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Initiation und Zaubermärchen

Mircea Eliade

 

Der Verfasser geht im folgenden auf die Ritualtheorie des französischen Gelehrten Paul Saintyves ein. Saintyves' Hauptwerk "Les Contes de Perrault et les récits parallèles" (1923) ist trotz ungenügender Information sowie Uneinheitlichkeit in der Methode noch immer lesenswert. Die Wahl seines Arbeitsmaterials war allerdings ein Fehlgriff, denn Perraults Märchen sind als Grundlage für eine vergleichende Untersuchung nicht sehr geeignet. Das Märchen vom "Gestiefelten Kater" zum Beispiel ist weder in Deutschland noch in Skandinavien belegt. Es taucht erst spät und durch Perraults Einfluss in Deutschland auf. Immerhin verdanken wir Saintyves die wichtige Erkenntnis, dass im Märchen vorkommende Ritualmotive auf religiöse Riten hinweisen, die noch heute bei manchen Völkern lebendig sind. Der sowjetische Volkskundler V. Propp hat in seinem Buch "Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens" (Leningrad 1946) die Theorie von Saintyves wiederaufgenommen und weiterentwickelt. Propp sieht in den Märchen Reste totemistischer Initiationsriten. Die Initiationsstruktur der Märchen liegt auf der Hand, und es wird hier noch davon die Rede sein.

Wir finden im Märchen nie eine genaue Entsprechung für ein bestimmtes Stadium einer Kultur. Verschiedene Stile, verschiedene geschichtliche Zyklen überschneiden einander. Übrig bleiben die Strukturen eines exemplarischen Verhaltens, wie sie sich in verschiedenen Kulturräumen und historischen Epochen abheben lassen.

Die Sage hat teil an der mythischen Welt, während sich das Märchen davon löst. Der Sagenheld bewegt sich in einer von den Göttern und vom Schicksal regierten Welt. Die Märchenfiguren hingegen brauchen keinen Gott. Ihnen verhelfen ihre Beschützer und Gefährten zum Sieg. Dieses beinahe ironische Losgelöstsein vom Göttlichen geht Hand in Hand mit einer totalen Problemlosigkeit. Im Märchen ist die Welt einfach und durchscheinend. Die Wirklichkeit ist keines von beiden.

In den "Primitivkulturen" treten Mythen und Märchen oft gemischt auf. (In dieser Form werden sie fast immer von den Ethnologen dargeboten.) Manchmal erscheint etwas im Gewand des Mythos, was sich beim Nachbarstamm als gewöhnliches Märchen entpuppt. Den Religionswissenschaftler und den Ethnologen interessiert an dieser Unmenge von mündlichen Zeugnissen der Volksliteratur vor allem das Verhalten des Menschen zum Sakralen. Sie stellen fest, dass im Märchen nicht immer eine Desakralisierung der mythischen Welt stattfindet. Es handelt sich eher um einen Konturverlust mythischer Figuren und Motive, und man sollte anstatt "Desakralisierung" den Ausdruck "Verfall des Sakralen" gebrauchen. Jan de Vries hat ja klar aufgezeigt, dass zwischen Mythos, Märchen und Sage kein Kontinuitätsbruch besteht. Wenn die Götter in den Märchen auch nicht mehr als Götter auftreten, so sehen wir sie doch durch den Habitus anderer Figuren durchscheinen, wie im Beschützer, Gegner oder Begleiter des Helden. Sie werden konturlos, oder "verfallen", wenn man es lieber so nennt, aber sie erfüllen immer noch ihre Funktion.

Das Zaubermärchen ist im Abendland schon seit langer Zeit zu einer Unterhaltungsliteratur für Kinder und Bauern, und für den Stadtmenschen ein Mittel der Flucht geworden, aber es trägt unverändert die Struktur eines sehr bedeutenden und verantwortungsvollen Ereignisses, das letztlich auf einen Initiationsvorgang hinweist. Immer wieder stösst man auf Initiationsprüfungen (Kampf gegen ein Ungeheuer, scheinbar unüberwindliche Hindernisse, aufgegebene Rätsel, unmöglich zu erfüllende Aufgaben), auf Höllen- und Himmelfahrt oder auf Tod und Auferstehung (was eigentlich dasselbe bedeutet), und auf die Hochzeit mit der Prinzessin.

Es lässt sich schwer feststellen, wann das Märchen vom bedeutsamen, erzählten Initiationsvorgang zur einfachen und unverbindlichen Zaubergeschichte geworden ist. In manchen Kulturen wenigstens mag dieser Übergang zu einem Zeitpunkt eingetreten sein, da die überlieferte Ideologie und die traditionellen Einweihungsriten ausser Gebrauch gekommen sind, und da man ungestraft "erzählen" konnte, was früher "tabu" gewesen war. Eine solche Entwicklung lässt sich jedoch als allgemeine Erscheinung nicht nachweisen. In manchen "Primitivkulturen", in denen man die Initiationsriten noch praktiziert, werden daneben schon seit langer Zeit Geschichten mit Initiationsstruktur erzählt.

Man könnte fast sagen, dass das Märchen auf einer anderen Ebene und mit neuen Ausdrucksmitteln das exemplarische Initiationsschema wiederholt. Es überträgt die Initiation auf die Ebene des Imaginären. Nur einem verflachten Bewusstsein, und vor allem dem Bewusstsein des modernen Menschen, ist das Märchen Unterhaltung und Flucht aus der Wirklichkeit. In den Tiefen des Unbewussten behalten die im Märchen aufgezeichneten Initiationsvorgänge ihre Bedeutung, dort bewirken sie wie eh und je Veränderungen. Während sich der moderne Mensch bei der Lektüre des Märchens zu unterhalten oder der Wirklichkeit zu entrinnen glaubt, unterliegt er unbewusst dem Einfluss, den die Initiation im Gewande des Märchens auf ihn ausübt. Man könnte annehmen, dass das Zaubermärchen sehr bald eine leichtere Nachahmung der genannten Mythen und Riten geworden ist und dass es einfach die Aufgabe hat, die Initiationsprüfungen auf der Ebene des Traumes und der Phantasie zu reaktualisieren. Dieser Standpunkt wird nur diejenigen überraschen, die in der Initiation ausschliesslich eine Verhaltensweise des Menschen der traditionellen Gesellschaften sehen. Allmählich wird man sich aber heute dessen bewusst, dass die sogenannte "Initiation" eine ans menschliche Dasein gebundene Grundsituation ist und dass sich jedes Menschenleben aus einer Folge von Prüfungen, von Sterben und Auferstehen zusammensetzt, welche Ausdrücke auch immer die moderne Sprache benützt, um diese (ursprünglich religiösen) Erfahrungen klarzumachen.

 

Quelle: Nouvelle Revue française 3, 1956. p. 884-891. Originaltitel: Les savants et les contes de fées. (gekürzt)


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