Die
Zwillingsschwestern 711
Märchentyp AT: 711; cf. 433B, 708
Grimm KHM:
Eine kinderlose Königin bekommt
von einer weisen Alten zwei Blumen, eine schöne und eine
hässliche. Sie soll die schöne aufessen, isst aber beide
auf. Darauf wird sie schwanger und bekommt eine schöne
und eine hässliche Tochter. Die hässliche pflegt auf
einem Bock zu reiten und eine rote Haube zu tragen. Ein
fremder König will die schöne Tochter heiraten, darf es
aber nur unter der Bedingung, dass der Sohn die hässliche
zur Frau nimmt, die sich jedoch bei der Hochzeit in eine
der schönsten Prinzessinnen verwandelt.
Anmerkung
Das stehende Motiv der übernatürlichen Empfängnis
eine Frau ist durch eine totemistisch-mutterrechtliche
Mythologie zu erklären. Nach dieser lebt eine verstorbene
Person in einem Jenseitsparadies oder in der Allnatur
weiter. Als Seelensitz dient den Ahninnen und Ahnen eine
Pflanze (Blume, Baum), ein Stein, eine Quelle oder
verschiedene Tiere, die in einem verwandtschaftlichen
Verhältnis zur Sippe stehen. Kommt nun eine Frau mit
einem Seelensitz bzw. mit der Ahnenseele in Berührung,
indem sie auf dem Stein rutscht, im seelenvollen Wasser
badet oder eine Pflanze (Blume, Rapunzel) isst, so bewirkt
dies die spirituelle Konzeption und Schwangerschaft der
Frau. Dadurch schliesst sich der Kreis von Tod und
Wiedergeburt, der nur durch die Frauen der Sippe
bewerkstelligt werden kann. Diese werden in matriarchalen
Gesellschaften geschätzt, weil sie es sind, die eine
Wiederkehr der Ahnen garantieren. Aus diesem denken heraus
resultiert u.a. die Matrilinearität (Erbfolge in
weiblicher Linie) bis zu einer wohlorganisierten,
mutterrechtlich-matriarchalen Gesellschaft. Eine weitere,
archaische Vorstellung ist, dass eine alte Frau, die
mythische Weise Alte, die Göttin als Greisin bzw. die
Grosse Ahnfrau den Frauen die Kinder/Ahnen zur
Wiedergeburt schenkt. Da die schöne und die
"hässliche" Tochter nur eine Doppelgestalt
sind, besteht kein moralischer Anstrich noch eine
pädagogische oder psychologische Verwendungsmöglichkeit.
Verwiesen sei in unserem Märchen auch auf eine
Frauentriade, die vielfach auf eine mythologische
Göttin-Triade zurückgeht. Es erscheint nämlich die
Gestalt der Mutter (Königin), der Greisin (alte Frau) und
des Mädchens (schöne/hässliche Tochter), letztere in
einer zweifachen Gestalt.
Literatur
Brewster, P.G.: The Two Sisters. Helsinki 1953.
Derungs, K. (Hg.): Keltische Frauen und Göttinnen.
Matriarchale Spuren bei Kelten, Pikten und Schotten. Bern
1995.
Derungs, K.: Struktur des Zaubermärchens II.
Transformation und narrative Formen. Hildesheim, Zürich,
New York 1994.
Früh, S. (Hg.): Der Kult der drei heiligen Frauen.
Märchen, Sagen und Brauch. Bern 1998.
Hellbusch, S. u.a.: Tier und Totem. Naturverbundenheit in
archaischen Kulturen. Bern 1998.
Propp, V.J.: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens.
München 1987.
Märchen
>> Das grosse Buch der
Zaubermärchen
Hinweise
Variantenverzeichnis
>> Märchen-Suchdienst
Das Mädchen und die Feldschlange. Meier/Spanien
45
Zottelhaube. Asbjörnsen/Norwegen 1,54
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