Crescentia 712
Märchentyp AT: 712; cf. 881
Grimm KHM:
Eine junge Frau wird von ihrem
Schwager der Untreue beschuldigt. Man beraubt sie ihrer
Kinder und streicht Blut um ihren Mund, weshalb sie
verstossen, eingegraben oder anderen Misshandlungen
ausgesetzt wird. Sie erhält die wunderbare Gabe,
Krankheiten zu heilen, und geniesst hohes Ansehen. Ihr
Mann und alle anderen Personen sind gezwungen, sie
aufzusuchen, um Heilung zu finden, worauf sie wieder ihre
rechtmässige Position zurückgewinnt.
Anmerkung
In diesem Märchen, das sich in vielem dem griechischen
Roman Apollonius von Tyrus nähert - es hat u.a. den
gleichen Schluss - können wir mit A. Wallensköld einen
orientalischen und einen abendländischen Zweig
unterscheiden. Der orientalische Zweig umfasst ein Dutzend
Varianten, u.a. in dem türkischen Tutinameh, in
Tausendundeiner Nacht und im Maase-Buch (aus Deutschland
im 16. Jahrhundert) sowie schliesslich in Darstellungen
aus dem südlichen Griechenland und Südsibirien. In
Tausendundeiner Nacht heisst die Heldin Repsima. Der
abendländische Zweig, für welchen es oft typisch ist,
dass der Schwager auf einige Zeit gefesselt wird, hat
Varianten in den Gesta Romanorum, im Roman Florence de
Rome (aus dem 13. Jahrhundert) mit dessen romanischen
Ablegern, in den Mirakeln der heiligen Jungfrau Maria,
worin die Jungfrau Maria verherrlicht wird, sowie
schliesslich in den Crescentia- und Hildegardislegenden.
In den beiden ersten Darstellungen dieses Zweiges sind es
vier Missetäter, die bei der Heldin Heilung suchen, in
den drei letzteren höchstens zwei. In der
Crescentia-Legende, etwa um 1150 (in der Kaiserchronik)
treffen wir also zwei Missetäter, aber nur einen in der
Legende von Hildegardis, d.h. der Gemahlin Karls des
Grossen, deren Legende in Deutschland im 15. Jahrhundert
ausgearbeitet wurde. Crescentia wurde als Kaiserin von Rom
und Tochter des Octavian angesehen. Ihre Legende ist in
einer Unzahl von Volksbüchern wiedergegeben worden. Unter
den Ablegern des westlichen Zweiges darf auch die
Genoveva-Legende erwähnt werden. Im Übrigen wird auf 707
verwiesen, das älter als dieses Märchen zu sein scheint
und gemeinsame Motive mit ihm hat.
Literatur
Derungs, K.: Amalia oder Der Vogel der Wahrheit.
Mythen und Märchen aus Rätien im Kulturvergleich. Chur
1994.
Derungs, K.: Struktur des Zaubermärchens II. Hildesheim,
Zürich, New York 1994.
Früh, S./Derungs, K.: Schwarze Madonna im
Märchen. Mythen und Märchen von der Schwarzen Frau. Bern
1998.
Horalek, K.: Zur slawischen Überlieferung des Typus AT
707. In: Harkort, W. u.a.: Volksüberlieferungen.
Göttingen 1968, p. 107-114.
Propp, V.J.: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens.
München 1987.
Märchen
>> Das grosse Buch der
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Hinweise
Variantenverzeichnis
>> Märchen-Suchdienst
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