Die kluge
Bauerntochter 875
Märchentyp AT: 875
Grimm KHM: Die kluge Bauerntochter 94
Ein Bauer findet einen Mörser aus
Gold. Die Tochter rät dem Vater, ihn nicht dem König zu
geben. Als er dies dennoch tut, fordert der König auch
den nicht auffindbaren Mörserstössel, weshalb der Bauer
die Klugheit seiner Tochter preist. Die Klugheit des
Mädchens interessiert den König, und er befiehlt sie zu
sich, weder bekleidet noch unbekleidet, weder zu Pferd
noch zu Fuss, weder auf noch neben dem Weg. Sie kommt in
ein Netz gehüllt, auf einem Bock in den Radspuren
reitend. Der König heiratet das Mädchen, aber sie muss
versprechen, sich nicht in die Regierungsgeschäfte
einzumischen. Der König spricht einem Bauern ein Fohlen
als von seinem Hengst geboren zu; das Mädchen jedoch
entblösst den einfältig-königlichen Entscheid. Da sieht
der König seinen Irrtum ein, jagt aber schliesslich das
Mädchen davon, doch mit dem Zugeständnis, dass sie
mitnehmen dürfe, was ihr am liebsten sei. Nachdem sie den
König völlig berauscht gemacht hat, nimmt sie ihn mit
sich nach Hause. Sie versöhnen sich wieder.
Anmerkung
Das hier wiedergegebene Märchen, das Disamärchen,
dürfte aus orientalischen Motiven zusammengestellt sein,
von denen uns die meisten aus jüdischen und indischen
Schriften bekannt sind. Doch hat sich auch Plutarch damit
beschäftigt zu erklären, mit welchen Eigenschaften usw.
zahlreiche Superlative (wie das "älteste",
"stärkste", "leichteste")
gleichzustellen sind. Den ältesten Beleg für Motive,
welche an die des Märchens erinnern, haben wir jedoch in
Indien, teils im Mahabharata, teils in den sogenannten
Jatakas oder Erzählungen von Buddhas Wiedergeburten. In
beiden finden wir ähnliche Aufgaben, z.B. nicht auf noch
neben dem Weg zu gehen, und in den Legenden über Buddhas
Wiedergeburten gibt es auch Gedankengänge, die an den
fohlenden Hengst erinnern. Dort wird nämlich u.a. im
gleichen Atemzug von einem Kalb gesprochen, das von einem
Stier geboren wurde.
Zum Märchen gehörende Motive finden wir auch in den
Erzählungen über die Kindheit Salomos und in Salomon und
Markolf (vgl. 217, 921) wie auch in den Gesprächen des
Kaisers Hadrian mit dem klugen Knaben Epitus, wo der Knabe
u.a. die Frage beantwortet, was am schnellsten sei.
Ratherius von Verona erzählt weiter im 10. Jahrhundert
und Johannes de Alta Silva um das Jahr 1185 im Dolopathos
von einem Ratsherrn, der unter den gleichen Bedingungen
wie die Heldin unseres Märchens zu seinem König gerufen
wurde. Auch in den Gesta Romanorum (Kap. 124) wird von
einem Ritter erzählt, dem auferlegt wird, weder gehend
noch reitend zu kommen. Diese Vorschrift ist in vielen
Fällen mit einem früheren Befehl verbunden, auf Grund
einer Hungersnot die Alten zu töten (981*).
Das Netzmotiv scheint hauptsächlich Europa und dessen
östlichen Randstaaten sowie Nordafrika mit Ägypten
anzugehören. Man hat im Zusammenhang hiermit darauf
hingewiesen, dass im Mittelalter u.a. in Holland die
Bettler in Netze gekleidet gewesen sein sollen. Sie wurden
"Netboeve" genannt. O. Almgren hat jedoch
hervorgehoben, dass Göttinnen und Mumien sowohl in
Ägypten wie auf Kreta in Netze gekleidet dargestellt
worden sind. Er erwähnt besonders Isis und Diktynna (vom
griechischen diktys = Netz). Die Netzbekleidung scheint
eine Art Kultkleidung gewesen zu sein.
Das Schlussmotiv des Märchens, in dem die Heldin um
Erlaubnis bittet, mitnehmen zu dürfen, was sie am
liebsten habe, findet sich in einem jüdischen Kommentar
zum Hohen Lied (Midrasch Rabbath aus der Zeit zwischen dem
7. und 12. Jahrhundert) und möglicherweise in noch
älteren althebräischen Texten (vgl. 887 Griseldis).
Es scheint, als ob das Märchen in Europa ursprünglich
eine Kurzform gehabt hätte, der dann die verwickelteren
Einleitungs- und Schlussmotive hinzugefügt wurden. Die
Einführung dieser Kurzform im Norden dürfen wir
sicherlich dem Einfluss der Dominikaner zuschreiben, die
in Schweden bereits im 13. Jahrhundert auftraten. Eine
solche Form haben wir in der Ragnarssaga Lodbrokar aus dem
13. oder 14. Jahrhundert. Darin heisst es, das Kraka von
Spangereid in Südnorwegen so schön war, dass Ragnars
Gefolgsleute ihr Brot im Ofen verbrennen liessen, um sie
anzusehen. Ragnar befahl ihr daher, zu ihm zu kommen,
weder bekleidet noch unbekleidet, weder satt noch hungrig,
weder allein noch in jemandes Gesellschaft. Sie kam in ein
Netz gehüllt, nachdem sie eine Zwiebel gegessen hatte,
und war von einem Hund begleitet. Ragnar nahm sie zur
Gemahlin. Das nordeuropäische Material und besonders das
schwedische sind begreiflicherweise von dieser Erzählung
beeinflusst worden. Sie wird teilweise bereits von Olaus
Magnus im Märchen von Disa (Buch IV, 6) wie bei Messenius
im Jahr 1611 und bei Rudbeck in Atlantica wiedergegeben.
Afzelius gibt uns jedoch in seinen Sagohäfder (I,16) das
auf schwedischem Boden vollständigste Bild:
Nach einem langdauernden Frieden hatte sich die
Bevölkerung vermehrt. Hungersnot drohte, und das Thing
beschloss, dass alle Alten, Kranken, Bresthaften und
Schwachen erschlagen werden sollten (981*). Als einer der
Ratsherren nach Hause auf seinen Hof kam und seiner
Tochter Disa diesen Beschluss mitteilte, sagte sie, sie
hätte besseren Rat geben können. Der König war darüber
erbost und rief Disa zu sich. Sie sollte kommen,
"nicht zu Fuss, nicht zu Pferd und nicht fahrend oder
segelnd, nicht bekleidet, aber auch nicht unbekleidet,
nicht innerhalb eines Jahres oder Monats, nicht bei Tag
und bei Nacht, nicht bei zunehmendem Mond und auch nicht
bei abnehmendem". Sie kam mit "zwei jungen
Männern vor einen Schlitten gespannt und liess an der
einen Seite einen Bock leiten, hatte ein Bein im Schlitten
und das andere über dem Bock und war selbst in ein Netz
gekleidet", und das geschah "am dritten Tag vor
dem Weihnachtstag, einem der Tage des Sonnenstandes, der
nicht zum Jahr mitgerechnet wird - gerade zu Vollmond in
der Dämmerung." Sie kam mit dem Rat, Ansiedler und
Rodende auszusenden, anstatt die Alten zu töten. Der
König fand solches Wohlgefallen an ihrer Rede, dass er
sie zur Königin machte, und sie lebte lange, geehrt und
geliebt vom König und vom Volk, und viele schwere Fragen
wurden ihr vorgelegt.
Fragen als Scharfsinnsproben von einer diesem Märchen
nahestehenden Art haben Schweden bereits vor 1220 durch
die Kelten erreicht, und zu diesen kam der Stoff schon so
frühzeitig, dass er sogar in den Finn-Zyklus (9.
Jahrhundert) eingehen konnte. Wir finden ihn besonders in
einer Erzählung über Diarmuid und seine Fahrtgesellen,
die sich in der jüngeren Edda in den Erzählungen von
Thors Fahrt zu Utgardaloki widerspiegelt (um 1220), mit
Lokis Wettessen mit dem Feuer, Thalfis Wettlauf mit dem
Gedanken und Thors eigenem Versuch, das Meer auszutrinken
und das Alter zu besiegen (vgl. 302 und 580). Das Motiv
zeugt von dem Bestreben der Skalden, die
Scharfsinnsproben, die sich ja oft auf abstrakter Ebene
bewegten, zu dramatisch-symbolischen Handlungen
umzuformen.
Literatur
Derungs, K. (Hg.): Keltische Frauen und
Göttinnen. Matriarchale Spuren bei Kelten, Pikten und
Schotten. Bern 1995.
Dömötör, A.: Bauerntochter, Die kluge. In: EM 1, p.
1353-1365.
Propp, V.J.: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens.
München 1987.
Thompson, S.: The Folktale. New York 1951.
Vries, J. de: Das Märchen von klugen Rätsellösern.
Helsinki 1928.
Wesselski, A.: Der Knabenkönig und das kluge Mädchen.
Prag 1929.
Märchen
>> Das grosse Buch der
Zaubermärchen
Hinweise
Wir können folgende Teile des Märchens unterscheiden:
A1. Ein Bauer findet im Acker einen goldenen Mörser und
bringt ihn gegen den Rat seiner klugen Tochter dem König,
der auch die Keule dazu verlangt. - A2. Zwei
prozessierende Bauern sollen dem Richter sagen, was das
Schönste, Stärkste und Reichste auf Erden sei; der eine
antwortet, wie seine Tochter ihm geraten: der Frühling,
die Erde, der Herbst. - B. Das kluge Mädchen löst
verschiedene Aufgaben des Königs: (B1) kommt nicht
gekleidet und nicht nackt, (B2) beantwortet die Frage,
wieviel sein Bart wert sei, (B3) die Forderung, aus zwei
Fäden ein Tuch zu weben, oder (B4) gekochte Eier eilig
auszubrüten. - C. Sie wird des Königs Gemahlin. - D. Als
der König einen Rechtshandel über ein Füllen verkehrt
entscheidet, weist sie den Geschädigten an, ihn durch ein
ebenso unsinniges Beginnen ad absurdum zu führen. - E.
Wie der König sie darauf verstösst und ihr nur erlaubt,
das, was ihr am liebsten ist, mitzunehmen, nimmt sie ihren
schlafenden Mann mit sich und bewegt ihn so zur
Versöhnung.
Irisch: "The poor girl that became a queen".
"The little girl who got the better of the
gentleman"; ihr Vater soll sagen, ob's mehr Flüsse
oder Ufer gibt, wieviel Sterne sind, wieviel Quart das
Meer enthält. - Slowenisch: das Beste der rechte Sinn,
das Mächtigste der Schlaf, das Stärkste die Lüge. Aus
Krain: das Glücklichste die Erde, das Schnellste die
Augen, das Süsseste der Schlaf.
Im türkischen Märchen legt der als Derwisch
verkleidete König dem Holzhauer drei Fragen vor, die er
bei Todesstrafe in drei Tagen beantworten soll: Was ist
der Mond, die Sterne, Tag und Nacht? Die Tochter weiss es
und wird des Königs Gattin. - Ajssorisch: das Mädchen,
das dem Minister hilft einen Widder zu verkaufen und
Wolle, Braten und Geld zurückzubringen, soll dem König
einen Sohn gebären, ein Fohlen von seinem Ross und zwei
Hunde von seinem Jagdhund schaffen; sie folgt ihm als
Kaufmann verkleidet. Aramäisch: die dem Vezier
vorgelegten drei Fragen beantwortet dessen Tochter.
In diesem Märchen fanden die Brüder Grimm 1815 eine
deutliche Spur der isländischen Sage von Aslaug, Tochter
der Brünhild von Sigurd. Wiewohl von einer königlichen
Geburt der Bauerntochter nicht geredet wird, zeigt sich
doch dasselbe Verhältnis. Sie ist über ihren Stand und
ihre Eltern weise, und der König wird durch ihre Klugheit
auf sie aufmerksam gemacht, wie Ragnar auf Kraka (so
heisst Aslaug als Bäuerin). Um sie zu prüfen, legt er
ihr gleichfalls ein Rätsel vor, das sie durch ihren
Scharfsinn glücklich und rasch löst. Der Inhalt beider
Rätsel stimmt nahe zusammen, es sind nur verschiedene
Äusserungen desselben Gedankens. Der nordeuropäische
König verlangt von Kraka, sie solle kommen
"gekleidet und ungekleidet, gegessen und ungegessen,
nicht einsam und doch ohne jemands Begleitung". Sie
wickelt sich, wie im Märchen, nackt in ein Fischgarn,
darüber her ihr schönes Haar, beisst ein wenig in einen
Lauch (Zwiebel), so dass man den Geruch davon empfindet,
und lässt ihren Hund mitlaufen. Auch in der
fortwährenden Klugheit und wie sie sich des Königs Liebe
wieder zuwendet, der sie zurückschicken will, gleicht die
Bauerntochter der Aslaug. Ragnar war in Schweden beim
König Eistein, dessen schöne Tochter Ingeborg ihm
gefiel; auch seine Leute raten ihm, eines Bauern Tochter
nicht länger bei sich zu haben. Als er aber nach Haus
gekommen ist und beide zu Bett gegangen sind, kennt Aslaug
durch ihre Vögel schon sein Vorhaben, entdeckt ihm ihre
königliche Abkunft und gewinnt dadurch wider seine
Neigung.
In all diesen Erzählungen handelt es sich um
Klugheitsbeweise eines Mädchens aus niederem Stand, die
wir in fünf Gruppen sondern können:
1. Sie beantwortet Rätselfragen. - Im indischen
Märchen legt ein habgieriger König einem reichen
Kaufmann vier Fragen vor, die er in sechs Monaten
beantworten soll; seine kluge Frau kommt, legt vor die
Hofleute Gras und Körner, vor den König einen Becher
Milch, um ihre tierische und seine kindische Sinnesart
anzudeuten, und löst die Fragen: Was nimmt immer ab? (das
Leben). Was nimmt immer zu? (der Ehrgeiz). Was nimmt weder
ab noch zu? (eines jeden Schicksal). Was nimmt ab und zu?
(die Welt).
2. Das Mädchen gibt dem König oder dessen Diener
rätselhafte Antworten, aus denen er ihre Klugheit
erkennt, oder sie deutet rätselhafte Handlungen und Reden
des Königs. - Ein italienisches Märchen vom klugen
Mädchen beginnt mit der Einkehr des Prinzen im
Försterhaus, wo er den ihm vorgesetzten Kapaun mit der
Familie teilt und dem Vater den Kopf, der Mutter den
Rücken, dem Sohn die Beine und der Tochter die Flügel
gibt; nachts hört er, wie das Mädchen dem Bruder den
Sinn dieser Teilung richtig auseinandersetzt. Darauf
schickt er durch seinen Diener dem Mädchen eine runde
Torte nebst dreissig Pastetchen und einem Kapaun und
lässt fragen, ob es Vollmond und der 30. Monatstag
gewesen sei und der Kapaun abends gekräht habe; sie
bestellt, es sei kein Vollmond, sondern der 15. Tag
gewesen und der Kapaun sei zur Mühle gegangen, der Prinz
möge aber den Fasan um des Rebhuhns willen schonen.
Daraus erkennt der Königssohn sowohl die Dieberei des
Dieners als die Klugheit und Güte des Mädchens.
3. Die Heldin löst die Aufgabe, zu ihm zu kommen nicht
gekleidet und nicht nackend, nicht gegangen, nicht
geritten und nicht gefahren, nicht in dem Weg und nicht
ausser dem Weg, nicht bei Tag und nicht bei Nacht, mit
einem Geschenk, das kein Geschenk ist. Im indischen
Antarakathâsamgraha soll Rohako, nachdem er mehrere
Aufgaben des Königs gelöst, zu diesem kommen, nicht bei
Tage noch bei Nacht, nicht im Schatten noch in der Sonne,
nicht in der Luft noch zu Fuss, nicht auf noch ausser der
Strasse, nicht gewaschen noch ungewaschen; er wäscht sich
nur den Hals, steigt auf einen Widder, einen Fuss auf der
Radnabe eines Karrens [?], trägt ein Sieb als
Sonnenschirm und erscheint während der Dämmerung. Im
tibetischen Kandjur soll Pûrna dem König Reis senden
nicht auf und nicht ausser dem Weg, nicht reitend und
nicht zu Fuss; auf seines Sohnes Rat geht der Bote mit
einem Fuss auf, mit dem andern neben dem Weg und trägt
nur einen Schuh, während der andere Fuss unbeschuht
bleibt. Abû Nuwâs im arabischen Märchen soll kommen
weder in der Sonne noch im Schatten, weder reitend noch zu
Fuss; der Kaufmann in der ägyptischen Erzählung
"Les trois filles du marchand de fèves"
zugleich lachend und weinend, bekleidet und nackt, reitend
und gehend.
4. Das Mädchen umgeht die schwierige Aufgabe dadurch,
dass es vom Auftraggeber vorher die Ausführung einer
ebenso schweren fordert. In der siebenbürgischen Fassung
bei Haltrich Nr. 46 schickt das Mädchen, das aus zwei
Fäden Hemd und Hosen weben soll, dem König zwei
Besenreiser, damit er daraus einen Webstuhl und ein
Spulrädchen mache, und bittet ihn, den zerbrochenen
irdenen Topf, an den sie den Boden annähen soll, erst
umzuwenden, denn der Schuster nähe inwendig. In der
pommerschen Aufzeichnung soll die Besenbinderstochter eine
Mandel Eier ausbrüten; sie merkt aber, dass sie schon
gekocht sind, und sendet dem Grafen gekochte Hirse zum
Säen, damit die Küken zu fressen haben.
5. Die Heldin rät einem durch eine verkehrte
Entscheidung des Richters Geschädigten, den Richter durch
ein ebenso verkehrtes Beginnen ad absurdum zu führen. Im
Zwehrner Märchen urteilt der König, das neugeborene
Füllchen, das sich zwischen zwei Ochsen gelegt, solle dem
Besitzer der Ochsen gehören und nicht dem Bauern, der die
Stute hatte; der geschädigte Bauer stellt sich auf den
Rat der Königin am andern Morgen auf die Strasse und tut,
als ob er fischte; wie aber der König sich darüber
wundert, antwortet er: "So gut als zwei Ochsen
können ein Füllen kriegen, kann ich auch auf dem
trockenen Platz fischen".
Variantenverzeichnis
>> Märchen-Suchdienst
Königin Isabelle.
Busch/Deutschland 9
Die kluge Bauerntochter. Grimm/KHM 94
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