Von dem
Machandelbaum 720
Märchentyp AT: 720
Grimm KHM: Von dem Machandelbaum 47
Eine Stiefmutter oder Mutter tötet
ihren (Stief)-Sohn und gibt die Schuld ihrer Tochter. Sie
kocht ihr Kind und gibt das Fleisch dem Vater
unwissentlich zu essen. Die immerzu weinende
Stiefschwester (Schwester) sammelt die Knochen des Bruders
behutsam ein und vergräbt sie unter einem
Wacholderstrauch. Aus ihnen entsteht ein Vogel, der in
seinem Gesang das Geschehnis dreimal verschiedenen Leuten
erzählt und dafür Geschenke erhält, die er der
Schwester und dem Vater bringt. Schliesslich lässt er der
Mutter, als diese ebenfalls aus dem Haus geht, um zu
sehen, was sich draussen ereignet, einen Mühlstein auf
den Kopf fallen, der sie erschlägt. Hierauf verwandelt
sich der Vogel auf magische Art und Weise wieder in einen
kleinen Jungen.
Anmerkung
Die Reime, die der Vogel singt, zeigen insbesondere in
ganz Westeuropa grosse Übereinstimmung. Der Wacholder
wurde gewählt, weil man ihm eine gewisse Zauberkraft
zuschrieb. Dass die gesammelten Knochen eines Toten die
Auferstehung ermöglichen, war ein vom nördlichsten
Europa bis in den Orient verbreiteter Volksglaube (siehe
750B). Der älteste Beleg des Märchens dürften die
Anspielungen sein, die Goethe u.a. im Faust (im Jahr 1774)
macht. Der Gedanke selbst begegnet uns jedoch schon in der
Odyssee, wo es heisst, dass Itylos von seiner Mutter
irrtümlich getötet wurde, die, in eine Nachtigall
verwandelt, den Tod ihres Sohnes beklagt. Sophokles (400
v.u.Z.) hat eine andere Version. Er sagt, dass Itylos
unter dem Namen Itys von seiner Mutter aus Rache für die
Untreue des Gatten getötet und dann gebraten und diesem
zu essen gegeben wurde. Die Mutter wurde deshalb in eine
Schwalbe verwandelt. Es ist zu bemerken, dass in beiden
Fällen die Mutter und nicht der Sohn in einen Vogel
verwandelt wird.
Literatur
Belgrader, M.: Das Märchen von dem
Machandelboom. Frankfurt, Bern, Cirencester 1980.
Burkert, W.: Vom Nachtigallenmythos zum
Machandelboom. In: Veröffentlichungen der Europ.
Märchengesellschaft 6, 1984. p. 113-125.
Derungs, K.: Archaische Naturmotive in der
Zaubermärchen. In: Die ursprünglichen Märchen der
Brüder Grimm. Bern 1999.
Harva, U.: Die religiösen Vorstellungen der altaischen
Völker. Helsinki 1938.
Just, G.: Magische Musik. Frankfurt 1991.
Meuli, K.: Bettelumzüge im Totenkultus, Opferritual und
Volksbrauch. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde
28, 1927, p. 1-38 oder in: Gesammelte Schriften. Basel,
Stuttgart 1976.
Oberfeld, C.: Der Wacholderbeem, ein Mythenmärchen? In:
Hessische Blätter für Volkskunde 51/52, 1960, p.
218-223.
Uhsadel-Gülke, C.: Knochen und Kessel. Meisenheim 1972.
Märchen
>> Das grosse Buch der
Zaubermärchen
Hinweise
Nach einer Erzählung aus der Pfalz, wird das
Schwesterchen von der Mutter neben den Topf gestellt,
worin das gemordete Brüderchen kochen soll. Es ist ihm
streng verboten hineinzusehen; doch wie es so arg in dem
Topf kocht, deckt es einmal auf, und da streckt ihm das
Brüderchen das Händchen heraus. Darüber kriegt es Angst
und macht gleich wieder zu, weint aber dabei. Wie es gar
gekocht ist, muss es dem Vater das Essen in den Weingarten
hinaustragen; es sammelt die Knochen und begräbt sie
unter einen wilden Mandelbaum. Andere erzählen, es hätte
sie eingefädelt und zum Speicher hinausgehängt. Da ist
das Brüderchen in ein Vögelchen verwandelt worden und
hat gepfiffen:
"Mei Moddr hot mi toudt g'schlagn,
Mei Schwestr hot mi hinausgetragn,
Mei Vaddr hot mi gesse;
I bin doch noh do,
Kiwitt, Kiwitt!"
Die Geschichte wird in Hessen häufig, selten aber so
vollständig erzählt; es lässt sich daraus etwa nur noch
hinzusetzen, dass das Schwesterchen die Knochen an einem
rotseidenen Faden zusammenreiht. Die Verse lauten:
Meine Mutter kocht mich,
Mein Vater ass mich;
Schwesterchen unterm Tische sass,
Die Knöchlein all all auflas,
Warf sie übern Birnbaum hinaus,
Da ward ein Vöglein daraus,
Das singet Tag und Nacht.
In einer andern hessischen Fassung wirft der Vogel
Weck, Wurst, Schlappen, Leibchen und endlich einen
Mühlstein herab; er singt:
Meine Mutter mich erschlug,
Meine Schwester mich trug,
Mein Vater mich ass,
Mein Schwesterje mich zusammenlas
Auf e Stöckelje (Wurzelstock),
Ich fortflog, bi e Vögelge.
Brentano hörte das Märchen als Knabe von einer
achtzigjährigen schwäbischen Amme; hier wurde eine
goldene Kette an den Vater und ein Paar rote Schuhe an die
Tochter verschenkt. - Aus der Oberpfalz ist's kein Knabe,
sondern ein Mädchen, das von der Stiefmutter erschlagen
wird:
Meine Mutter mich schlug, mein Vater mich ass,
Mein klein Schwesterlein band zusammen die Bein,
Tat sie in eine Binde, grub sie unter die Linde;
Daraus ward ich kleines Waldvögelein.
Aus Waldeck "Das Vögelchen":
Meine Mutter hat mich tot geschlagen,
Meine Schwester in den Berg [!] getragen,
Mein Vater hat mich gegessen;
Bin doch noch da, bin doch noch da!
Aus Yorkshire: "The cruel stepmother and her
little daughter"; hier schlägt die Stiefmutter dem
Mädchen das Haupt ab und setzt das Herz dem Vater vor;
der weisse Vogel aus dem Rosenstrauch auf dem Grab pickt
an den Schornstein und wirft dem Bruder ein Schwert, dem
Vater eine Uhr, der Mutter aber einen sie zerschmetternden
Stein zu; Verse fehlen. Aus Australien "Orange and
lemon":
My mother killed me, My father picked up my bones, My
little sister buried me, Under the marble stones.
Wallonisch "Le collier rouge": Ma mère m'a
tué, Ma soeur m'a porté, Mon père m'a mangé, Ma soeur
a ramassé les os. Elle a été les laver, À la fontaine
du curé. Elle a été les mettre sécher, À la niche du
vieux saule. "Le squelette qui chante" (statt
des Vogels ein Gerippe auf dem Dach). Ma mère m'a tué,
Mon père m'a mangé, Ma soeur m'a ramassé. Excavation de
saule! An bout de sept ans je suis ressuscité. Mais
lorsque ma mère viendra ici, Je lui laisserai tomber une
meule sur la tête.
Aus Frankreich: "Le pegeon blanc": Ma mère
m'a tué, Mon père m'a mangé, Ma petite soeur Marguerite
m'a ramassé, M'a mis sur un petit aubépin, M'a dit:
Fleuris, fleuris, mon petit frère! Das Vöglein singt: Ma
mrâtre, Pique pâtre, M'a fait boullir, Et rebouillir.
Mon père, Le laboureur, M'a mangé, Et rongé. Ma jeune
soeur, La Lisette, M'a pleuré, Et soupiré, Sous un
arbre, M'a enterré. Riou tsiou tsiou, Je suis encore en
vie.
Rumänisch: Stiefmutter durch den Stein erschlagen, mit
dem sie nach dem Kuckuck wirft. - Die tschechische Fassung
erinnert im Eingang an Hänsel und Gretel (KHM 15); der
Knabe, der sich beim Vater beklagt, wird von der
Stiefmutter getötet und gekocht; der Vogel fliegt zur
Näherin, zum Krämer, Schuster, Schneider und Kaufmann,
wird beschenkt und singt sein Lied auf dem Dach des
Vaterhauses; er fängt einen Stein auf, den die
Stiefmutter nach ihm wirft, und tötet sie; dann wird er
wieder zum Knaben. - Slowakisch: "Das Mütterchen
tötete mich, das Väterchen ass mich auf, und das
Schwesterlein sammelte die Knöchlein, vergrub sie unterm
Rosenstrauch, daraus wurde ein Vögelein". Der Vogel
fliegt endlich fort ans Ende der Welt. - Kleinrussisch:
beide Eltern töten den ungeliebten Sohn und stellen dem
Vogel nach; andre Leute nötigen den Vater zum Bekenntnis,
die Mörder werden von Pferden zu Tode geschleift. Aus
Südungarn: der Vater hängt die zusammengebundenen
Knochen des verzehrten Knaben an einen Weichselbaum; der
Vogel tötet Eltern und Stiefschwester und wird wieder zum
Knaben. Bei Cubinskij verrät dagegen die eigentliche
Mutter als Kuckuck den Mord ihrer Kinder. - Weissrussisch:
der Vater verzehrt nicht das Fleisch des Knaben, statt des
Machandelbaums erscheint eine Birke, und statt des
Mühlsteins ein brennender Wachsstock. Federowski: der vom
Vater auf Antreiben der Stiefmutter getötete Knabe,
dessen Knochen die Schwester auf sein Geheiss unterm Ahorn
vergräbt, wird zum grauen Täuberich, beschenkt die
Schwester, tötet Stiefschwester und Stiefmutter und wird
wieder Mensch. - Lettisch: die Schwester legt die Knochen
einer Meise ins Nest, die daraus ein Vöglein ausbrütet;
dies lässt einen Mühlstein auf die Stiefmutter fallen,
beschenkt Schwester und Vater mit Goldkranz und
Fellmütze.
In einer Erzählung der Osttscheremissen überredet die
Stiefmutter, als Wahrsager verkleidet, ihren Mann, den
Knaben zu opfern. Aus einem Knochen, den die Schwester in
einer hohlen Eiche geborgen, ersteht ein Vogel, der unter
dem Gesang:
"Mein Vater hat mich geschlachtet,
Meine Stiefmutter, die Hexe, hat mich gefressen"
auf den Vater eine Windel, auf die Mutter ein Sieb
wirft, so dass beide sterben, und in den Armen seiner
Schwester wieder zum Menschen wird. - Arabisch aus
Ägypten: die Schwester sammelt die Gebeine des von der
Stiefmutter geschlachteten Knaben Mohammed; daraus wird
ein Vogel, der ihr Gold, den Eltern aber Gift zuwirft. -
In der kurdischen Sage vom Vogel Go'in dagegen wird nicht
der getötete Knabe, sondern seine Schwester, die den Mord
offenbart und die Bestrafung der Mörderin herbeiführt,
in einen Uhu verwandelt. - Wie ein oben zu KHM 28
angeführtes Betschuanenmärchen, so steht auch ein
Märchen aus Louisiana: hier hört der Mann, der unwissend
seiner Kinder Fleisch verzehrt hat, unter dem Stein im Hof
den Gesang erklingen. "La métamorphose d'une jeune
fille" berichtet, wie das von der Mutter getötete
Mädchen aus dem Wasser seine Schwester anruft:
"Deine Mutter Mosibutsane, hat mich zu Staub
verbrannt und in den Wind gestreut; das Krokodil nahm mich
auf, gab mir Menschengestalt zurück und machte mich zu
dem, was ich bin."
Mit dem singenden Knochen (KHM 28) hat unser Märchen
die Aufdeckung eines schaurigen Verwandtenmordes durch ein
Lied gemeinsam; nur singt dies nicht ein aus den Gebeinen
des Erschlagenen verfertigtes Musikinstrument, sondern der
Geist des getöteten Knaben macht in Vogelgestalt die
Untat überall kund, vollzieht selber an der argen
Stiefmutter das Rachewerk und kehrt dann wieder ins Leben
zurück. - Der Machandelbaum, unter dem die rechte Mutter
begraben wird und auf dem der Vogel zum Schluss seine
menschliche Gestalt wieder erhält, ist der im
Hochdeutschen Wacholder (Queckholder, Reckholder, ags.
cvicbeám, lat. juniperus) genannte Baum.
Bei der Wiederbelebung des getöteten Knaben sind zwei
Stufen zu unterscheiden, die sonst einzeln vorkommen: die
gesammelten Gebeine werden in einen Vogel, und der Vogel
in das Kind verwandelt. Die Umgestaltung des von der
Mutter geschlachteten und gekochten Kindes in einen Vogel
kennt schon die griechische Sage von Itys und Prokne, wie
ja die Erscheinung der Seele in Vogelgestalt eine weit
verbreitete Vorstellung ist.
Das Sammeln der Knochen kommt in den Mythen von Osiris
und Orpheus vor; und vielfach folgt darauf eine wunderbare
Wiederbelebung, so in der Sage von dem geschlachteten und
verzehrten Knaben Pelops, den Zeus belebt, indem er
zugleich das von Demeter verzehrte Schulterblatt durch
Elfenbein ersetzt, ferner im Märchen vom Bruder Lustig
(KHM 81) und vom Fitchersvogel (KHM 46), in der Sage von
dem ertrunkenen Kind, dessen Gebeine die Mutter bis auf
ein Fingerknöchelchen in die Kirche trägt, in der
finnischen Kalevala, wo Lemminkäinens Mutter die Reste
ihres Sohnes aus dem Wasser sammelt.
Variantenverzeichnis
>> Märchen-Suchdienst
Vom Knäblein, vom Mägdlein, und
der bösen Stiefmutter. Bechstein/Deutschland 64a
Von dem Machandelbaum. Grimm/KHM 47
Der Wacholderbaum. Bechstein/Deutschland 66
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