Märchen und Totemismus
Kurt Derungs
Wer auch immer sich mit Mythen und Märchen beschäftigt, wird dem Tier
als einer Hauptgestalt begegnen. Das Tier ist dem Menschen vielfach in Freundschaft
verbunden, ist Helfer und Schützer und kennt die Zauberdinge, ohne welche die Heldin oder
der Held ihren Weg nicht beschreiten könnten. Aber vor allem erscheint das Tier in einer
grundsätzlich verschiedenen Selbstverständlichkeit, als dies in der heutigen
Weltauffassung der Fall ist: Das Tier ist noch nicht das Untermenschliche, ein Wesen
zweiter Ordnung, das es zu beherrschen gilt. Das Tier ist dem Menschen gleichgestellt oder
sogar überlegen. Es ist von gleicher Abstammung wie der Mensch, oder der Mensch leitet
seine Herkunft von einem Tier ab, welches als Ahnin oder Ahne angesehen wird. Betrachten
wir besonders urtümliche Erzählungen, können wir allgemein sagen, dass Menschen und
Tiere ursprünglich derselben Familie angehören.
Zu dieser Verwandtschaft von Mensch und Tier gesellen sich fliessende
Übergänge der beiden Wesen, d.h. die charakteristische Verwandlungs- und
Sprachfähigkeit besonders im Zaubermärchen. Ohne Staunen - eben im kulturellen
Selbstverständnis des Märchens - wechseln Menschen ihre Gestalt, sprechen, helfen und
erleben nun als Tiere ihren weiteren Werdegang, bis sie ebenso unbekümmert
"entzaubert" in Menschengestalt wiederkehren. Die fliessenden Übergänge und
die gemeinsamen Verwandtschaftsverhältnisse zeigen somit ein erweitertes
Gesellschaftsverständnis, welches die menschlich-sozialen Begebenheiten auf die Umwelt
überträgt, bzw. die Natur in den gesellschaftlichen Ablauf mit einbezieht. Diese
Wechselseitigkeit ist ein sehr altes Motiv, welches das Märchen bewahren konnte, und
zeigt oftmals einen Kreislauf bzw. regenerativen Handlungsverlauf: Verwandlung und
Rückverwandlung oder Verzauberung und Entzauberung etc. als Erfahrungen von Tod und
Wiederkehr. Solche Züge erhalten Farbe und Verständnis, wenn wir sie kulturgeschichtlich
in einem ebenfalls sehr alten Wiedergeburtsglauben entschlüsseln.
Abstammung, Verwandtschaft und Verwandlung treffen in zwei
hochinteressanten Motiven zusammen, die uns im Märchen wie im Glauben der Völker häufig
begegnen: die Herkunft der Kinder (die "übernatürliche" Empfängnis) sowie die
Seelenverwandtschaft (der Lebensgleichlauf von Mensch und Tier). Stirbt der Mensch, so
stirbt auch sein Zweites Ich und umgekehrt. Die Alter-Ego-Vorstellung, die Seele im Tier
oder die Tierseele versinnbildlicht noch einmal das innige Verhältnis von Mensch und Tier
und verweist wiederum auf eine ganz andere Lebensauffassung des Märchens. Ebenso führt
uns die Kinderherkunft im Märchen - Empfängnis durch eine Frucht, ein Insekt, durch
Wasser oder Wind etc. - zu vorgeschichtlichen Zeiten und Kulturen oder zu
Glaubensauffassungen noch existierender Völker.
Aber nicht nur mit dem Tier ist der Mensch im Märchen innigst verbunden.
Die Allverbundenheit, die allseitige Beziehungsfähigkeit ist mit jedem Naturobjekt der
Umwelt möglich, seien dies Bäume oder Steine, Gestirne oder Elemente. Mensch und Natur
sprechen die gleiche Sprache, wenn Sonne, Mond und Sterne die Heldin oder den Helden auf
ihren Wegen beraten oder der Vogel der Wahrheit das Geheimnis der Steinverwandlung
berichtet. Sowohl die unbelebte als auch die belebte Natur, der ganze Kosmos ist im
Märchen belebt und beseelt, was ein Märchen der Kabylen ausspricht: "Im Anfange
sprachen alle Steine, sprach alles Holz, sprach alles Wasser, sprach die Erde."
Selbst der Knochen besitzt Verwandlungs- und Sprachfähigkeit; er ist Vitalträger par
excellence und führt im Motivvergleich zur glücklichen Wiedergeburt der Verstorbenen:
"Ach, du liebes Hirtelein, du bläst auf meinem Knöchelein, mein Bruder hat mich
erschlagen, unter der Brücke begraben, um das wilde Schwein, für des Königs
Töchterlein." (KHM 28)
Damit hätten wir einige Wesensmerkmale und bezeichnende Motive des
Märchens beschrieben. Doch mit diesem Katalog könnten wir ebenso Wesentliches im
Totemismus skizzieren. Die Parallelen und Erscheinungsformen im Totemismus, also einer
religions-ethnologischen Realität, und in traditionellen Erzählungen, also einer
sprachlich-textmässigen Überlieferung, sind erstaunlich. Nicht nur die Märchen der
sogenannten Naturvölker sind totemistisch geprägt, sondern auch die Märchen in
"Hochkulturen" weisen einen hohen Prozentsatz totemistischer Phänomene auf. Das
beweist jede europäische, indische oder ostasiatische Märchensammlung, wie auch immer
sie redigiert worden ist. Der totemistische Kern fasziniert und bildet das mit, was das
Wesen des Märchens ausmacht. Was wären z.B. die Grimm-Märchen ohne Tiere?
Doch unser Katalog des Märchens lässt sich nicht nur mit dem Totemismus
parallelisieren. Auch im Schamanismus finden wir verblüffende Übereinstimmungen vor, was
sich weltweit immer wieder an ganz verschiedenen Orten zeigen lässt. Ich erinnere z.B. an
die Abstammung der Schamaninnen und Schamanen von einer Tier-Mutter oder an den
Lebensgleichlauf von Schamane und Schamanenbaum. Oder an die zahlreichen Tierverwandlungen
und Tier-(Ahnen)-Helfer, geschweige denn von der Sprache der Tiere, welche von den
Schamanen erlernt werden muss: "Da lag eine weisse Schlange darin, wie er die ansah,
bekam er auch Lust davon zu essen und schnitt sich ein Stück ab und ass es. Kaum aber
hatte das Schlangenfleisch seine Lippen berührt, so verstand er die Tiersprache, und
hörte, was die Vögel vor dem Fenster zu einander sagten." (KHM 17 1812) Ebenso
finden wir sowohl im Märchen wie im Schamanismus die alte Auffassung und Einteilung der
Welt nach Stockwerken, nämlich in eine Obere, Mittlere und Untere Welt, welche durch eine
märchenhafte Jenseitsreise oder durch schamanistische Tod- und Wiederkehrerlebnisse
bereist werden können. Dazu gehört wiederum ein Reittier als Tierhelferfigur sowie die
Ausdrücke "Wegreiten" und "Wegfliegen" für eine schamanistische
Jenseitsreise.
Das Märchen ist damit nicht nur totemistisch geprägt, sondern zu einem
grossen Teil auch schamanistisch, so dass wir von einem totemistisch-schamanistischen
Weltbild im Märchen sprechen können. Es sind dies jene Schichten im Zaubermärchen, die
uns beim Lesen oder Hören vor allem ansprechen, auch wenn wir schon lange nicht mehr in
diesem Kulturkontext leben. Interessanterweise sind es besonders die Frühformen des
totemistisch-schamanistischen Weltbildes wie z.B. die "übernatürliche"
Empfängnis oder der verwandtschaftliche Lebensgleichlauf (Zweites Ich), die im Märchen
so vielfältig vertreten sind, wenn auch hier vor allem in den urtümlichen Schichten und
Zügen.
Überhaupt ist Totemismus nicht gleich Totemismus, so wie sich im
Schamanismus und im Märchen kulturgeschichtliche Umformungen und Überschichtungen
feststellen lassen. So erkennen wir z.B. im "hochkulturellen" Speiseverbot
letzte, sinn- und kontextlose Reste eines einstmals lebendigen Totemismus mit
verwandtschaftlichen Tabuvorstellungen. Was uns hier also ethnologisch interessiert, sind
Frühformen des Totemismus, Frühformen des Schamanismus und archaische Motive im
Zaubermärchen. Alle drei Bereiche lassen sich wiederum kulturgeschichtlich auswerten, was
zu erstaunlichen Ergebnissen führt. So hat sich im Zaubermärchen ein hoher Prozentsatz
einer matriarchalen Mythologie erhalten, ebenso verweisen die Frühformen des Schamanismus
auf ein Schamaninnentum mit entsprechender matriarchaler Gesellschaftsstruktur. Gleiches
gilt in Ansätzen für die Frühformen des Totemismus.
Tiere im Märchen
Eines der sehr urtümlichen Märchen-Motive, das sich direkt mit
totemistischen Vorstellungen vergleichen lässt, finden wir im Märchen von der Unke (=
Ringelnatter, KHM 105). Hier lebt ein Kind in enger Freundschaft mit einer Hausschlange,
welche sein Zweites Ich oder Alter Ego darstellt. Eines Tages wird diese Schlange
getötet, und eine merkwürdige Veränderung geht nun im Kind vor. Schliesslich stirbt
auch das menschliche Alter Ego, das im Lebensgleichlauf mit seinem tierischen in Symbiose
gelebt hat. Ganz ähnliche Motive finden wir in verschiedenen Sagen oder in
volkskundlichen Glaubensvorstellungen, was wir mit Sympathievorstellungen beschreiben
können. Ich erinnere z.B. an die - leider sehr dämonisierten - Sagen von den Weisen
Frauen, die sich in Tiere verwandeln können und so den Menschen als Katze oder Fuchs etc.
begegnen. Dem Tier geschieht nun eine böswillige Verletzung, da es als verwandelte
"Hexe" geglaubt wird. Tags darauf wird dann eine Frau im Dorf gesehen, die
ebenfalls eine Verletzung auf sich trägt und sich so zu erkennen gibt. Ein Beispiel aus
dem Volksglauben ist der Brauch des Geburtsbaumes. Bei der Geburt eines Kindes wird ein
entsprechender Baum gepflanzt, der dann im Lebensgleichlauf mit dem Neugeborenen steht.
Baum und Mensch teilen nun ihr Schicksal, und was dem einen widerfährt, geschieht auch
dem anderen. Die totemistischen Vorstellungen sind somit auch in Europa nicht gänzlich
verschwunden; sie haben sich im Prozess der "Zivilisierung" in Sage, Brauch und
Märchen verflüchtigt.
Unzählig sind die Märchen mit helfenden und rettenden Tieren, die der
Heldin oder dem Held beigegeben sind. Diese erwerben die Hauptfiguren auf verschiedene Art
und Weise. Die Tiere werden ihnen geschenkt und erweisen sich später als klug und
hilfreich, oder, was sehr häufig vorkommt, der Held hat sich als entgegenkommend und
wohlwollend erwiesen, so dass sich das dankbare Tier nun als freundschaftlicher Helfer
anbietet. Oder das helfende Tier erscheint dem Helden plötzlich (in einer misslichen
Lage) und beschreitet den weiteren Werdegang mit ihm. Nicht selten steht am Schluss der
erfolgreichen Abenteuer die Rückverwandlung des Helfertieres in seine menschliche
Gestalt, wobei dies durch dessen Tod (erwünschtes Köpfen etc.) geschehen muss. Leider
sind im Märchen die Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnisse nur sehr selten
angegeben, dort, wo sie aber erwähnt werden, erscheint das Tier als
"verzauberter" Verwandter oder "Bruder" etc., jedenfalls als
Sippenangehöriger. Ich erinnere wiederum an das totemistisch-schamanistische Helfertier,
das als Schwester, Bruder oder allgemein als Ahne angesprochen wird. Diese Ahnen sind es -
und jede religions-ethnologische Untersuchung wird dies bestätigen - von denen die
Menschen Hilfe und Schutz erbeten und denen man in Dankbarkeit für ihr Wohlwollen
Opfergaben bereitet.
Häufig stammen die Menschen von einer Urahnin, einem Urahnen oder einem
Stammelternpaar ab, wobei diese auch in tierischer Gestalt gedacht werden. In China
erscheint die Schlangen- oder Drachenfrau Nü-kwa als alte Schöpfergöttin; ihr zugesellt
wurde ihr Bruder, der ebenfalls halb menschlich und halb tierisch dargestellt ist. Durch
die Vereinigung der Geschwister entstanden die ersten Menschen, ein Motiv, das sich im
asiatischen Raum bei fast jeder Ethnie wiederfinden lässt. Die Yao, eine Minderheit in
China, leiten sich von einer menschlichen "Prinzessin" und einem Hundeheros ab,
den sie hoch verehren. Die vietnamesische Legende wiederum berichtet von einer Urmutter Au
Co (Schlange, Drachin, Schildkröte), die hundert Eier legte, aus denen die Völker
entstanden sind. In einem Märchen aus Bhutan, welches Züge von KHM 96 aufweist, gebärt
eine Katze Zwillingsmädchen, die von ihrer Tier-Mutter vor ihrem Tod ein sie
kennzeichnendes Schmuckstück erhalten. Dieser Tier-Mutter begegnen wir auch in denjenigen
Märchen, in denen der Held von einer Hündin, Bärin, Stute, Wölfin oder Hindin etc.
gesäugt und grossgezogen wird. In nördlichen Regionen ist es das Märchen vom
Bärensohn, das von der Vereinigung von Mensch und Tier berichtet. Zu Beginn der
Erzählung steht hier die Entführung einer Frau durch einen Bären, der sie in seiner
Höhle festhält. Sie wird seine Frau und schenkt bald darauf einem Sohn das Leben.
Ein burmesisches Märchen berichtet von der Abstammung von einer
Tier-Mutter, einer Hündin, die zu einer menschengestaltigen Frau wird und einen König
heiratet. Aus Kummer verwandelt sich die Königin wieder in eine Hündin, stirbt auf der
Suche nach der jüngsten Tochter und verwandelt sich in einen goldenen Baum. Die
fliessenden Übergänge und die totemistisch-schamanistischen Spuren zeigen sich in diesem
Märchen ebenso wie die Relikte einer matriarchalen Mythologie, was in Südostasien noch
mit der entsprechenden Gesellschaftsstruktur verdeutlicht werden kann. Aber auch
patriarchale Umformungen und hochreligiöse Überlagerungen sind in diesem Märchen
greifbar. So bewirkt die totemistische Selbstverständlichkeit der Verwandlung nun ein
Eremit/Zauberer, und dem Herrscher-König ist eine Tier-Frau nicht zumutbar, ja der
totemistische Hintergrund erhält einen abwertenden Anstrich und eine gesellschaftliche
Deklassierung. Trotzdem ist die alte totemistische Abstammung und der matrilineare Erbgang
von der Tier-Mutter bzw. Göttin in Tiergestalt für die jüngste Tochter und
Erbprinzessin noch die wirkliche Inthronisation.
Der goldene Baum
In einem grossen Wald lebte ein alter Eremit. Eines Tages kam zu ihm
ein mageres und halb verhungertes Hündchen gelaufen, die Augen voller Furcht. "Komm,
du arme kleine Kreatur!" sagte der Eremit, denn er hatte Mitleid mit dem Tier.
"Die wilden Tiere des Waldes werden dich sicher töten. Bleibe bei mir! Da tut dir
niemand etwas zuleide." Der Eremit gab dem Hündchen ein Plätzchen, und sie teilten
sich die Früchte und Beeren, von denen sie lebten.
Eines Tages sass der Einsiedler lange, lange Zeit da und schaute auf
das Hündchen. Schliesslich sagte er: "Ich werde immer älter und bin nicht länger
imstande, Früchte und Beeren für meine täglichen Mahlzeiten zu sammeln. Ich brauche
jemanden, der in meinen alten Tagen nach mir schaut. Deshalb werde ich beten, dass du
menschliche Gestalt annehmen mögst." Der alte Eremit schloss die Augen und begann zu
beten. Er betete lange. Als er die Augen wieder öffnete, stand vor ihm ein schönes
Mädchen. Der Eremit war sehr glücklich über die Erfüllung seines Wunsches. Er
behandelte das Mädchen, als wäre es seine Tochter. Auch das Mädchen war sehr
glücklich. Sie kümmerte sich um den Eremiten, so gut sie konnte. Der Eremit lebte
zufrieden, nur eines beunruhigte ihn. Das Mädchen war sehr gut, aber sie hatte einen
Fehler. Wie alle Hunde fand sie grossen Gefallen, in Leder zu beissen. Der Eremit wusste
das, und jede Nacht, ehe er schlafen ging, versteckte er seine Sandalen. Jede Nacht hörte
er aber das Mädchen weinen und schluchzen und dem Geruch des Leders nachgehen, um etwas
zum Kauen zu finden. Erst mit der Zeit gab das Mädchen diese Angewohnheit auf.
Als etliche Wochen vergangen waren, wurde eines schönen Morgens der
Frieden des Waldes durch den Klang von Hörnern und das Tuten von Blasmuscheln gestört.
Der König veranstaltete eine Jagd. Er war gerade einem Reh auf der Spur und kam dabei zu
der Hütte des Eremiten. Dort sah er das hübsche Mädchen und hielt auf der Stelle sein
Pferd an. Noch niemals hatte er ein schöneres Mädchen gesehen, und sie gefiel ihm
gleich. "O frommer Mann", sagte der König zum Eremiten, "wenn dieses
schöne Mädchen deine Tochter ist, dann gib deinen Segen und erlaube mir, sie zu meiner
einzigen Königin zu machen!" "Sie ist nicht von hoher Geburt, um eine passende
Königin für Euch zu sein", entgegnete der Eremit. "Ich bitte Euch, zieht
weiter und lasst meine Tochter hier!" "Was kümmert es mich, ob sie von edler
Geburt ist oder nicht!" sagte der König. "Sie wurde geboren, um an meiner Seite
zu regieren. Ich möchte sie zur Königin haben, oder ich brauche überhaupt keine
Königin." Der Eremit erkannte den Ernst, mit dem der König sein Heiratsangebot
vorbrachte. Deshalb nahm er ihn zur Seite und sagte zu ihm: "Ich stimme einer Ehe mit
meiner Tochter zu. Aber versprecht mir, dass ihr sie nie und nimmer unglücklich macht!
Sie hat eine grosse Schwäche, und diese Schwäche wird nur zutagetreten, wenn sie
unglücklich ist." Der König versprach es, und der Eremit erlaubte ihm, das Mädchen
mit sich zu nehmen und zu heiraten. Der König war zufrieden, und er machte seine Königin
so glücklich, wie er nur konnte. Und weil die Königin glücklich war, dachte sie nie
daran, ihre Zähne Leder kauen zu lassen.
Jahre gingen ins Land. Die Königin war stolze Mutter von sechs
hübschen Töchtern. Als die Mädchen eines nach dem anderen heranwuchsen, heirateten die
fünf älteren hübsche und mächtige Prinzen. Lediglich die jüngste Prinzessin verliebte
sich in einen Holzfäller, der dem Koch des Königs täglich Feuerholz brachte. Als der
König das erfuhr, wurde er sehr zornig, und er befahl der Prinzessin, nie mehr den jungen
Holzfäller zu sehen. Am nächsten Morgen, als der Holzfäller wieder seine Ladung Holz
brachte, lief die Prinzessin mit ihm davon, um als seine Frau in seiner ärmlichen Hütte
zu leben. Der König erboste sich, als er entdeckte, dass seine jüngste Tochter seine
Wünsche missachtet und den Holzfäller geheiratet hatte. Er nahm sein Schwert und
stürmte voll Zorn in das Gemach der Königin. "Die jüngste Prinzessin hat mir
Schande gemacht!" schrie er. "Am liebsten möchte ich sie mit meinen eigenen
Händen umbringen, aber dir zuliebe muss ich mich im Zaume halten. Von heute an ist sie
meine Tochter nicht mehr. Ich wünsche ihr Gesicht niemals mehr zu sehen, und ich verbiete
auch dir, sie je zu treffen!"
Die Königin liebte ihre jüngste Tochter sehr und war in grosser
Verzweiflung. Den ganzen Tag über weinte und schluchzte sie. Des Nachts konnte sie kaum
schlafen. Spät in der Nacht stieg sie, ohne zu wissen, was sie tat, aus ihrem Bett, nahm
einen Pantoffel des Königs und begann zu beissen und zu kauen. Plötzlich wurde sie
gewahr, was sie tat. Sie nahm den angekauten Pantoffel, lief zu ihrem Bett zurück und
verbarg ihn unter dem Bettuch. Am nächsten Morgen vermisste der König zu seinem grossen
Erstaunen einen Pantoffel. Er suchte allerorts. Vergeblich! "Das ist ja
seltsam", sagte er. "Der Pantoffel war mit Rubinen und Brillanten besetzt. Wenn
ihn ein Dieb genommen hat, warum dann bloss einen und nicht beide?" Der König konnte
sich das alles nicht erklären. Er nahm ein anderes Paar Pantoffeln, die waren noch teurer
als die vorigen, zog sie an und ging seinen Geschäften nach. Spät in der Nacht kaute die
Königin wieder an einem der Pantoffeln. Erst als ihr bewusst wurde, was sie tat, lief sie
zurück zu ihrem Bett und verbarg ihn unter dem Bettuch. "Heute Nacht werde ich der
Sache auf den Grund gehen", schwor sich der König. "Ob es ein Dieb ist oder ein
Geist, ich werde ihn fangen." Mit einem neuen Paar Pantoffeln ging er am nächsten
Tag seinen Staatsgeschäften nach. Als es Zeit zum Schlafengehen war, legte er seine
Pantoffeln ab und stellte sie neben das Bett. Aber er legte sich nicht schlafen, sondern
nahm sein Schwert und verbarg sich hinter einer Säule. Es war schon spät - der König
wollte es gerade aufgeben -, da sah er die Königin sein Gemach betreten. Sie ging zum
Bett, setzte sich dort auf den Fussboden, nahm einen der Pantoffeln und begann gierig
daran zu kauen. Der König konnte kaum glauben, was seine Augen sahen. Er kam hinter
seiner Säule hervor. Seine Augen waren gerötet vor Zorn. Er verlangte von der Königin
eine Erklärung. Da war die arme Königin gezwungen, ihm die Wahrheit zu sagen. Sie
erzählte ihm, wie sie der gute Eremit von einem Hündchen in ein Mädchen verwandelt
hatte. Beschämt, dass er eine Hündin geheiratet hatte, trieb der König seine Frau aus
dem Palast. Weinend und schluchzend ging sie zurück zum Eremiten und bat ihn, ihr die
einstige Gestalt wiederzugeben, da sie nicht den Wunsch habe, als menschliches Wesen
weiterzuleben. Der alte Eremit betete wieder, und seine Gebete wurden erhört. Die
Königin verwandelte sich wieder in eine Hündin.
Viele Tage vergingen. Da begann die Hündin ihre sechs Töchter zu
vermissen. Sie bat den Eremiten um Erlaubnis und machte sich auf den Weg. Sie ging zur
Wohnung ihrer ältesten Tochter, stellte sich draussen vor die Tür und rief nach ihrer
Tochter: "Öffne die Tür und lass mich ein! Ich bin deine Mutter und komme, dich zu
besuchen." Die Prinzessin öffnete. Doch als sie eine Hündin draussen stehen sah,
wurde sie zornig. Sie warf einen Stein nach ihr und trieb sie davon. Das gleiche geschah
bei den anderen Töchtern. Nachdem sie von allen fünf Töchtern mit Steinen beworfen
worden war, ging die Mutter zuletzt zur jüngsten Tochter, die mit dem Holzfäller
verheiratet war. Hier wurde sie mit Freundlichkeit und Liebe empfangen. Die jüngste
Tochter wusch und säuberte ihre Wunden und fütterte sie mit warmer Milch und Reis.
"Hab Dank, liebe Tochter!" seufzte die Mutter. "Die Wunden an meinem
Körper sind tief. Tiefer jedoch sind die Wunden der Undankbarkeit, die deine Schwestern
in mein Herz geschlagen haben. Ich weiss, dass ich sterben werde, bevor die Sonne
untergeht. Wenn ich tot bin, begrabe mich vor deiner Hütte!" So geschah es auch. Bei
Sonnenuntergang starb die Mutter. Die jüngste Tochter liebte ihre Mutter sehr, obwohl sie
sich in eine Hündin verwandelt hatte. Sie weinte lange. Dann begrub sie den toten Körper
vor ihrer bescheidenen Hütte. Am nächsten Morgen, als die Tochter aufstand, war sie
überrascht, einen grossen goldenen Baum an dem Platz zu sehen, wo sie ihre Mutter
begraben hatte. Alle Zweige waren von reinem Gold und glänzten hell. Jeder Zweig war voll
seltsamer Früchte aus reinem schwerem Gold.
Es dauerte nicht lange, da hörten die bösen Schwestern von dem
goldenen Baum. Als sie erfuhren, dass er auf dem Grab ihrer Mutter wachse, wollten sie
ihren Anteil an dem Gold. Sie liefen zu ihrem Vater, dem König, und sagten: "Der
goldene Baum ist ein Geschenk unserer Mutter. Wie haben mehr Recht daran, als unsere böse
jüngste Schwester. Die Mutter hat mit uns viele glückliche Tage verlebt. Gegen unsere
Warnung besuchte sie unsere jüngste Schwester. Dort starb sie, kaum hatte sie den Fuss in
ihre Hütte gesetzt. Wir fordern für unsere jüngste Schwester Bestrafung, weil sie
unsere Mutter getötet hat, und für uns die Früchte des goldenen Baumes!" Als der
König das hörte, begann er zu überlegen. Je länger er nachdachte, desto trauriger war
er darüber, dass er die Königin aus dem Palast vertrieben hatte. "Mag sie auch
einst eine Hündin gewesen sein, als Königin war sie eine wunderbare und liebenswerte
Frau." Voller Ärger und Hass gegen seine jüngste Tochter erhob sich der König und
ging mit den anderen Töchtern zu dem Goldbaum und erklärte: "Pflückt alle Früchte
und Blätter! Sie stehen euch rechtmässig zu." Mit gierigem und bösem Lächeln
rannten die fünf Schwestern auf den Baum los, langten nach den Früchten und zogen und
zerrten, bis sie ganz rot im Gesicht wurden. Die Blätter und Früchte aber liessen sich
nicht lösen. Der König stand dabei und schaute zu. Plötzlich wurde ihm alles klar.
"Wartet!" rief er. "Lasst die jüngste versuchen, eine Frucht von diesem
goldenen Baum zu pflücken!"
Die jüngste Tochter aber wollte keine Frucht pflücken. Da geschah
mit einem Mal das Wunder. All die goldenen Früchte fielen von selbst herab und ihr vor
die Füsse. Der König schloss mit Tränen in den Augen seine jüngste Tochter in die
Arme. "Vergib mir, mein liebes Kind!" sagte er. "Ich war einst sehr böse
auf dich, weil du einen armen Mann geheiratet hast. Heute weiss ich, dass arme Leute nicht
solche mit leeren Taschen, sondern solche mit leerem Herzen sind. Auch mein Herz war leer,
und ich stehe vor dir als Bittender. Ich bitte dich und deinen Mann, mich wieder reich zu
machen. Übernehmt den Thron und lasst mich in eurer Hütte in der Nähe des Grabes meiner
Königin leben!" So geschah es, dass der Holzfäller und die jüngste Prinzessin
König und Königin wurden.
Zu diesem Märchen, das verwandt ist mit dem Motiv der Tierehe, gesellen
sich die Erzählungen von einem Tierbräutigam oder das verbreitete Motiv der Ehe mit
einer Schwanenjungfrau. Beim Tierbräutigam handelt es sich meistens um einen verwandelten
oder verzauberten Mann, der als "Strafe" in ein Tier (Schlange, Rabe etc.)
verwünscht wurde. Oftmals fehlt gerade die verzaubernde Gestalt, aber dort, wo sie
richtigerweise noch erscheint, handelt es sich vielfach um eine alte Frau. Der
Tierbräutigam erlangt oder verlangt nun eine junge Frau zur Ehe, oft die jüngste Tochter
von drei Schwestern, welche in die Ehe mit einem Tier einwilligt. In der Nacht jedoch legt
das Tier seine Haut oder sein Fell ab, und ein schöner Jüngling erscheint der Braut. Nun
folgen verschiedene Aufgaben an die Frau, was zu einer ganzen Abenteuerkette anwachsen
kann. Schliesslich erlangt aber der Tiermann durch die junge Frau seine glückliche
Wiederkehr, seine "Erlösung", und bleibt in menschlicher Gestalt.
Das weibliche Gegenstück zum Tiermann finden wir in der Tierfrau. Diese
ist vielfach eine verwunschene Prinzessin in Schlangen- oder Krötengestalt, welche einen
Mann empfängt, um sich "erlösen" zu lassen. Die Aufgaben des Mannes sind, die
Tierfrau zu küssen oder sich von ihr küssen zu lassen. Dazu kommt, dass der Retter die
Schlangenfrau über sich wegkriechen oder sich von ihr umwinden (umarmen, umschlingen
etc.) lassen muss. Dasselbe Motiv finden wir in der Sage, in der aber der Mann immer
angstvoller wird und schliesslich wegrennt; eine glückliche Wiederkehr der Tierfrau ist
nicht erfolgt.
Bei den Schwanenjungfrau-Märchen erscheint eine Anzahl von Schwestern in
Vogelgestalt, die zusammen tanzen oder baden. Sie werden jedoch von einem Jüngling oder
Mann beobachtet, wie die Vogelfrauen ihr Federkleid ablegen und sich vergnügen. Einer der
Frauen stiehlt nun der Jüngling das Federkleid, so dass sie sich nicht mehr verwandeln
und wegfliegen kann. Dadurch erzwingt oder erlangt er ihre Einwilligung zur Ehe, aus der
auch Kinder entspringen. Dazu kommen Varianten, in denen sich der Jüngling auf die Suche
nach der Schwanenjungfrau macht und diese in einem Jenseitsreich wiederfindet. Oder die
Frau ist in der Ehe nicht glücklich, wird gar gedemütigt, und findet eines Tages das
versteckte Tierkleid. Nachdem sie dieses wieder angezogen hat, verlässt sie als Vogelfrau
Kinder und Mann und gelangt in das Reich ihrer Schwestern zurück.
Eine ganze Reihe sehr schöner Schwester-Bruder-Märchen berichtet von der
Verwandlung und glücklichen Wiederkehr einer Anzahl Brüder durch die Schwester. Die
Brüder werden durch die Mutter, den Vater oder durch eine andere Frau in Tiere (Raben,
Schwäne etc.) verwünscht und leben nun an einem fremden Ort. Die Schwester erfährt vom
Schicksal ihrer Brüder und macht sich auf die Suche nach ihnen, was verschiedene
Prüfungen und Gefahren mit sich bringt. Die Brüder als Tiere erkennen ihre Schwester und
erzählen ihr, wie sie wieder zu Menschen werden können. Durch Stummheit und Grashemden
nähen gelingt es der Schwester schliesslich, die Tier-Brüder wieder ins menschliche
Leben zu führen. In diesen Märchen ist die totemistische Vorstellung von der
Wiedergeburt erhalten geblieben, aber auch der matriarchal-mythologische Hintergrund. So
ist es auffallend, dass der "Tod" (Verwünschung, Verzauberung), der im Märchen
als solcher nicht existiert, sondern als Schlaf und als Jenseitsreise beschrieben wird,
durch eine alte Frau geschieht, also durch eine Greisin-Gestalt einer Göttin/Ahnin, und
die Wiedergeburt (Rückverwandlung, Erlösung) durch eine junge Frau, also durch eine
Mädchen- oder Frauengestalt einer Göttin/Ahnin.
Eine Anzahl Erzählungen berichtet von einer Tiergeburt. Hier wünscht
sich eine Frau sehnlichst ein Kind, auch "wenn es nur ein Igel wäre" oder ein
anderes Tier. Ihr Wunsch geht in Erfüllung, und sie gebärt ein Tierkind mit allen
Eigenschaften eines menschlichen Wesens. Oft hat das Kind besondere Fähigkeiten, auch
verlangt es nach einer Braut bzw. Prinzessin, und es folgen verschiedene Varianten des
Märchens vom Tierbräutigam: "Da sprach der König: Wenn ich nur wüsste, was
dich vergnügt machen könnte. Willst du meine schöne Tochter zur Frau? Ach
ja, sagte das Eselein, war auf einmal ganz lustig und guter Dinge, denn das war es
gerade, was es sich gewünscht hatte. Also ward eine grosse und prächtige Hochzeit
gehalten." (Nr. 58 1815)
Dass Tiere sprechen können, ja die ganze Natur sprachfähig ist,
erscheint im Märchen als eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit. Dennoch gibt es
Erzählungen, in denen nur der Held die Sprache der Tiere versteht oder diese erlernen
kann. Oft ist dann ein gegenseitiger Dialog nicht erwähnt, d.h. der Held versteht nur,
was die Tiere einander berichten. Zu diesen Märchen gehören z.B. Der treue Johannes (KHM
6) oder Die drei Sprachen (KHM 33). Gerade letztere Erzählung zeigt einen stark
schamanistischen Hintergrund, indem der Held drei Sprachen - die Sprache der Vögel, der
Hunde und der Frösche - erlernt, d.h. die drei Ebenen Himmel, Erde und Unterwelt bereist
und Kenntnisse erwirbt.
Märchen und Zweites Ich
Ein Märchen-Motiv, das sehr stark an frühtotemistische Begebenheiten
erinnert, ist die Vorstellung vom Zweiten Ich oder die Alter-Ego-Verbindung. Diese
verwandtschaftliche Beziehung muss sehr alt sein, ja sie bildet eine Grundkonstituante des
Totemismus, zu dessen älteste Kulturschicht sie gehört. Auch dort, wo
Alter-Ego-Vorstellungen im Märchen vorkommen und noch nicht zur Spielform degenerierten,
begegnen wir urtümlichen Relikten. Ich verweise z.B. auf das Märchen von der Unke, das
schon weiter oben beschrieben wurde.
Märchen von der Unke
Es war einmal ein kleines Kind, dem gab seine Mutter jeden Nachmittag
ein Schüsselchen mit Milch und Weckbrocken, und das Kind setzte sich damit hinaus in den
Hof; und wenn es anfing zu essen, so kam die Hausunke aus seiner Mauerritze
hervorgekrochen, senkte ihr Köpfchen in die Milch, und ass mit. Das Kind hatte seine
Freude daran, und wenn es mit seinem Schüsselchen da sass, und die Unke kam nicht gleich
herbei, so rief es ihr zu: "Unke, Unke, komm geschwind, komm herbei du kleines Ding,
sollst dein Bröckchen haben, an der Milch dich laben."
Da kam die Unke herbeigelaufen, und liess es sich gut schmecken. Sie
zeigte sich auch dankbar, denn sie brachte dem Kind aus ihrem heimlichen Schatz allerlei
schöne Sachen, glänzende Steine, Perlen und goldene Spielsachen. Die Unke trank aber nur
Milch, und liess die Brocken liegen, da nahm das Kind einmal sein Löffelchen, schlug ihr
damit sanft auf den Kopf, und sagte: "Ding, iss auch Brocken." Die Mutter, die
in der Küche stand, hörte, dass das Kind mit jemand sprach, und als sie sah, dass es mit
seinem Löffelchen nach einer Unke schlug, so lief sie mit einem Scheit Holz heraus, und
tötete das gute Tier.
Von der Zeit an ging eine Veränderung mit dem Kinde vor. Es war, so
lange die Unke mit ihm gegessen hatte, gross und stark geworden, jetzt aber verlor es
seine schönen roten Backen und magerte ab. Nicht lange, so fing der Totenvogel an nachts
zu schreien, und das Rotkehlchen sammelte Zweiglein und Blätter zu einem Totenkranz, und
bald hernach lag das Kind auf der Bahre.
So berichtet uns ein sprachlich ausgeschmücktes Grimm-Märchen. Trotzdem
finden wir das Kern-Motiv wieder, den Lebensgleichlauf von Mensch und Tier, die typische
Vorstellung vom Zweiten Ich des Totemismus, verkörpert als wohlwollende Hausschlange:
"Als sachlich und historisch haltbare Erklärung bietet sich nur der Rekurs auf die
uralte Weltanschauung des Totemismus an, gemäss derer die Lebenskraft eines Menschen,
seine Seele, gleichzeitig auch in einem anderen Lebewesen (Seelentier, Seelenpflanze)
verkörpert ist. Der Kausalnexus wird dann einsichtig: was dem Totemträger (hier also der
Unke) geschieht, geschieht auch dem mit ihm existenziell verbundenen Menschen - beiden
gemeinsam ging es gut; als der eine stirbt, muss das andere nach. In der totemistischen
Logik: wenn die Mutter ihr Kind erschlagen hätte, wäre die Unke gestorben. Grimms
Märchen Nr. 105 bietet also den einzigen, erstaunlichen Beleg für diese prähistorische
Weltsicht und Weltdeutung hinsichtlich der Todesproblematik. Damit soll keineswegs
behauptet werden, der Text stamme geradewegs aus der Zeit der Hochblüte des Totemismus in
Europa, [...] denn Relikte solcher Weltanschauungen werden bewusst oder unbewusst bis
heute tradiert und prägen wohl einige unermessene Schichten des menschlichen
Seelenhaushalts, so dass eine Verbildlichung dieser Weltsicht auch noch sehr viel später
statthaben konnte und kann. [...] Der weitaus grösste Teil der Grimmschen Zaubermärchen
hat dagegen seine weltanschauliche Heimat im sogenannten Animismus, für den der Gedanke
der Seelenwanderung grundlegend ist: die Seele eines Menschen kann sich nacheinander in
verschiedenen Wesen verkörpern." Ebenso erzählt ein spanisches Märchen von einer
verwandtschaftlichen Schlange im Haus. Berichtet wird von menschlichen und tierischen
Zwillingsschwestern, die von gleicher Geburt und Abstammung sind. Die
Alter-Ego-Vorstellung tritt etwas in den Hintergrund, doch erhalten wir im Anfang
Empfängnis und Geburt durch eine Frau bzw. Ahnin, sowie im weiteren Verlauf die
schicksalshafte Bezogenheit der beiden Wesen.
Das Mädchen und die Feldschlange
Es war einmal ein junges Ehepaar, das hatte keine Kinder, und deswegen
herrschte Missstimmung am häuslichen Herd. Eines Tages, als die Eheleute mit einer
Freundin einen Spaziergang ins Freie machten, sahen sie eine zusammengerollte
Feldschlange. Da sagte die Frau zu ihrem Mann: "Ich wollte, ich wäre schwanger, und
brächte ich selbst eine Schlange wie diese hier zur Welt." "Sag so etwas
nicht", antwortete ihre Freundin, "denn man weiss nie, was die nächste Stunde
bringt."
Nach einigen Monaten fühlte sie die Anzeichen der Schwangerschaft,
und als die Stunde kam, brachte sie ein Mädchen und eine Feldschlange zur Welt. Die
Schlange legten sie sofort nach der Geburt in eine Schüssel mit warmer Milch. Sie trank
daraus und sprang dann durch das Fenster in den Garten und verkroch sich unter einem
Apfelsinenbaum. Als das Kind älter wurde und anfing zu spielen, ging es in den Garten und
sprang dort herum und kam doch gekämmt und gewaschen wieder ins Haus zurück. Und eines
Tages fragte ihre Mutter: "Meine Tochter: Wer kämmt dirs Haar, wer wäscht
dich fein?" "Die Schlange machts, mein Schwesterlein."
Die Sympathie-Vorstellung, also der parallele Lebensgleichlauf von Mensch
und Tier (Pflanze, Dinge etc.) erscheint auch im Volksglauben immer wieder. Auf den
Geburtsbaum habe ich schon hingewiesen, und aus Böhmen besitzen wir Nachricht von
Sympathieschlangen: In manchen Häusern gab es ganze Schlangenfamilien, "von denen
jedes Glied ein Glied der menschlichen Familie vertritt, dass alles, was der Schlange
widerfährt, auch dem Familienmitglied geschieht." Aus Magden in der Schweiz
berichtet Rochholz von zahmen Hausschlangen: "Sie überwacht die Kinderzucht,
behütet besonders im Stall die Milchtiere, hütet die heranwachsenden Töchter und sorgt
ihnen nach Verdienst für einen Mann... Manchmal hat ein Wohnhaus ihrer zwei, die mit
Hausvater und Hausmutter leben und sterben." Die totemistischen Zusammenhänge sind
somit nicht nur den sogenannten Naturvölkern und ihren Mythen und Märchen eigen, sondern
auch Lebens- und Weltauffassungen der europäischen Volkskunde, z.T. bis in die jüngste
Vergangenheit und greifbar noch in der Märchen- und Sagentradition.
So erzählen verschiedene Märchen - als erweiterte Form des Märchens von
der Unke - von einer wohlgesinnten Hausschlange als Hausgeist. Die Sympathie-Schlange ist
hier Sympathie-Tier zu den Kühen. Solange die Magd die Schlange im Stall mit Milch
füttert, gedeihen die Tiere prächtig. Der hartherzige Bauer jedoch entdeckt eines Tages
die Magd und die Schlange und weist die Frau vom Hof. Darauf verlässt auch die
Hausschlange den Stall, und die Folge ist, dass Unglück und Schicksalsschläge über Hof
und Haus hereinbrechen. Die Schlange selbst schenkt ihr Krönlein der Magd, die dadurch
Glück und Erfolg gewinnt, und bleibt schliesslich an der Seite der jungen Frau. Ähnliche
Märchen berichten von einem Weisen oder einem Weinbauern, der in Freundschaft mit einer
Schlange lebt und von ihr Goldstücke oder Schätze erhält. Ein Verwandter erscheint, dem
die Begebenheiten geschildert werden, worauf dieser, von Gier ergriffen, der Schlange
schadet oder sie gar tötet, um an die ganzen Schätze heranzukommen. Von nun an ist aber
die Freundschaft zwischen Mensch und Tier zerbrochen, und Misstrauen entzweit Schlange und
Menschenwelt.
Zweites Ich und totemistisches Tabu begegnen sich in einem Märchen der
Zigeuner. Hier ist es eine Sympathie-Kröte, die einer schauderhaften Blaubart-Gestalt
vorgesetzt wird. Der Unhold stirbt am Ende, als er von seiner eigenen Lebenskröte isst,
die ihm die gefangene Frau zum Essen gibt, statt das Tier zu füttern.
Aber nicht nur Tiere sind Alter-Ego-Träger des Menschen. Ich erinnere an
die Märchen, in denen der Held oder die Heldin Gegenstände (Messer, Sacktuch, Kerze
etc.) zurücklassen, damit die Angehörigen erkennen, ob es ihnen auf dem Weg gut geht. Im
Märchen Die zwei Brüder (KHM 60) zeigt das in einen Baum gesteckte Messer an, ob der
andere Bruder in der Fremde noch am Leben ist. Dazu gehört auch KHM 85, Die Goldkinder:
"Die gleich den beiden Goldkindern aus Stücken eines Wunderfisches entstandenen
goldenen Lilien erweisen sich als Sympathie-Blumen der Zwillinge: Als der eine Bruder von
einer Hexe zu Stein verwandelt wird, fällt zu Hause die eine Goldlilie um. Die
Sympathieblume ist das alter ego des Helden, das zu gleicher Zeit stirbt wie
dieser selbst." (Röhrich) Zu diesem Erzähltyp gehört die altägyptische Variante,
in der der eine Bruder sein Herz in eine Akazienblüte legt; solange der Baum steht, kann
niemand den Helden besiegen. Erst nachdem der Baum gefällt wurde, stirbt auch er.
In der Grimm-Variante zu Schneeweisschen und Rosenrot heisst es:
"Eine arme Witwe, die lebte einsam in einem Hüttchen und vor dem Hüttchen war ein
Garten, darin standen zwei Rosenbäumchen: davon trug das eine weisse, das andere rote
Rosen; und sie hatte zwei Kinder, die glichen den beiden Rosenbäumchen, und das eine
hiess Schneeweisschen, das andere Rosenrot." Mitgemeint ist die Wesensidentität und
Sympathie von Pflanze und der beiden Schwestern, also eine totemistische Vorstellung, wie
sie auch noch in KHM 9, Die zwölf Brüder, auftaucht: "Es war aber ein kleines
Gärtchen an dem verwünschten Häuschen, darin standen zwölf Lilienblumen - nun wollte
sie ihren Brüdern ein Vergnügen machen, brach die zwölf Blumen ab und dachte, jedem
aufs Essen eine zu schenken. Wie sie aber die Blumen abgebrochen hatte, in demselben
Augenblick waren die zwölf Brüder in zwölf Raben verwandelt und flogen über den Wald
hin fort... wie es sich umsah, so stand eine alte Frau neben ihm, die sprach: Mein
Kind, was hast du angefangen? Warum hast du die zwölf weissen Blumen nicht stehenlassen?
Das waren deine Brüder, die sind nun auf immer in Raben verwandelt."
Reste totemistischer Anschauungen finden wir auch in den verschiedenen
Varianten des Märchentyps Der Riese ohne Herz. Hier muss der Held das in einem Ei
versteckte Herz des Riesen nach zahlreichen Abenteuern auffinden und vernichten, um eine
junge Frau aus der Gewalt des Unholds zu befreien. Die Schwierigkeit der Aufgabe wird oft
dadurch erschwert, dass sich zur besonderen Sicherheit dieses Sympathie-Ei in einem Tier
befindet, das sich an einem gut verborgenen Ort aufhält. Dieses Alter-Ego-Ei kann
mehrfach verpackt bzw. geschützt sein, auch der Ort ist sehr variantenreich, doch
meistens ist das Versteck ein Ei, das sich in einem Vogel befindet. Schliesslich gelingt
es dem Helden, durch die Hilfe dankbarer Tiere das Herz des Riesen zu zerstören, worauf
auch der Riese stirbt.
Märchen und Empfängnis
Wie sich aus den verschiedenen Untersuchungen zum Totemismus
herausgestellt hat, ist es möglich, Frühformen des Totemismus zu erkennen. Inhaltlich
gehört zur ältesten Kulturschicht sicher die verwandtschaftliche Beziehung zum Tier, zur
Pflanze etc., besonders aber die oben beschriebene Alter-Ego-Vorstellung vom
sympathiehaften Gleichlauf des Lebens von Mensch und Totem. Eine weitere urtümliche
Erscheinung, die ebenfalls zu dieser ältesten totemistischen Kulturschicht gehört, ist
die Konzeption der Empfängnis, d.h. die sogenannte "übernatürliche"
Empfängnis einer Frau durch Kontakt verschiedener Seelenträger. Drittens gehört damit
verbunden die ursprüngliche Anschauung einer "Reinkarnation", einer
Wiedergeburtshaltung, die volkskundlich-ethnologisch in Riten und Bräuchen erhalten
geblieben ist oder in Mythen und Märchen als "Rückverwandlung", als
"Entzauberung" oder in hochreligiöser Sprache als "Erlösung"
präsentiert wird. Alle diese totemistisch-schamanistischen Frühformen - Zweites Ich,
"übernatürliche" Empfängnis, Tod und Wiedergeburtsglaube - kehren im
Zaubermärchen als Motive wieder und bilden auch dort - zusammen mit den matriarchalen
Anschauungen - die ältesten Schichten der Märchentypen und deren Varianten.
Gerade die "übernatürliche" Empfängnis gehört zum Wesenskern
matriarchalen Denkens, das zu einer festgeglaubten Wiedergeburtshaltung in Beziehung
steht. Von da her lassen sich auch die sozialen Begebenheiten wie mütterliche Abstammung,
Ahninnenverehrung und Erbgang in der Frauenlinie (Matrilinearität) erklären. Es ist auch
nicht unbedingt die Gebärfähigkeit, welche die Frauen in diesen Gesellschaften
achtenswert macht, sondern vielmehr die wunderbare Fähigkeit der Frau, vom Tod wieder ins
Leben führen zu können. Dieser mythologischen wie praktisch-sozialen Grundanschauung
folgen in logischer Konsequenz die weiteren sozialen Einrichtungen wie Muttersippe,
Matrilokalität oder Bevorzugung der Töchter, besonders Erbtochter, ohne dass damit aber
die Unterdrückung des anderen Geschlechts verbunden wäre, wie wir dies von patriarchalen
Gesellschaften her kennen.
Welche Bedeutung hat nun der Geschlechtsverkehr in einer
totemistisch-matriarchalen Frühform der Kultur? Die sexuelle Vereinigung von Frau und
Mann wird als Vergnügen angesehen, als ein Öffnen der Frau oder als ein
Schlüpfrigmachen der Vagina. Auf keinen Fall jedoch wird sie als eigentliche Konzeption
oder Befruchtung angesehen, auch wenn die biologischen Zusammenhänge bekannt sind.
Völlig einsichtig ist daher die Konzeption der Frauen bei den Aborigines, die das
Geisterkind oder den Kinderkeim auch durch den Nabel oder durch die Hüften empfangen
können. Die Bedeutung und Bewertung ist eben grundverschieden und lässt sich nur mit dem
mythologisch, matriarchal-totemistischen Überbau verstehen. Diese Gesellschaften werden
übrigens oft mit sogenannten Fruchtbarkeitskulten in Verbindung gebracht, was
irreführend und einschränkend ist. Hinter diesen Kulten steckt die viel weitreichendere
Auffassung einer Wiedergeburt von Mensch und Natur, und wir sollten diese Gesellschaften
als Wiedergeburtsgesellschaften bezeichnen.
Wenn nun eine Person in einer solchen Sippengemeinschaft stirbt, bleibt
sie fester Bestandteil als Ahnin oder als Ahne im Kreis der Lebenden. Nur ist ihre
Erscheinung und ihr Aufenthaltsort zuweilen verschieden. Einige manifestieren sich in
einem Tier, in einem Stein oder Reisen in ein sehr diesseitiges Jenseitsparadies
(Jenseitsinsel), wo sie so leben wie bisher. Oder sie halten sich gleich als Kinderkeime
an Totemzentren auf - Wasserlöcher, Höhlen, Bäume, Felsen, Steine etc. - wo sie
"übernatürlich" in eine Frau eingehen können, um wiedergeboren zu werden. Als
Seelenträger der Kinderkeime kann sich praktisch jede Naturerscheinung anbieten, häufig
sind es aber das seelenvolle Wasser, der beseelte Stein, das verwandte Tier oder der
Ahnenbaum mit seinen Früchten. Solche Totemzentren existieren weltweit auf jedem
Kontinent und in überraschender Gleichförmigkeit. Sei es der europäische Dorfbrunnen
oder eine Kulthöhle, das kultische Gegenstück mit derselben Bedeutung und Anwendung
werden wir in Australien oder in Asien wiederfinden.
Von den überreichen Belegen im Märchen möchte ich nun einige Beispiele
aufführen. Eines der bekanntesten Märchen ist dasjenige von Rapunzel (KHM 12), in dem
sich totemistische Sympathie-Vorstellungen mit einer Pflanze und Konzeptionen der
Kinderherkunft vermischen, wenn auch schon etwas undeutlich. Am Anfang steht der
Kinderwunsch einer Frau, was dann bald in Erfüllung geht, und die Frau ist schwanger.
Jedoch wird nicht berichtet, wie oder woher der Kindersegen kommt, doch wird von einem
seltsamen Garten einer Fee erzählt, "der voll von Blumen und Kräutern stand".
Eines Tages erblickt die Frau im Garten wunderschöne Rapunzel "und wurde so lüstern
darnach", dass sie krank und siechend wurde, da sie keine davon zu essen bekam. Ihr
Mann beschaffte ihr nun heimlich aus dem Garten der Fee eine Hand voll Rapunzel und
"die Frau machte sich sogleich Salat daraus, und ass sie in vollem Heisshunger. Sie
hatten ihr aber so gut, so gut geschmeckt, dass sie den andern Tag noch dreimal soviel
Lust bekam."
Die Konzeption einer Frau durch Essen einer Frucht oder Pflanze ist ein
beliebtes Motiv im Märchen, und ich erinnere wiederum an die Frauen der Aborigines, die
von den Männern Essen überreicht bekommen und sich dadurch in Erwartung fühlen.
Eindeutiger in der Konzeptions-Vorstellung ist ein Märchen aus Spanien. Hier bewirken
Früchte, Apfel und Birne, die "übernatürliche" Empfängnis der Frau, zudem
sind es Früchte einer alten Bienengöttin, einer Grossen Ahnin, welche die Kinderkeime
schenkt. Gerade am Anfang des Märchens gelangen wir zu einer oben beschriebenen,
totemistisch-matriarchalen Schicht, zu einer urtümlichen Frühform, die hier vom Motiv
her und von der Kulturgeschichte Frankreichs und Spaniens her bis in die Altsteinzeit und
den wunderbaren Höhlenkult reicht.
Das schwarze, das rote und das weisse Haar
Vor langer, langer Zeit lebten einmal ein Mann und eine Frau, die
hatten alles, was sie zum Leben brauchten, aber sie waren doch nicht glücklich, denn es
fehlte ihnen, was sie sich am meisten wünschten, Kinder... Eines Abends, als sie wie
gewohnt beisammensassen und sich von ihrem Tagwerk ausruhten, klopfte es an die Tür.
"Wer ist da?" - "Ein armer Bettler. Habt ihr wohl zu essen?"... Am
andern Morgen nach dem Frühstück nahm der Alte den Mann beiseite und sprach: "Mir
ist heute nacht ein guter Gedanke gekommen. Wenn du es so machst, wie ich dir sage, werdet
ihr sicher Kinder haben. Merke also auf: Wenn du gegen das Gebirge gehst, kommst du in
einen grossen Wald. Durch den gehst du hindurch, dann siehst du einen hohen Berg, dort
steigst du hinauf. Auf halber Höhe aber liegt eine Höhle, aus der fliesst eine Quelle.
In die Höhle gehst du hinein; du musst aber ein Gefäss mit Honig und einen Wachsstock
mitnehmen, sonst töten dich die Bienen, die in der Höhle sind. Drinnen findest du eine
Frau, die hat dreierlei Haare: schwarze, rote und weisse. Wecke die Frau - sie schläft
schon viele tausend Jahre in der Höhle. Sie wird dir bestimmt helfen können."...
Endlich kam er zu dem Berg, stieg hinauf: richtig! Da war eine grosse Höhle, und aus der
floss eine Quelle... Er ging behutsam in die Höhle hinein und berührte die Frau. Da
schlug sie die Augen auf, besah ernst und eindringlich den Mann und sagte: "Ich weiss
schon, was du willst... Hier gebe ich dir einen Apfel und eine Birne, wenn deine Frau den
Apfel isst, wird sie einen Sohn gebären, verspeist sie jedoch die Birne, so wird sie ein
Mädchen bekommen."
Ein Märchen aus Österreich führt uns zum alten Steinkult, zu den
sogenannten Kinder- und Rutschsteinen, die im Alpengebiet ebenso vorkommen wie auf der
ganzen Welt. Grundgedanke ist, dass ein Stein oder eine Steinplatte Seelenträger und
Ahnensitz darstellt, also eine Art Totemzentrum, wo nun eine Frau, wenn sie mit diesem
Stein willentlich und bewusst in Berührung kommt oder an einer Gleitrinne mit nacktem
Gesäss hinabrutscht, Kinderkeime empfangen kann und somit eine Ahnin oder einen Ahnen
wieder ins Leben führt. Das volle Verständnis dieses Brauches liegt wie so oft in der
totemistisch-matriarchalen Konzeptions-Vorstellung mit einer ausgesprochenen
Naturverehrung, einer umfangreichen Ahnenverehrung und einem fest geglaubten
Wiedergeburtsglauben. Diese Vorstellungen wurden aber verschiedentlich umgeformt,
umgedeutet und von Religions-Ideologien verfolgt, wobei die Dämonisierung, Abwertung und
Moralisierung eine wichtige Rolle spielt. Diesen negativen Anstrich müssen wir bei
Mythen, Märchen und Sagen immer mit berücksichtigen. Ein Beispiel dafür ist das
folgende Märchen, in dem wir den hochreligiösen Überbau zurück buchstabieren müssen,
um an den totemistischen Kern des Steinkultes und der Empfängnis zu gelangen.
Die schwarze Königstochter
Es war ein alter König und eine alte Königin, die hatten aber keine
Kinder. Und die Königin wollte gar so gern ein Kind haben. In der Stadt war eine grosse
gemauerte Brücke übers Wasser und mitten darauf zur rechten Seite das Kruzifix und auf
der linken Seite der Luzifer in Stein ausgehauen. Und die Königin ging öfter hin zu dem
Kruzifix und betete um ein Kind. Wie aber das Beten nutzlos blieb, ging sie zum Luzifer
hin und betete den Luzifer an. Und über ein Vierteljahr, da spürte sie, dass sie in der
Hoffnung war. Das sagte sie dem König und wollte ihm eine Freude machen. Der König
wusste sich daran nicht schuldig, er sagte aber nicht viel Gutes oder Schlechtes dazu.
Sehr häufig ist die Konzeption der Frau durch das heilende Wasser, sei
es, dass sie im beseelten Element badet, oder dass sie vom erquickenden Nass trinkt. Ich
erinnere an den Wasserkult im Volksbrauchtum, an die unzähligen Heilbäder und in Europa
besonders an den Kult der (verchristlichten) mythologischen Frauengestalt der heiligen
Verena. In der Urfassung der KHM der Brüder Grimm erscheint z.B. beim Märchentyp
Dornröschen das bekannte Motiv einer badenden Königin, wobei plötzlich ein Krebs
(Ahnin/Göttin in Tiergestalt) ihr eine Tochter prophezeit. In der Folge wird dieses
Tiersymbol konkretisiert, indem Feen/Göttinnen/Schicksalsfrauen als Ahninnen dem Mädchen
seinen Werdegang prophezeien. In einem mittelalterlichen Roman (Perceforest, um 1340)
heisst unser Dornröschen Prinzessin Zellandine und wird von drei Göttinnen begabt:
Lucina, Venus und Themis. Obwohl wir hier antike Namen haben, scheint ein matriarchales
Ahninnenmuster vorzuliegen: Lucina, "die Weisse", verleiht der kleinen
Prinzessin Gesundheit, während Themis, die schwarze Schicksalsfrau, bestimmt, dass sie
sich eine Verhärtung eines Leinenfadens in den Finger stossen und solange schlafen werde,
bis diese herausgezogen ist. Venus, die rote Frauengöttin, steht ihr jedoch bei und
verheisst, diese Heilung zu bewirken.
Hier schimmern die matriarchal-totemistischen Zusammenhänge noch etwas
hindurch, deutlich werden sie bei Nr. 74 von 1812 beschrieben: "Ein König bestand
darauf, seine Tochter sollte nicht heiraten, und liess ihr in einem Wald in der grössten
Einsamkeit ein Haus bauen, darin musste sie mit ihren Jungfrauen wohnen, und bekam gar
keinen andern Menschen zu sehen. Nah an dem Waldhaus aber war eine Quelle mit wunderbaren
Eigenschaften, davon trank die Prinzessin, und die Folge war, dass sie zwei Prinzen gebar,
die darnach Johannes-Wassersprung und Caspar-Wassersprung genannt wurden, und wovon einer
dem andern vollkommen ähnlich war." Auf sicherem Boden stehen wir auch mit einem
Märchen aus Sardinien. Gerade im Mittelmeergebiet sind alte matriarchale Kulturschichten
noch fassbar, seien dies archäologische Funde (Kreta, Malta, Zypern, Türkei etc.) oder
Brauch und Kult mit den entsprechenden volksreligiösen Riten. So erstaunt es nicht, dass
das folgende Märchen eingehend Motive einer totemistischen Frühschicht erzählt und mit
Vorstellungen einer matriarchalen Mythologie - Drei Heilige Frauen einer weiblichen
Triade/Göttin - verbindet, obwohl der sprachliche Kontext von heute aus gesetzt ist.
Die Legende von den drei heiligen Frauen
Da waren einmal zwei alte Leutchen, ein Mann und sein Weib, die hatten
keine Kinder... Sagte einmal der Mann zu seiner Frau: "Als ich jung war, habe ich
gehört: wenn du tief in die Berge hineingehst, da gibt es eine Quelle, die hat eine
solche Heilkraft, dass viele Sieche und Lahme gesund werden." Da macht sich die Frau
auf und ging und ging... Endlich kommt sie nun doch an eine Stelle, wo sich das Tal
gabelt... "Ich suche eine heilkräftige Quelle, die in den Bergen sein soll."
"Da bist du schon richtig [sagt der Hirt]. Geh nur immer dieses Tal hinauf und halte
dich stets rechts, so kannst du dich nicht verlaufen. Wenn du eine Weile gegangen bist,
dann kommst du schliesslich in einen Talkessel, und dort springt eine Quelle aus dem
Felsen... Wenn du einen Jungen möchtest, dann musst du drei Schlucke trinken, willst du
aber ein Mädchen, dann vier."... Geht die Alte also hin, schlägt das Kreuz und
bückt sich hin und trinkt. Trinkt erst drei grosse Schlucke und sagt sich: "Nun
gibts also einen Jungen!" Dann denkt sie nach - (und Durst hat sie auch) - sagt
also: "Eigentlich wäre es doch gescheiter, ein Mädchen im Hause zu haben!"
Beugt sich also nochmals hin und trinkt vier grosse Schlucke... Sie kommt heim, und bald
darauf stellen sich die Wehen ein. Gebiert einen Knaben und ein Mädchen, ein hübsches
Zwillingspärchen.
In sehr vielen Märchen ist das Motiv der Verwandlung, bzw. die Funktion
Tod (= Jenseitsreise) mit dem Motiv der Rückverwandlung (= Wiedergeburt) gekoppelt, so
z.B. in zahlreichen Schwester-Bruder-Märchen (KHM 9, KHM 96) oder in Erzählungen mit
einem ausgesprochenen Steinkult mit Opferhandlungen (KHM 6). Da die
totemistisch-matriarchale Weltauffassung einen zyklisch-jahreszeitlichen Ablauf kennt, ist
es nicht verwunderlich, schliessende Kreisläufe bzw. regenerative Kräfte und
Wiedergeburtshandlungen im Märchen wiederzufinden. Somit ist Ahnenkult immer auch Natur-
und Lebensphilosophie, d.h. Kult der Lebenserhaltung, was einen endgültigen Tod oder
Todesängste kategorisch ausschliesst. Wo Rückverwandlungen im eigentlichen
Zaubermärchen ausbleiben, können wir vermuten, dass Umformungen und Motivverschiebungen
stattgefunden haben, die Brüche hinterlassen und die Überlieferung zersetzen, wie wir
dies an unzähligen "unvollständigen" Märchen, sowie am Beispiel der Sagen und
Legenden aufzeigen können. Ich erinnere an das Märchen vom Machandelbaum (KHM 47) mit
seinen internationalen Varianten (AT 720). Der Verlauf ist etwa folgender: Die Stiefmutter
oder eine andere (weibliche) Person tötet den Sohn und gibt ihn dem Vater zum Essen. Die
Schwester jedoch entdeckt die Tat am Bruder und sammelt dessen Knochen, welche sie unter
einem Baum (Wacholderstrauch), unter der Türschwelle oder an einem Stein vergräbt. Kurze
Zeit darauf entsteht aus den Knochen ein Vogel bzw. der Bruder in Tiergestalt, der nun
allen sein Schicksal vorsingt. Schliesslich beschenkt er seine Schwester und den Vater,
erschlägt mit einem Mühlstein die Mutter und fliegt davon. Oder, was älter und
stimmiger sein dürfte, der Vogel verwandelt sich nach seinem Racheakt wieder in einen
Menschen. Interessant ist hier nicht nur die Bestattung der Knochen, ein Motiv, das
archäologisch bis in die Alt- und Jungsteinzeit hineinreicht, sondern auch die
totemistisch-matriarchale Kombination einer doppel- und vielgestaltigen Göttin:
"Tod" des Sohnes und Bruders durch eine "ältere Frau" in Verbindung
mit Wiederkehr und Wiedergeburt durch die Schwester bzw. durch eine "junge
Frau". Ohne Schwierigkeiten erkennen wir eine Garantin von Leben und Tod, den
Greisin- und Mädchen-Aspekt einer göttlichen Ahnfrau.
In einem Märchen aus Griechenland sehen wir noch einmal die
Zusammenhänge von Tod, Verwandlung und Wiedergeburt, bzw. "übernatürliche"
Empfängnis. In einer Schwester-Bruder-Erzählung leben diese, nachdem ihre Eltern, König
und Königin, gestorben sind, im Wald. Eines Tages entdeckt der Bruder auf der Jagd einen
Schädel, der von sich behauptet, schon vierzig getötet zu haben. Da nimmt der Bruder
einen Stein "und begann, mit beiden Händen den Kopf zu zerstampfen, machte ihn zu
Brei. Das Gehirn zog sich zusammen, wurde ein rundes Klümpchen, das Hirn. Er nahm es an
sich, es duftete weder, noch roch es übel. Er steckte es in die Tasche." Zuhause
wechselt der Bruder seine Kleider, und die Schwester findet in der Tasche das seltsame
Klümpchen Hirn. Sie riecht daran, sie beisst hinein, "da klebt es an ihrer Zunge
fest, an der Zunge. Sie müht sich ab, es loszulösen. Es geht nicht. Je mehr sie daran
reisst, um so mehr rutscht es in sie hinein, es gleitet in ihren Bauch. Die Königstochter
wird schwanger damit." Schliesslich gebärt die Prinzessin einen Drachensohn, so dass
der Totenschädel durch eine Frau wieder ins Leben geführt worden ist.
Eine Reihe von erklärenden Mythenmärchen berichtet nicht von einer
"übernatürlichen" Empfängnis, sondern von einer wundersamen
"übernatürlichen" Geburt. Hier handelt es sich gleichsam nochmals um die
Bestätigung, dass eine Frau bzw. die Natur von sich aus gebären kann, was mit den
mythologischen und totemistischen Konzeptionen zusammenhängt. Das erste Beispiel führt
uns nach Indonesien, zum göttlichen Mädchen Hainuwele.
Mythe vom Mädchen Hainuwele
Ameta ging eines Tages mit seinem Hund auf die Jagd. Nach einiger Zeit
spürte der Hund im Wald ein Schwein auf und verfolgte es bis zu einem Teich. Das Schwein
lief in das Wasser des Teiches, der Hund aber blieb am Ufer stehen. Bald konnte das
Schwein nicht mehr schwimmen und ertrank. Der Mann Ameta war inzwischen herangekommen und
fischte das tote Schwein heraus. Er fand an dem Hauer des Schweines eine Kokosnuss. Damals
aber gab es noch keine Kokospalmen auf der Erde.
Ameta nahm die Kokosnuss an sich. Er ging mit ihr nach Hause und legte
sie auf ein Gestell. Dort deckte er sie mit einem Sarong patola zu. Dann legte er sich in
das Haus, um zu schlafen und hatte einen Traum. Es kam ein Mann zu ihm, der sagte:
"Die Kokosnuss, die du dort auf dem Gestell mit dem Sarong zugedeckt hast, musst du
in die Erde pflanzen, denn sie keimt schon." Da nahm Ameta am anderen Morgen die
Kokosnuss und pflanzte sie. Nach drei Tagen war die Palme schon hochgewachsen. Nach drei
weiteren Tagen trug sie Blüten. Er kletterte in die Palme, um die Blüten zu schneiden,
aus denen er sich ein Getränk bereiten wollte. Als er damit beschäftigt war, schnitt er
sich in den Finger, und es tropfte Blut auf eine Palmblüte. Er ging nach Hause und
verband sich. Als er nach drei Tagen wiederkam, sah er, dass sich das Blut auf dem
Palmenblatt mit dem Saft der Blüten vermengt hatte, und dass daraus ein Mensch wurde. Das
Gesicht des Menschen war schon geformt. Als er nach drei Tagen wiederkam, war auch der
Rumpf des Menschen da, und als er nach drei weiteren Tagen kam, war aus dem Blutstropfen
ein kleines Mädchen geworden. In der Nacht kam im Traum derselbe Mann zu ihm und sagte:
"Nimm den Sarong patola und wickle das Mädchen aus der Kokospalme sorgfältig hinein
und bringe es nach Hause." Am anderen Morgen ging er mit dem Sarong patola zu der
Kokospalme, kletterte hinauf und wickelte das Mädchen vorsichtig hinein. Dann trug er es
zur Erde und nahm es mit nach Hause. Er nannte es Hainuwele.
In anderen Erzählungen erfahren wir etwas mehr über die Herkunft der
Kokospalme. Sie ist ein Baum des Lebens, der auch eine wichtige praktisch-wirtschaftliche
Rolle in dieser Region spielt. Und wie so viele Lebensbäume ist sie eine Art Weltachse,
die alle Ebenen der Welt miteinander verbindet: Unterwelt, Mittel- und Oberwelt. Auf den
Inseln der Umgebung Indonesiens war es die Grosse Göttin Timbehe, die auch die Kokospalme
schuf, und wir dürfen sie gleichsam mit ihrem Baum identifizieren. In einem Märchen aus
den Philippinen erscheint die Göttin als eine junge Frau bzw. als Töchterchen eines
Ehepaares. Diese besitzen einen grossen Garten mit verschiedenen Pflanzen und Obstbäumen.
Eines Tages kam die Tochter in den Garten und verlangte von den Eltern eine Kokosnuss,
doch diese wussten nicht, was das sein sollte. Schliesslich rief die Mutter verärgert dem
Kind nach: "Mögen doch diese Kokosnüsse auf dir wachsen!" Plötzlich war die
Tochter verschwunden. Es wurde dunkel, und am nächsten Tag wuchs an der Stelle, wo sich
das Kind aufhielt, eine Kokospalme. "Die Pflanze wuchs. Sie ward ein grosser Baum.
Der trug süsse Früchte. Die Menschen, die später davon assen, sagten, das Fleisch sei
der Körper des Mädchens, die Milch seine Tränen und die beiden Löcher seine
Augenhöhlen."
Diese Märchenmythen aus Indonesien und den Philippinen sind sehr alt und
gehen nicht nur auf eine frühtotemistische Schicht zurück, sondern auch auf eine
matriarchale Zeit, die sich in einigen Regionen heute noch vorfindet. Wenn wir die
(Kultur)-Pflanzen in Mythen und Märchen betrachten, so sind diese mindestens so
bedeutungsvoll wie die verschiedenen Tiere. Allein schon von daher ist es falsch, den
Totemismus in eine patriarchale Jägerkultur zurück zu projizieren, wie es öfter in der
(Missions)-Ethnologie geschehen ist, in Ausklammerung der matriarchalen Mythologie, der
Sammeltätigkeit, des Gartenbaus und der Pflanzer/innen-Arbeit.
Abschliessend möchte ich eine Herkunftserzählung aus Peru anfügen, die
nochmals von einer "übernatürlichen" Geburt berichtet. Wir finden darin eine
Grosse Göttin, die sich als Baumgöttin manifestiert und aus sich selbst heraus in einer
Tochter verjüngt, die wiederum in eine Tochter übergeht, was eine charakteristische
mutterrechtliche Genealogie bildet. Diese Motive gehören zu einer altperuanischen Kultur
bzw. zu einer frühtotemistisch-matriarchalen Schicht. Andere Züge wiederum - der Mann
und Zauberer, der humoristische Schluss - sind wahrscheinlich nicht sehr alt und können
in Varianten anders dargestellt worden sein.
Der Baum, der einem Mann ein Kind schenkte
Es lebte einst ein Mann, der mit einem Baum zu reden verstand. Er ging
einmal in den Wald und fand einen grossen Baum mit einem bauchigen Stamm. Er umrundete ihn
mehrere Male, dann sprach er ihn an: "Könntest du mir nicht das Kind geben, das in
deinem Bauch ist?" Da begann der Baum auf einmal zu sprechen: "Wenn du willst,
dass ich ein Kind zur Welt bringe, musst du freundlich mit mir sein und für mich
singen."... Da hörte er eigenartige Geräusche, die vom Baum her kamen. Wie wenn
eine Frau in den Wehen liegt, klang es. Und dann sah er, wie ein Baby zur Welt kam. Er hob
es auf und trennte die Nabelschnur durch. Es war ein Mädchen.
Prozess der "Zivilisierung"
In einem Märchen aus Neapel des 17. Jahrhunderts bei Basile mit dem Titel
"Die Küchenmagd" springt die weibliche Hauptfigur Lilla über eine Rose, der
dadurch ein kleines Blatt abfällt. Um die Wette mit ihren Gespielinnen zu gewinnen,
schluckt Lilla heimlich und geschwind das Rosenblatt hinunter. Nach drei Tagen jedoch
fühlt sie sich schwanger. Die Zusammenhänge mit der Rose werden dann dem
"unschuldigen" Mädchen von den Feen gedeutet.
Die Küchenmagd
Es war einmal ein Baron von Selvascura. Der hatte eine unverheiratete
Schwester, die sprang am liebsten mit ihren Altersgenossinnen im Garten umher. Eines Tages
fanden sie eine schöne, völlig erblühte Rose, und sie setzten einen Preis aus für
diejenige, die, ohne ein Blättchen zu berühren, glatt über den Rosenstrauch
hinwegspringen könne. Und die ganze Mädchenschar sprang rittlings über die Rose, alle
aber berührten sie, und keine einzige kam glatt hinüber. Als aber die Reihe an Lilla
war, der Schwester des Barons, trat sie ein Stück zurück und nahm einen so gewaltigen
Anlauf, dass sie hoch über die Rose hinwegsprang. Nur ein einziges Blättchen fiel ab,
sie war aber so schlau und gewandt, dass sie es unbemerkt vom Boden aufhob,
hinunterschluckte und den Preis gewann.
Es waren noch keine drei Tage vergangen, da fühlte Lilla sich
schwanger. Darüber wurde sie zum Sterben traurig, denn sie wusste genau, dass sie sich
nicht gegen Anstand und Ehrbarkeit vergangen hatte, und konnte nicht begreifen, wie ihr
der Leib hatte anschwellen können. Sie eilte daher zu einigen Feen, mit denen sie
befreundet war. Die hörten sich den Fall an und sagten ihr, sie solle nur ganz ruhig
sein, denn das komme von dem Rosenblättchen, das sie verschluckt habe. Als Lilla das
erfahren hatte, suchte sie so lange wie möglich ihren Zustand zu verheimlichen. Dann aber
kam die Stunde, da sie ihre Bürde ablegen sollte, und sie gebar ein schönes Mädchen.
Sie gab ihm den Namen Lisa und schickte es den Feen.
Obwohl wir hier ein echt totemistisches Motiv einer
"übernatürlichen" Empfängnis vor uns haben, erhebt sich die Frage: Ist diese
Vorstellung für Basile im 17. Jahrhundert noch geglaubte Wirklichkeit? Ist das
totemistische Motiv für den Autor nicht vielmehr ein novellistisches Erzählfabulat, eine
stilistische Form der Unterhaltung und der Sensation? Wird die archaische - und wohl nicht
mehr verstandene - Anschauung in einem nun romanhaften Kontext mit einer
"erotisierenden" Sprache nicht zum billigen Kitzel und zur voyeuristischen
Trivialität? Wahrscheinlich schöpft Basile aus einer Volkskultur, in der totemistische
Anschauungen noch nachwirken, er selbst jedoch, gelehrter Angehöriger der Kultur der
Eliten, benützt diese im Sinne einer novellistischen Spielform.
Ich versuche nun, den ethnologischen und stilistischen Prozess der
Umdeutungen grob zu skizzieren, indem ich von den Inhalten der totemistischen Frühformen
ausgehe und die umformende Entwicklung beschreibe. Wie wir gesehen haben, ist in der
totemistisch-schamanistischen Frühform z.B. das Tier nicht das Untermenschliche, sondern
von gleicher Abstammung wie der Mensch, ja das Tier ist selbst Ahnenwesen der Menschen.
Beide gehören zur gleichen Familie mit einer gemeinsamen Sprache und fliessenden
Übergängen: Menschen werden Tiere und Tiere werden Menschen, was als
Selbstverständlichkeit erachtet wird. Auch die Heirat mit einem Tier hat weder etwas
Negatives noch etwas Perverses an sich, "noch bedarf sie einer besonderen, magisch
bewirkten Verwandlung oder Erlösung." (Röhrich) Die Tierverwandlung ist
ursprünglich eben keine Strafe oder ein sagenmässiger Schadenzauber, denn Tier- und
Menschenwelt begegnen sich auf derselben Ebene, sind keine streng gesonderten Bereiche,
was ganz allgemein für alle Erscheinungen der Natur gilt.
In einem ersten Schritt der Umdeutung werden die Inhalte der
totemistisch-schamanistischen Frühform zu einer Zauberer- und Magier-Erzählung, in der
es nun zur Tierverwandlung magischer Praktiken und Zaubereien bedarf. Das vorhin
Selbstverständliche und Allgemeine wird zum Spezialisierten, das von einem besonders
Zauberkräftigen ausgeübt wird. In einem nächsten Schritt erhalten diese Inhalte einen
moralischen Anstrich. Die Tierverwandlung wird in ein duales System gepresst und mit dem
Dämonisch-Bösen verbunden; in den hochreligiösen Ideologien wird die Tierverwandlung
zum Musterbeispiel des Schadenzaubers bzw. in Sage und Legende zu einer Strafe Gottes.
Damit verbunden erscheint das Motiv der Erlösung, das in den ursprünglichen Erzählungen
unbekannt ist. Begriffe wie Verwünschung, Schadenzauber, Strafe und Schuld kennzeichnen
nun die Berichte. War das Motiv der "Erlösung" früher einfach eine
körperliche Entwandlung, eine ablösende Rückverwandlung, so behaftet die Hochreligion
diesen Vorgang mit moralischen Kategorien der Sünde und sieht in ihr einen geistigen
Prozess. Allgemein ist nun die Tierverwandlung eine erniedrigende Entmenschlichung, das
Tier selbst eine untermenschliche Kreatur.
Ein weiterer Schritt geht in Richtung Entseelung des Tieres und der Natur
- für einen Descartes ist das Tier eine Maschine. Diese Rationalisierung hat das Märchen
nicht mehr mitgemacht, jedoch eine andere Entwicklung. Der ursprüngliche
Wirklichkeitscharakter geht verloren, das Geglaubte wird zur Gattung, zur blossen
Spielform der Künstlichkeit. Die totemistisch-schamanistische Frühform und der
matriarchale Hintergrund - sofern sie noch erkenntlich oder überliefert sind - werden zum
stilistischen Spannungselement und zur novellistischen Abenteuerserie. Wir kennen diese
"bürgerliche" Trivialität z.B. mit völlig enterotisierten Figuren oder mit
patriarchalen Wunschprojektionen und Verhaltensmustern: die Frau erlöst durch Leiden und
Dienen, der Mann durch Befreien. Oder das Märchen wird psychologisch und romantisch, mit
einer erlösenden Liebe als Lieblingsmotiv einer Spätzeit. Die Entwicklung zur
kunstvollen und künstlichen Liebesnovelle ist vorprogrammiert, in der jede Handlung und
Gestalt den trivialen Motivierungen hilflos zur Verfügung steht. Ich bezeichne dies als
das Ende der totemistischen Anschauungen. Zugleich ist es das Produkt einer
jahrhundertelangen Entwicklung, ja Triumph und Sieg einer expandierenden und herrschenden
Hochkultur über eine zu kontrollierende Kultur des Volkes. Schliesslich auch die
endgültige "Zivilisierung" der sogenannten Wildnis - der menschlichen wie der
natürlichen.
Quelle: Kurt Derungs: Märchen und Totemismus. In: Tier und Totem.
Naturverbundenheit in archaischen Kulturen. Bern 1998.
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