum. Krankheitsgeister wurden in Bäume gebannt. Die Volksmedizin kennt die Verpflöckung von Krankheiten in einen Baum, und diese "transplantatio morborum" wurde bis zu Paracelsius hin auch noch von Ärzten vollzogen. Nur noch in Flurnamen gibt es "Nannwälder", in denen aber einst tatsächlich Dämonen und Gespenster festgehalten wurden. Das Einpflöcken von Krankheiten oder Dämonen in Bäume spielte in zahlreichen Volkssagen eine Rolle, literarisch gestaltet auch in Jeremias Gotthelfs Novelle "Die schwarze Spinne". Im Märchen vom "Geist im Glas" (Grimm KHM 99) findet ein Holzhacker unter einem Baum einen solchen festgebannten Geist. Obwohl der Geist zunächst sehr lebensbedrohend ist, macht der Held mit seiner Hilfe sein Glück.

Die Vorstellung von sog. "Baumgeistern" war es, von der der deutsche Mythologe Wilhelm Mannhardt geradezu besessen war, als er 1874 sein berühmtes zweibändiges Werk "Wald- und Feldkulte" veröffentlichte. Was man sich unter einem Baumgeist vorzustellen hat, kann vielleicht ein einzelnes Sagenbeispiel erläutern: Einmal ging ein Mann in einen Wald, um Holz zu hauen. Als er einen Baum gefällt hatte, hörte er, ohne etwas zu sehen, weinen, und eine Stimme rief: "Du hast mir meine Wohnung genommen". "Wohl!" entgegnete der Mann, "so sollst du in meinem Hause unter der Stiege wohnen, darfst aber keinen Schaden tun". Als der Mann abends nach Hause kam, lief ihm sein Weib entgegen und meldete ihm, es spukte im Haus, Schüsseln und Teller würden hin und her und herausgeworfen. Der Mann erwiderte, es mache nichts, er werde schon Ruhe schaffen. Da ging er hin und schlug den Raum unter der Stiege mit Brettern zu. Seit der Zeit war Ruhe, und vom Geist war weiter nichts zu sehen und zu hören.

Der russische Ethnologe Zelenin führt Beispiele von Fällverboten für Bäume bei den Slaven an, die sich teilweise bis in die Gegenwart erhalten haben, und verweist darauf, dass das Volk im wachsenden Baum ein Lebewesen sieht, das bluten könne, wenn es verletzt werde. Nach den Sagen der verschiedensten Völker wird von Verwandlungen von Menschen in Bäume berichtet, nach deren Fällung Blut fliesse. In russischen Sagen findet sich die Vorstellung, dass Ebereschen nicht gefällt werden dürfen, weil sie von den Menschen abstammen.

Im Grimmschen Märchen "Die Alte im Wald" (KHM 123) begegnen uns ein Königssohn und sein Hofstaat als verwunschene Bäume. Durch ein armes Dienstmädchen erhalten sie ihre Menschengestalt zurück. Ihm ist es gelungen, den bösen zauberbrechenden Ring der alten Hexe zu entwenden: "Da lehnte es sich an einen Baum und wollte auf das Täubchen warten, und wie es so stand, da war es, als wäre der Baum weich und biegsam und senkte seine Zweige herab. Und auf einmal schlangen sich die Zweige um es herum und es waren zwei Arme, und wie es sich umsah, war der Baum ein schöner Mann, der es umfasste und herzlich küsste".

In Bäumen ist also sowohl Heiliges und Wünschenswertes wie auch Gefährliches verborgen. Der Baum erscheint wie eine Art Projektionsort von Angst- und Wunscherfüllung. Dies erweist sich auch in der Bildmotivik der Liebe. Vom sog. "Baum der Liebe" können sich die jungen Mädchen einen Bräutigam nach ihrem Geschmack herunterschütteln. Der Baum der Liebe, auf dem schöne junge Mädchen oder Männer reifen und von ihrem Partner nur heruntergeschüttelt zu werden brauchen, ist ein beliebtes Bilderbogenmotiv. Auf einem Tirgel, einem Gebäck aus Zürich, ist dargestellt, wie sich die Frauen die Männer von den Bäumen schütteln. Es gibt natürlich auch den Jungfrauenbaum, von dem sich die Männer nach ihren Wünschen ein Mädchen herabschütteln können.

Analog zum "Baum der Liebe" gibt es den "Kinderbaum", den Baum als Herkunftsort der kleinen Kinder: die Kinder wachsen auf den Bäumen oder werden von der Hebamme aus Baumhöhlen gezogen. Auf den ersten Blick scheinbar nur eine Scherzfiktion, ein Verlegenheits-Euphemismus wie der Klapperstorch, der die Mutter ins Bein beisst, und die kleinen Kinder bringt. Doch Baumgeburt und Geburtsbaum reichen in mythische Dimensionen. Schon die Sprache weist auf solche Sinngebung. So bezeichnet man das Kind auch als "Sprössling", als den "Spross"der Familie. Es gibt Mythen von baumentsprossenen Menschen, und von Bäumen leiten ganze Sippen ihre Herkunft ab. Nach altgermanischer Überlieferung bilden die Götter aus der Esche einen Mann, aus der Ulme eine Frau und somit das erste Menschenpaar. Die Edda nennt Askr und Elmja, Esche und Ulme, als Stammeltern der ersten Menschen. Von der Herkunft der ersten Menschen aus Bäumen berichten auch andere Erzählungen. Nach einer sibirischen Mythe wuchs zu Beginn der Welt ein einziger Baum ohne Äste empor. Diesen erblickte Gott: "Ein einziger Baum ohne Zweige ist nicht angenehm zu sehen. Es mögen an ihm neun Äste entstehen", sprach er. Neun Zweige wuchsen empor. "Am Fuss der neun Äste mögen Menschen sein; und aus jenen neun Menschen mögen neun Völker entstehen!". So geschah es.

Bäume sind aufgrund ihrer Grösse, ihres oft hohen Alters, ihrer Fruchtbarkeit, ihrer jährlichen Wiederbelaubung oder ihres immergrünen Zustandes Mittelpunkt zahlreicher kosmogonischer, anthropogonischer Mythen, oder mit Vergehen, Auferstehung und ewigem Leben verbundenen religiöser Vorstellung geworden. Weltenbäume schützen den Himmel. Auf ihnen residieren nach indischer und chinesischer Vorstellung die Götter. An ihnen klettern Schamanen und Märchenhelden in den Himmel. Ein sehr bekanntes Märchenmotiv im internationalen Erzählgut handelt von der Besteigung eines himmelhohen Baumes durch einen Schamenen oder durch einen Märchenhelden, um mit einer Bitte zu Gott zu gelangen, sich im Himmel umzusehen oder die Jugend oder Gesundheit verleihenden Früchte zu pflücken. Im Garten eines alten oder kranken Königs steht z.B. ein himmelhoher Baum. Der König verspricht demjenigen seine Tochter samt der Hälfte seines Reiches, der ihm einige von den verjüngenden oder heilenden Früchten bringt. Auch in manchen Varianten zum "Fischer und seiner Frau" wendet sich der arme Mann mit den sich immer mehr steigernden Wünschen seiner Frau nicht an einen Fisch, sondern er klettert auf den himmelhohen Baum in den Himmel und teilt dort Gott seine Wünsche mit. Die Vorstellung vom himmelhohen Baum, der bis zu den Sternen reicht, halten die Ethnologen für ein charakteristisch schamanistisches Motiv und identifizieren es mit dem Baum in der schamanistischen Zeremonie: Wenn der Schamane den Baum erklimmt, zieht er die Geister der Ahnen zu Rat oder wendet sich mit den Wünschen der Gemeinschaft an einen Gott, der auf dem Wipfel des Baumes wohnt.

Die Vorstellungen eines Weltenbaumes hängen mit der Tatsache zusammen, dass der Baum dem unterirdischen Bereich der Erde zugehört und andererseits auch in den Himmel reicht. Die Vorstellung entspricht einem Weltbild, das nur unten die Erde und oben den Himmel kennt. Bäume sind es, denen nach der Mythologie das Stützen und Tragen der Himmelkuppe anvertraut ist. Der Platz des Weltenbaumes ist der Nabel und Mittelpunkt der Welt. Er ist die Wohnstätte der ersten Menschen. In der Mitte des Paradieses erhebt sich der immergrüne Lebensbaum. Mit einem Baum beginnt die Heilige Schrift; ein Baum steht auch am Ende der Bibel (Offenb. 22,2): "Und mitten auf der Strasse, zu beiden Seiten jenes Stromes, stand der Baum des Lebens, der zwölfmal Früchte trägt: In jedem Monat bringt er seine Frucht, die Blätter des Baumes aber dienen den Völkern zur Heilung".

Das Abhacken eines jungen Bäumchens oder gar eines ausgewachsenen Baumes und seine Verbringung ans Haus oder ins Haus als Maibaum, Osterbaum, Richtbaum usw. ist sicher oft nicht im Sinne des Naturschutzes und der Umwelterhaltung. Psychologisch ist es uns nun aber schon verständlicher geworden als begreiflicher Wunsch nach Aneignung und Einverleibung der Wachstumskraft des Baumes. Schliesslich sind unsere Volksbräuche zu Zeiten entstanden, als die Einbusse eines Baumes noch keinen allzu grossen Flurschaden bedeutete. Waldrodung hat ja zunächst einmal überhaupt menschliche Siedlung und Zivilisation ermöglicht. Immerhin ist es nicht uninteressant zu wissen, dass die ältesten Zeugnisse für die Geschichte des Christbaums Forstverbote waren, die festlegten, dass nicht für jede Person eigens ein Weihnachtsbaum geschlagen werden durfte, sondern nur pro Familie jeweils einer.

Wir haben uns abschliessend zu fragen, warum der Baum so vielfältige Ausprägungen und Funktionen in Volkserzählungen und Volksbrauch hat. Der Baum ist ein Ursymbol, aber natürlich auch ein sehr vielfältiges und oft sogar ambivalentes und in sich widersprüchliches Symbol: der Baum ist Lebensbaum wie Todesbaum, Paradiesesbaum und Kreuzesstamm, Dorflinde und Galgen, Geburts- wie Grabesbaum. Der Platz unter dem Baum ist Versammlungsplatz und Kommunikationsort, sowohl Gerichts- und Hinrichtungsort, wie auch Ort jeder Lustbarkeit, Gefahrenort und Zufluchtsstätte.

Der Baum befriedigt alle Bedürfnisse des Menschen: er bietet Früchte und stillt Hunger und Durst; er gewährt Schutz vor Sonne und Regen. Er bietet sich an für den Bau des Hauses. Der Sarg wie die Wiege werden aus ihm gemacht. Bäume dienten ja als Särge, und "Totenbaum" oder einfach nur "Baum" sind Bezeichnungen für den Sarg. Alle Werkzeuge und alle materiellen Erzeugnisse, die Menschen je gefertigt und gebraucht haben, waren zunächst einmal aus Holz. Ohne Holz wäre der Mensch armselig dran. Es geht nichts ohne Baum: er nährt, er kleidet, er wärmt, er schützt.

Tief eingewurzelt ist der Glaube an eine Wesensgleichheit von Baum und Mensch. Ein Baum hat alle die Eigenschaften, die sich ein Mensch gerne wünscht: er nimmt Schicksalsschläge und Blitzschläge hin, ohne gefällt zu werden. Er ist auch im Alter noch ansehnlich und stark. Er trägt bis ins Alter hinein Früchte. Er überdauert die Zeiten, indem er sich immer wieder regeneriert. Insofern präsentiert er Lebenskraft; er überdauert ein Menschenleben. Ein Gedicht von Günther Eich trägt den sinnvollen Titel: "Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!" Wie kein anderes Symbol bietet der Baum Projektionen an für Ängste wie für Hoffnungen: sowohl der Baum der Erkenntnis wie der Weihnachtsbaum spiegeln Wunschvorstellungen wider. Aber genauso der Maibaum, der Liebesbaum, der Kinderbaum, der Richtbaum usw. Wunschträume sitzen in Bäumen; und nicht nur des Reimes wegen heisst es im Kinderlied: Die Mutter schüttelts Bäumelein, da fällt herab ein Träumelein.

Durch alle Religionen geht die Sage von einem Baum des Lebens, der lebenserneuernde und lebensverjüngende Kräfte in sich birgt. Als sich immer neu begrünender Baum ist er ein Urbild für jedes "stirb und werde", ein Sinnbild der sich stets erneuernden Natur. Der Baum ist ein Symbol des Kosmos, ein Bild der Ordnung und Unterordnung: Wurzel, Stamm und Äste stehen in einem bestimmten Ordnungssystem. So ist der Baum Ausdruck für das Verwurzeltsein, für das Wachstum der Geschlechter, auch für das himmelstrebende Sehnen des Menschen. Er ist Weltenbaum und - seit Anbeginn der Menschheit - Mittelpunkt der Welt, Symbol und Schicksal des Menschen. Wo der Baum stirbt, stirbt der Mensch.

Kein Zweifel, dass wir durch Waldsterben und Umweltschutzbewegungen auf dem Weg zu einem neuen Baumbewusstsein sind. Dabei kann uns die Rückbesinnung auf die Rolle des Baumes in Volkserzählungen, Brauch, in Religion und Mythologie helfen. Das neue Baumbewusstsein braucht bloss die Quellen des Archaischen wieder freizulegen.

 

Quelle: Germanistik aus interkultureller Perspektive. Collection Recherches Germaniques 1, Strassbourg 1988. (gekürzt)


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