Betrachtungen zum Dornröschen
Max Lüthi
Die Einstellung der Allgemeinheit zum Märchen ist zwiespältig. "Erzähl mir
keine Märchen", sagen wir abschätzig - das Wort ist da nur ein höflicherer
Ausdruck für Lügen, für besonders kunstvoll gebaute Lügen. Wenn wir andererseits etwas
aussergewöhnlich Schönes bewundern, dann stellt sich wie von selbst das Wort
"märchenhaft" ein, und jetzt heisst es nicht unwirklich im Sinne von unwahr,
sondern im Sinne von überirdisch. So deuten sich Ablehnung des Märchens und Faszination
durch das Märchen schon im Sprachgebrauch an.
Jahrhundertelang ist das Volksmärchen als Kinder- und Gesindestubengeschichte von den
Gebildeten verachtet worden, und doch haben sich grosse Dichter immer wieder von ihm
inspirieren lassen; die hohe Literatur hat zu allen Zeiten Märchenmotive in sich
aufgenommen und oft eine märchenähnliche Phantasie walten lassen. Im Leben des Einzelnen
gibt es Zeiten der Bezauberung durch das Märchen und Zeiten des Abstandnehmens. Nach dem
eigentlichen Märchenalter zwischen dem 5. und dem 10. Lebensjahr folgt eine
märchenfeindliche realistische Phase. Manche Leute verharren bis an ihr Lebensende in
dieser Haltung. Bei andern kehrt später das Verständnis und die Liebe zu den einst so
sehr begehrten Geschichten zurück; nicht nur, weil sie als Mütter oder als Grossväter
nun selber Märchen erzählen sollen, sondern ebensosehr, weil sie sich aufs neue von
deren eigentümlichem Reiz ergriffen fühlen.
Wenn etwas in solch entschiedener Weise anzuziehen und abzustossen vermag, darf man
vermuten, dass es da um Wesentliches geht. Es ruft zur ausgesprochenen oder
unausgesprochenen Auseinandersetzung auf. Die Rolle, die das Märchen im Leben der Kinder
spielt, die Rolle, die es in der buchlosen Zeit jahrtausendelang auch im Leben der
Erwachsenen gespielt hat, bestärkt uns in der Annahme, dass es sich um eine Dichtung
besonderer Art handelt, eine Dichtung, die den Menschen als solchen angeht.
Wenn man heute von Märchen redet, so denkt man unwillkürlich an die Sammlung der
Brüder Grimm, und nicht nur im deutschen Sprachbereich. Grimms Kinder- und Hausmärchen,
die 1812 und 1815 zum ersten Mal erschienen, sind in manchen Ländern das meistbegehrte
und meistgedruckte deutsche Buch; und selbst bei Naturvölkern erweisen sie ihre Macht:
die von Missionaren den Negern erzählten Grimm-Märchen vermögen in vielen Fällen die
einheimischen Geschichten zu verdrängen. An einer der bekanntesten Geschichten aus der
Grimmschen Sammlung, an "Dornröschen", soll in diesem Aufsatz etwas vom Wesen
des Volksmärchens und von der Eigenart seiner Bearbeiter gezeigt werden. Der einleitende
Abschnitt lautet:
Vorzeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag: Ach, wenn wir
doch ein Kind hätten!« und kriegten immer keins. Da trug sich zu, als die Königin
einmal im Bade sass, dass ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch und zu ihr sprach:
"Dein Wunsch wird erfüllt werden: ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine Tochter zur
Welt bringen.« Was der Frosch gesagt hatte, das geschah, und die Königin gebar ein
Mädchen, das war so schön, dass der König vor Freude sich nicht zu lassen wusste und
ein grosses Fest anstellte. Er ladete nicht bloss seine Verwandte, Freunde und Bekannte,
sondern auch die weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen wären. Es
waren ihrer dreizehn in seinem Reiche, weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von
welchen sie essen sollten, so musste eine von ihnen daheim bleiben. Das Fest ward mit
aller Pracht gefeiert, und als es zu Ende war, beschenkten die weisen Frauen das Kind mit
ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die dritte mit
Reichtum, und so mit allem, was auf der Welt zu wünschen ist. Als elfe ihre Sprüche eben
getan hatten, trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür rächen, dass
sie nicht eingeladen war, und ohne jemand zu grüssen oder nur anzusehen, rief sie mit
lauter Stimme: "Die Königstochter soll sich in ihrem funfzehnten Jahr an einer
Spindel stechen und tot hinfallen." Und ohne ein Wort weiter zu sprechen, kehrte sie
sich um und verliess den Saal. Alle waren erschrocken, da trat die zwölfte hervor, die
ihren Wunsch noch übrig hatte, und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben, sondern nur
ihn mildern konnte, so sagte sie: "Es soll aber kein Tod sein, sondern ein
hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt."
Jedermann weiss, wie das Märchen weitergeht: Der Befehl des Königs, "dass alle
Spindeln im ganzen Königreiche sollten verbrannt werden", vermag das Kind nicht zu
retten; als es 15 Jahre alt ist, sticht es sich mit einer Spindel (die es gerade deshalb
interessiert, weil es noch nie im Leben eine gesehen), fällt allsobald in Zauberschlaf
und mit ihm König und Königin und der ganze Hofstaat. Rings um das Schloss aber wächst
eine dichte Dornenhecke; die Königssöhne, die sie durchdringen wollen, bleiben
elendiglich in den Dornen hängen, bis nach genau hundert Jahren es wieder einer wagt: da
sind es statt der Dornen lauter grosse schöne Blumen, die tun sich von selbst auseinander
und lassen ihn unbeschädigt hindurch, hinter ihm schliessen sie sich wieder. Der Kuss des
Prinzen weckt die schlafende Königstochter zu neuem Leben, mit ihr erwacht der ganze Hof,
und es wird eine prächtige Hochzeit gefeiert.
Schon die Brüder Grimm haben sich über die Bedeutung dieses Märchens, das ähnlich
auch bei anderen Völkern erzählt wird, Gedanken gemacht. Was ist sein Kern, was wird in
ihm dargestellt? Jacob und Wilhelm Grimm sehen in den Märchen Überbleibsel alter Mythen,
spielerische Abkömmlinge einer uralten intuitiven Schau des Lebens und der Welt.
Dornröschen, wunderbar begabt und unheimlich bedroht, verfällt dem Tode oder einem
todesähnlichen Schlaf; aber sie wird wieder erweckt, beginnt neu zu blühen und mit ihr
die Welt um sie her - unser Märchen erzählt von Tod und Auferstehung. Das Aufblühen der
Rosenhecke, das Erwachen des schlafenden Mädchens gemahnt an die wie tot daliegende Erde,
die, vom Frühling berührt, neu zu leben und zu blühen anfängt, so jung und schön wie
eh. Es gemahnt auch an das Erwachen der schlafenden Natur unter dem Anhauch des jungen
Tages. Ewig sich wiederholende Vorgänge haben im Dornröschen-Märchen Gestalt
angenommen, Vorgänge in der Natur, die den Menschen umfängt, Vorgänge aber auch in der
menschlichen Seele. Dornröschen ist 15 Jahre alt, als sie der Verzauberung verfällt - es
ist der Zeitpunkt des Übergangs vom Kind zur Jungfrau. Jede wichtige Entwicklungswende,
jeder Übergang von einer Lebensstufe zur anderen wird als Gefährdung empfunden. Es ist
eine natürliche Erscheinung, dass der Junge in diesem Alter sich auf sich selber besinnt,
dass das Mädchen sich in sich zurückzieht, dass beide Geschlechter eine Zeitlang
schüchtern und zurückhaltend oder stachlig, trotzig, abweisend werden; eine Dornenhecke
scheint um den jungen Menschen zu wachsen und ihn nach aussen abzuschirmen. Aber im
Schutze solcher zu erwachen.
Die Figuren des Märchens sind nicht individuell gezeichnet. Es handelt sich nicht um
Einzelschicksale. Es ist auch nicht nur der einmalige Vorgang der Reifezeit, der sich in
der Märchenhandlung spiegelt. Die Dornröschenerzählung ist mehr als eine phantasievoll
stilisierte Liebesgeschichte, die das Sich-zurückziehen des jungen Mädchens auf sich
selbst und die Lösung des Bannes durch den liebenden Jüngling darstellt; man nimmt die
Prinzessin unwillkürlich zugleich als ein Bild für die menschliche Seele: Die Erzählung
schildert Begabung, Bedrohung, Lähmung und Erlösung nicht nur irgend eines Mädchens,
sondern des Menschen überhaupt. Die Seele des Menschen verfällt immer wieder der
Verkrampfung, der Lähmung, und immer wieder kann sie, wenn es gut geht, neu belebt
werden, geheilt, erlöst werden. Wenn es gut geht! Abnormes Verharren im Zustande der
Lähmung, Unfähigkeit, den Lebensquell in sich selbst und den Kontakt mit der Umwelt neu
zu finden, das kommt freilich auch vor. Aber das Märchen zeichnet nicht den abnormen
Fall, sondern die natürliche Entwicklung, und es erfüllt die, die es aufnehmen, mit dem
Vertrauen, dass nach dem Todesschlaf ein neues, stärkeres Leben, nach der Vereinsamung
eine neue Form des Kontaktes, der Gemeinschaft erstehen werde.
Diese Begnadung und Gefährdung ist im Dornröschen-Märchen in mehrfacher Variation
dargestellt. Die Feen werden dem Kinde zum Segen und zum Fluch. Das königliche Schloss
ist für Dornröschen Paradies und Gefängnis. Der Todesschlaf ist ihm Bann und Schutz -
die Dornenhecke, die zu töten vermag, aber schliesslich herrliche Blumen erblühen
lässt, bringt die alles durchdringende Polarität von Tod und Auferstehung am
sichtbarsten zum Ausdruck.
In den eben genannten dominierenden Bildern - Schloss und Turm, Dornen und Rosen,
Menschen und Feen - offenbart sich noch eine besondere Fähigkeit des Märchens, nicht nur
des Dornröschen-Märchens, sondern des Volksmärchens überhaupt. Es umfasst trotz seiner
Kürze in seiner Weise die Welt - Tote und lebendige Natur, Mensch und Menschenwerk, aber
auch jenseitige Mächte. Schon im Eingang des Märchens ist die Welt in ihren wesentlichen
Elementen gegenwärtig. Da ist das Tier, der Mensch, das Ding. Nur die Pflanze fehlt -
erst mit der Entfaltung des Märchens in den späteren Episoden werden auch Bäume,
Dornen, Blätter erwachsen und Blumen sich entfalten. Von den sichtbaren Elementen - das
Märchen hängt am Sichtbaren - werden in der Einleitung schon Wasser und Land genannt;
das dritte, das Feuer, wird im weiteren Verlaufe aufflackern, und auch von Wind und Atem
wird die Rede sein. Die Menschenwelt wird durch Mann, Frau und Kind repräsentiert, an
Dingen sind solche des Werktags da und solche des Festtags, Spindeln und goldene Teller.
Das edle Metall, die Figuren des Königs, der Königin, die festliche Feier deuten an,
dass Hohes im Spiele ist. An menschlichen Gefühlen äussern sich Entbehrung, Sehnsucht,
Schmerz, Freude, Entsetzen, Hoffnung, Bitterkeit, Empfindlichkeit, Rachsucht, Mitleid.
Lautes Reden und erschrockenes oder drohendes Schweigen stehen nebeneinander, aber auch
das tröstende Wort fehlt nicht. Leid, Missgriffe, Hilflosigkeit zeugen von der
Gefährdung auch und gerade des königlichen Daseins. In den Gestalten des weissagenden
Frosches, der wünschenden und verwünschenden Feen tritt, wiederum klar sichtbar, zur
Welt des Menschen eine Überwelt hinzu. Das Märchen ist ein Universum im kleinen - und da
jede echte Dichtung ihre Eigenart schon in ihren einzelnen Teilen entfaltet, prägt sich
die Neigung des Märchens, die Welt zu umfassen, schon in der Einleitung des
"Dornröschens" kräftig aus.
Nicht nur um seiner Weisheit willen lieben wir das Märchen: Auch die Art, wie es
erzählt wird, beglückt uns: das äussere Kleid, das von Volk zu Volk und von Erzähler
zu Erzähler wechselt. Die Meisterschaft der Grimmschen Erzählkunst erweist sich
ebenfalls gleich im ersten Teil des Märchens. Der ganze erste Abschnitt ist getragen vom
Motiv der Weissagung. Das einmal angeschlagene Thema variiert und steigert sich: die
Geburt des Töchterchens wird durch einen Frosch angekündigt, die weisen Frauen verleihen
ihm Tugend, Schönheit, Reichtum und andere Wundergaben, d. h. sie kündigen all dies an,
die dreizehnte Fee aber, und hier hält man beklommen den Atem an, prophezeit den Tod der
Prinzessin in deren 15. Jahr. Nach dieser höchsten Steigerung, die durch das plötzliche
Hereinbrechen der übergangenen Fee, durch ihre kurze, laute Rede und durch ihr
schweigendes Weggehen kräftig herausgearbeitet ist, senkt sich der Bogen der Erzählung
leise, eine letzte Variation des Weissagungsmotivs, die Umbiegung der Todesansage zur
Verkündigung des hundertjährigen Schlafes, lindert die innere Anspannung, weckt aber
sofort die Frage, ob und wie die Verkündigung sich verwirklichen und was während und
nach dem Zauberschlaf vor sich gehen werde. Eine wahrhaft dramatische Exposition.
Was die dichterische Erfindungslust und Sprachkraft der Brüder Grimm dem
Dornröschen-Märchen im übrigen geschenkt hat, zeigt ein Vergleich der ursprünglichen
Aufzeichnung mit der endgültigen Fassung. Allen, die das Märchen kennen, ist die
humorvolle Schilderung des einschlafenden und wieder erwachenden Lebens unvergesslich. Da
heisst es:
Dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloss: der König und die Königin,
die eben heimgekommen waren und in den Saal getreten waren, fingen an einzuschlafen, und
der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe,
die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herde
flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der
Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, in den Haaren ziehen wollte,
liess ihn los und schlief. Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloss
regte sich kein Blättchen mehr.
Was aber stand in der ersten Niederschrift Jacob Grimms, in der er eine mündlich
gehörte Erzählung festhielt? Nur dieses: "Da auch in dem Augenblick der König und
der Hofstaat zurückgekommen war, so fing alles, alles im Schloss an zu schlafen, bis auf
die Fliegen an den Wänden." Der kleine Zusatz "bis auf die Fliegen an den
Wänden" hat die Grimms zu einem behaglich ausgemalten, vielfigurigen Bilde angeregt.
Noch freier lassen sie ihre Phantasie im Schlussteil spielen. Die Urschrift schloss so:
"Wie er nun in das Schloss kam, küsste er die schlafende Prinzessin, und alles
erwachte von dem Schlaf, und die zwei heirateten sich, und wenn sie nicht gestorben sind,
so leben sie noch." Aus diesem einzigen Satz wird bei den Brüdern Grimm das
Folgende:
Im Schlosshof sah er die Pferde und scheckigen Jagdhunde liegen und schlafen, auf
dem Dache sassen die Tauben und hatten das Köpfchen unter den Flügel gesteckt. Und als
er ins Haus kam, schliefen die Fliegen an der Wand, der Koch in der Küche hielt noch die
Hand, als wollte er den jungen anpacken, und die Magd sass vor dem schwarzen Huhn, das
sollte gerupft werden. Da ging er weiter und sah im Saale den ganzen Hofstaat liegen und
schlafen, und oben bei dem Throne lag der König und die Königin. Da ging er noch weiter,
und alles war so still, dass einer seinen Atem hören konnte, und endlich kam er zu dem
Turm und öffnete die Türe zu der kleinen Stube, in welcher Dornröschen schlief. Da lag
es und war so schön, dass er die Augen nicht abwenden konnte, und er bückte sich und gab
ihm einen Kuss. Wie er es mit dem Kuss berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf,
erwachte und blickte ihn ganz freundlich an. Da gingen sie zusammen herab, und der König
erwachte und die Königin und der ganze Hofstaat und sahen einander mit grossen Augen an.
Und die Pferde im Hof standen auf und rüttelten sich, die Jagdhunde sprangen und
wedelten, die Tauben auf dem Dache zogen das Köpfchen unterm Flügel hervor, sahen umher
und flogen ins Feld; die Fliegen an den Wänden krochen weiter, das Feuer in der Küche
erhob sich, flackerte und kochte das Essen, der Braten fing wieder an zu brutzeln, und der
Koch gab dem Jungen eine Ohrfeige, dass er schrie, und die Magd rupfte das Huhn fertig.
Und da wurde die Hochzeit des Königssohns mit dem Dornröschen in aller Pracht gefeiert,
und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende.
Mit dem Schlusssatz finden die Brüder Grimm zum eigentlichen Märchenstil zurück, der
das Geschehen knapp und prägnant signalisiert und nicht breite Schilderungen, sondern
fortschreitende Handlung liebt. Dass die Bearbeiter hier die beiden zentralen Vorgänge,
das Einschlafen und das Wiedererwachen, behaglich ausmalen, lassen wir uns gerne gefallen.
An anderen Stellen hüten sie sich, ausführlich zu schildern. Sie geben keine
Einzelheiten des Hochzeitsfestes, und die Geburtstagsfeier zu Beginn der Erzählung
umreissen sie nach echter Märchenweise mit einem einzigen Satz: "Das Fest ward mit
aller Pracht gefeiert." Wenn sie sich dagegen den Spass leisten, das Stillstehen des
Lebens und sein plötzliches Weitertanzen auch in seinem grotesken Aspekt sichtbar zu
machen - es ist, als ob die Spielfiguren eines Apparates stehen geblieben wären und nun,
nachdem die Feder wieder aufgezogen, mechanisch sich weiterdrehten - so ist da eine Ironie
am Werke, die zu Kindern ebenso wie zu Erwachsenen spricht. Der Liebesszene wird dadurch
alle Sentimentalität genommen, sie entfaltet sich im Schutze des komischen Spektakels,
der sie umgibt, unvermerkt und rein.
Es ist deutlich: Die Brüder Grimm haben die Märchen nicht genau so wiedererzählt,
wie sie sie gehört haben. Sie haben sie im Gegenteil sorgfältig zubereitet, sie haben
vereinfacht oder ausgeschmückt, wie es ihrem poetischen Sinn und auch ihrem
pädagogischen Bewusstsein entsprach. Nicht selten kombinierten sie mehrere Varianten ein-
und desselben Märchens, sie wählten aus jeder Erzählung das aus, was ihnen am
schönsten schien. Natürlich waren sie nicht unabhängig von Empfinden und vom Geschmack
ihrer Zeit, der Zeit der Romantik und des Biedermeiers. Romantische Wald- und
Blumenpoesie, romantisch spielende Ironie verbinden sich mit der gemütvollen Innigkeit
des biedermeierlichen Lebensgefühls. Wenn aber die Grimmschen Märchen weit über ihre
Zeit hinaus wirkten und sich die Welt eroberten, wenn sie auch zu uns Heutigen sprechen,
wenn nicht nur das Erzählte, sondern auch die Art dieses Erzählens uns entzückt, so
erweist das einmal mehr, dass beide Stilrichtungen nicht bloss historisch sind; die Zeit
der Romantik, die Zeit des Biedermeiers entfaltete nur besonders rein und machtvoll
Empfindungsweisen, die zu allen Zeiten und in jedem Menschen möglich sind.
Die klassischen Märchensammlungen anderer Völker gehören anderen Epochen an. Das
berühmteste italienische Märchenbuch ist der Pentamerone", 50 Geschichten, die der
neapolitanische Dichter Giambattista Basile zu Beginn des 17. Jahrhunderts zusammentrug,
viele von ihnen aus dem Volksmund geschöpft. Sie sind in neapolitanischer Mundart
geschrieben; aber auch Basile hat die Märchen nicht ganz rein wiedergegeben, sondern nach
seinem Geschmack ausgestaltet. Es war der Geschmack des barocken Zeitalters. Da unser
eigenes Jahrhundert ein neues Verständnis für den Barockstil entwickelt hat, lesen wir
heute Basiles hübsche und humorvolle Erzählungen mit besonderer Empfänglichkeit. Die 5.
Geschichte des 5. Tages trägt den Titel "Sonne, Mond und Talia"; sie entspricht
unserem Dornröschen. Ihr Anfang lautet:
Es war einmal ein vornehmer Herr, der bei der Geburt einer Tochter alle Weisen und
Wahrsager des Königreichs zusammenkommen liess, damit sie ihr Lebensgeschick prophezeien
sollten. Nach mehrfachen Beratungen nun sagten sie aus, dass ihr durch eine Flachsfaser
grosse Gefahr drohe, weshalb ihr Vater, um jedem Unfall vorzubeugen, ein strenges Gebot
erliess, dass weder Flachs noch Hanf noch irgend etwas Ähnliches jemals in seinen Palast
gebracht würde. Als jedoch Talia herangewachsen war und eines Tages am Fenster stand, sah
sie eine alte Frau vorübergehen, welche spann, und da sie niemals weder Kunkel noch
Spindel zu Gesicht bekommen hatte, sie auch an dem Hinundherdrehen derselben grossen
Gefallen fand, wurde sie von so grosser Neugier ergriffen, dass sie die Alte heraufkommen
liess und, den Rocken in die Hand nehmend, anfing den Faden zu drehen, unglücklicherweise
jedoch stach sie sich dabei eine Hanffaser unter den Nagel eines Fingers, und sogleich
fiel sie tot zur Erde. Sobald die Alte dies sah, eilte sie die Treppe hinunter, der arme
Vater aber, von dem Unfall unterrichtet, bezahlte erst mit ganzen Fässern Tränen diesen
Becher Wermuttrank, liess dann die tote Tochter in dem Lustschloss, in welchem er sich
eben befand, auf einen Samtsessel unter einem Thronhimmel von Brokat setzen, worauf er
alle Türen verschloss und den Ort, welcher die Ursache eines solchen Unglückes gewesen
war, verliess, um gänzlich und für immer das Andenken daran aus seinem Gedächtnis zu
verbannen.
Basile kennt also weder den weissagenden Frosch noch die Wünsche der Feen, ein
Zeichen, wie wenig solche Figuren zum Kern der Erzählung gehören; aber das Motiv der
Prophezeiung und damit der Bedrohung durch ein unvermeidbares Schicksal ist auch hier
deutlich genug ausgeformt. Wie bei Grimm führen gerade die Versuche, dem Schicksal zu
entgehen, dieses erst recht herbei: Nur weil Spindel und Hanf dem Mädchen ein ungewohnter
Anblick sind, ist es so begierig, mit ihnen umzugehen. Man denkt unwillkürlich an den
antiken Mythos von Ödipus. Reizvoll zu beobachten ist, wie der barocke Stil des 17.
Jahrhunderts in Basiles Erzählweise zum Vorschein kommt: barocke Prunkliebe setzt die
tote Talia auf einen Sammetsessel unter einen Thronhimmel von Brokat, barocker Humor
lässt den Vater viele Fässer von Tränen weinen, und manieristisch-barocke Vorliebe für
schlagartige Veränderungen lässt ihn gleich darauf die geliebte Tochter "gänzlich
und für immer vergessen". Die Fortsetzung des italienischen Märchens bringt ein
Motiv, das wir bei Grimm nicht finden:
Es geschah nun aber eines Tages, dass der König auf die Jagd ging und ein Falke,
der ihm von der Faust entschlüpfte, in ein Fenster jenes Schlosses flog, so dass der
König, da der Vogel nicht auf die Lockpfeife hörte, an das Tor pochen liess, indem er
glaubte, dass das Gebäude bewohnt würde. Nach langem und vergeblichem Klopfen jedoch
hiess der König eine Winzerleiter herbeiholen, um selbst hineinzusteigen und zu sehen,
wie es inwendig aussehe, und nachdem er es ganz durchwandert hatte, war er ganz ausser
sich vor Staunen, keine lebende Seele darin zu finden. Endlich jedoch gelangte er in das
Zimmer, in welchem die bezauberte Prinzessin sich befand, und rief sie, indem er glaubte,
dass sie schliefe; da sie aber trotz alles seines Schreiens und Rüttelns nicht erwachte,
er aber von ihrer Schönheit durch und durch erglühte, so trug er sie in seinen Armen auf
ein Lager und pflückte dort die Früchte der Liebe. Hierauf liess er sie auf dem Bette
liegen und kehrte in sein Königreich zurück, woselbst er eine lange Zeit an diesen
Vorfall nicht mehr dachte.
Talia aber gebar nach neun Monaten ein Zwillingspaar, einen Knaben und ein Mädchen
welche einem zwiefachen Juwelenschmuck glichen und von zwei Feen, die in jenem Palast
erschienen, an die Brust der Mutter gelegt und sonst auch aufs sorgfältigste gepflegt
wurden. Da sie nun einmal wieder saugen wollten und die Brustwarzen nicht fanden, so
erfassten sie einen Finger und saugten daran so lange, bis sie die Faser herauszogen,
worauf Talia wie aus einem tiefen Schlaf zu erwachen schien, den kleinen Engeln, welche
sie neben sich sah, die Brust darreichte und sie lieb gewann wie ihr eigenes Leben,
während sie jedoch gar nicht wusste, was mit ihr vorgegangen war, da sie nämlich
wahrnahm, dass sie sich mit zwei Säuglingen ganz allein in dem Palast befand und von
unsichtbaren Händen Speis und Trank herbeibringen sah.
Jacob Grimm fand den Zug, dass der Säugling der schlafenden Mutter die Flachsfaser aus
dem Finger saugt, besonders schön. Und wirklich hat diese Art der Erweckung, die in
barocker Weise das Natürliche mit dem Phantastischen vermählt, ihren eigenen Zauber.
Wenn in der Grimmschen Fassung ein Kuss Dornröschen erlöst, so steht dies in keinem
sichtbaren Bezug zu der Ursache der Verzauberung, zum Stich der Spindel. Basiles Variante
aber kennt eine Art künstlerischer Ökonomie: Die Hanffaser, die Talia in den
Zauberschlaf fallen lässt, spielt auch bei der Erweckung wieder ihre Rolle. Und dass es
die Kinder sind, die, ohne es zu wollen und zu wissen, die eigentliche Erlösung der
Schlafenden bewirken, ist besonders hübsch und bedeutsam.
Auch in dem ältesten Märchenbuch Frankreichs, in den "Contes de ma mère
l'Oye" von Charles Perrault, finden wir eine Dornröschen-Variante. Perrault war ein
Architekt des späten 17. Jahrhunderts, zur Zeit der Blüte des französischen
Klassizismus Mitglied der französischen Akademie. Er veröffentlichte 1697 acht Märchen,
die, im Gegensatz zu vielen frei fabulierten Feenmärchen der damaligen Mode, deutlich
ihre Herkunft aus dem Volk verraten. "Die schlafende Schöne im Walde", La belle
au bois dormant, eröffnet die Sammlung. Als Probe für Perraults Erzählweise stehe hier
die Stelle, wo das Erwachen der Prinzessin erzählt wird:
Der Prinz, zitternd und voll Bewunderung, näherte sich der Schlafenden und sank vor
ihr auf die Knie. Weil nun das Ende der Verzauberung gekommen war, erwachte die
Prinzessin, schaute ihn mit zärtlicheren Blicken an, als eine erste Begegnung eigentlich
gestattet hätte, und sprach zu ihm: "Seid Ihr's, mein Prinz? Ihr habt recht lange
auf Euch warten lassen." Den Prinzen entzückten diese Worte und noch mehr der Ton,
in dem sie gesprochen wurden; er wusste nicht, wie er ihr seine Freude und Zuneigung
kundgeben sollte; er versicherte ihr, dass er sie mehr als sich selber liebe. Seine Sätze
waren ein wenig wirr; sie gefielen nur umso mehr: wenig Beredsamkeit - viel Liebe. Seine
Verlegenheit war grösser als die ihre, und das ist nicht erstaunlich: Sie hatte ja Zeit
gehabt, darüber nachzudenken, was sie ihm sagen solle.
Später heisst es:
Der Prinz half der Prinzessin aufstehen. Sie war in voller Kleidung, und die war von
grosser Pracht. Aber er hütete sich wohl, ihr zu sagen, dass sie wie seine Grossmutter
gekleidet sei und einen steifen Kragen habe; sie war deswegen nicht minder schön. - Sie
betraten einen Spiegelsaal und speisten da, bedient von den Kammerdienern der Prinzessin.
Die Violinen und Hoboen spielten alte Stücke, die waren vortrefflich, obwohl man sie seit
bald 100 Jahren nicht mehr zu spielen pflegte. Nach dem Abendessen verlor man keine Zeit,
der Kaplan traute die beiden in der Schlosskapelle, und dann zog die Ehrendame den
Vorhang. Sie schliefen wenig: Die Prinzessin hatte es nicht eben nötig, und der Prinz
verliess sie am frühen Morgen, um in die Stadt zurückzukehren, wo sein Vater sich um Ihn
sorgen musste.
Hier haben wir, anders als bei Grimm, die Ironie des galanten Salons, und sie richtet
sich gegen das liebende Paar selber, nicht nur gegen dessen Umgebung. Aber auch diesmal
gibt die Ironie der Erzählung Würze, ohne sie in ihrer Grundstruktur aufzulösen.
Perrault kann es sich nicht versagen, den Ablauf der hundert Jahre durch immer neue
Bemerkungen recht fühlbar zu machen. Damit verstösst er gegen den Stil des
Volksmärchens, zu dessen Eigenarten es gerade gehört, Zeit und Zeitverrinnen ausser Acht
zu lassen, wie denn auch die Brüder Grimm sich hüten, Dornröschens Kleid als altmodisch
zu bezeichnen. Aber die Ironie Perraults streift nur die Oberfläche der Erzählung; deren
Unempfindlichkeit für den Verfall, den alles Zeitverfliessen in der Welt des Menschen mit
sich bringt, wird durch seine lächelnden Hinweise erst recht hervorgehoben. Der zweite
Teil seines Märchens gleicht jenem Basiles. Auch Perraults Heldin - werden zwei Kinder
geschenkt, sie heissen nicht Sole e Luna wie bei Basile, sondern Aurore et Jour. Basile
und Perrault erzählen beide, wie diese Kinder und die Heldin selber unter den
Nachstellungen einer bösen Königin zu leiden haben, sie sollen getötet werden, aber das
Mitleid der gedungenen Mörder rettet sie - ist dieser letzte Teil des Märchens ein bloss
zufälliges Anhängsel, aus einem anderen Märchen willkürlich herübergenommen, um die
Erzählung zu verlängern? Das Thema der Todesdrohung und der glücklichen Errettung wird
hier noch einmal angeschlagen; auch wenn dieser letzte Teil von aussen stammen sollte, er
fügt sich gut an, er variiert das Grundthema.
Der Vergleich der verschiedenen Varianten zeigt, dass wir mit Einzeldeutungen
vorsichtig sein müssen. Die Namen Sonne und Mond, Morgenröte und Tag, wie sie sich bei
Basile und Perrault finden, bestärkten die Brüder Grimm in ihrer Meinung, dass sich im
Dornröschenmärchen ein Naturvorgang spiegle. Darin werden wir ihnen nicht widersprechen.
Wenn sie aber in der Rosenhecke und ähnlich in dem Flammenwall, hinter dem die nordische
Brynhilde schläft, ein Bild der Morgenröte sehen wollen, so ist damit der Punkt
erreicht, wo die Deutungen problematisch werden. Enge und starre Zuschreibungen sind der
lebendigen Dichtung nicht gewachsen. Darf man in den zwölf Feen die zwölf Monate sehen,
welche die Erde, die Natur mit ihren mannigfaltigen Gaben beschenken? Die zürnende
dreizehnte wäre dann - ja, solche Vorschläge sind allen Ernstes gemacht worden: die
Personifikation des entthronten, vergessenen dreizehnten Monats, das Ganze würde den
Übergang vom Mondjahr mit seinen dreizehn zum Sonnenjahr mit seinen 12 Monaten bildlich
darstellen. Die 100 Jahre, erklärt man, seien nichts anderes als eine poetische
Übertreibung für die 100 Tage des Winters, während deren die Erde im Schlaf gefangen
liegt. In solch klügelnder Allegorik führt sich die naturmythologische Deutung ad
absurdum. Schon für die Variante Perraults passt diese ganze Theorie nicht mehr, denn bei
Perrault ist nicht von 12, sondern von 7 guten Feen die Rede. Man muss sich hüten, jeden
einzelnen Zug, alle Dornen und alle Fliegen deuten zu wollen; manche dieser Einzelheiten
sind blosser Schmuck, vom zufälligen letzten Erzähler hinzugefügt. Sieben und zwölf
sind beliebte Märchenzahlen, man sollte hinter ihnen nicht jedesmal ein Mysterium
vermuten. Doch lassen die drei besprochenen Varianten, zu denen eine Anzahl in
verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern aufgezeichnete Fassungen treten, uns
spüren, dass im Gesamtablauf ein bedeutsames, immer und überall wiederkehrendes
Geschehen wirksam ist: Bedrohung und Erlösung, Lähmung und neues Erblühen, Tod und
Auferstehung. Die einzelnen Bearbeiter werfen dem Märchen das Kleid ihrer Zeit über, und
die Spannung zwischen der inneren Form des Märchens und der äusseren Einkleidung kann
für einen verwöhnten Geschmack von besonderem Reiz sein. Jedenfalls möchten wir weder
die Eleganz und Pointiertheit Perraults noch die gemütvolle Feinheit der Grimms, noch
auch die Kraft und Verve Basiles missen - noch den Humor, der alle drei Erzählungen
auszeichnet. Basiles oft ruchlose Spässe sind nicht in usum Delphini geschrieben; die
beiden anderen Erzählungen aber vermögen Kinder ebenso wie Erwachsene zu entzücken und
zu erquicken.
Quelle: Freundesgabe. Jahrbuch der Gesellschaft zur Pflege des Märchengutes der
Europäischen Völker e.V., 1960 I, Seite 3-12.