Der Glasberg
530
Märchentyp AT: 530; cf. 300, 329,
502, 550
Grimm KHM:
Die Früchte eines Feldes werden
jede Nacht gestohlen. Darauf werden drei Brüder
ausgeschickt, die seltsame Wiese zu bewachen. Dies gelingt
nur dem Jüngsten, der während seiner Wache von
dämonischen Elbwesen Zauberpferde aus Kupfer, Silber und
Gold erhält, dazu ebensolche Gewänder. So ausgerüstet,
zieht er in die Ferne. Sein Weg führt ihn zu einem
Königreich, wo nur derjenige die Hand der Prinzessin
gewinnt, der diese auf einem Glasberg (einem hohen Turm,
Mast etc.) erreichen kann und ihren Ring (Goldapfel) zu
empfangen oder sie zu küssen vermag. Dies gelingt keinem
der freienden Reiter im Wettbewerb, sondern nur dem
beschenkten Jungen mit seinen Zauberpferden. Auf dem
Glasberg schenkt ihm die Prinzessin als Gabe ihren Ring
bzw. ihren Goldapfel. Der Held entweicht unerkannt, worauf
die Prinzessin ihn im ganzen Land sucht. Dieser wird
schliesslich von ihr durch die Gaben oder Bezeichnungen
(Ring, Apfel, Fersenwunde etc.) wieder erkannt, oder er
zeigt seine Wunderpferde vor. Die Prinzessin heiratet ihn,
so dass er das Königreich gewinnt.
Anmerkung
Die Erzählung, dass es dem Helden gelingt, den
gläsernen Berg hinaufzureiten und durch diese
Mannhaftigkeitsprobe die Prinzessin zu gewinnen, ist in
erster Linie ein Motiv, in zweiter Linie ein Märchen. Als
Motiv findet sie sich oft mit 502 (Der wilde Mann), 314
(Der Goldhaarige), 400 (Schwanenjungfraumärchen) und
vielen anderen verwoben. Zuerst wollen wir das Motiv
studieren, später das Märchen, aber die Bemerkung
vorausschicken, dass das Gewinnen eines in einem
wahrscheinlich hohen Turm eingeschlossenen Mädchens von
einem ägyptischen Papyrus her schon aus den Jahren 1600 -
1000 v.u.Z. bekannt ist.
Der einzige wirkliche "Glasberg", der als
bestehend gedacht werden kann, ist ein mit Lava, die
mitunter aus richtigem Glas besteht, verkrusteter
vulkanischer Berg. Die menschliche Phantasie dürfte sich
jedoch bei dem Glasberg des Märchens nicht mit
irgendwelchen Lavaströmen, sondern mit künstlichem,
durchscheinendem Glas beschäftigt haben. Wir wollen nun
versuchen, uns einen Begriff davon zu machen, wie alt eine
solche Vorstellung sein und wie sie möglicherweise
entstanden sein kann. Glas gibt es schon seit langem. Man
kennt nicht einmal den Zeitpunkt seines ersten Aufkommens.
Die Kunst, Glas herzustellen, folgt nicht einer klar
aufsteigenden Kurve, sondern eher einer Berg- und Talbahn.
Schon um 1800 v.u.Z. war das Glas in Phönizien nicht nur
bekannt, sondern man kannte auch die Kunst, Glas zu
blasen, d.h. Glasgefässe zu verfertigen, und Glas zu
schleifen. In Ägypten machte man einige Jahrhunderte
später Statuen aus gegossenem Glas. Zu diesem Zeitpunkt
war also der Gedanke an einen gläsernen Berg an und für
sich nicht völlig unsinnig.
In Europa, nördlich der Alpen, war man jedoch in der
ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends v.u.Z. nicht
weiter als bis zu Glasperlen gekommen, und erst zur Zeit
um Christi Geburt hat die Glasindustrie in Rom festen Fuss
gefasst. Man verwendete dort Glas für Fenster, ebenso in
Pompeji. Nach dem Fall des Weströmischen Reiches
wechselte die Glasindustrie nach Byzanz hinüber, und von
dort verbreitete sich die Glasmacherei neuerdings über
den Orient. Nördlich der Alpen waren Glasfenster um 1500
jedoch noch nicht allgemein gebräuchlich.
Selbstverständlich ist die Ähnlichkeit zwischen Glas
und Eis in die Augen fallend, und zwar überall dort, wo
man Gelegenheit hat, ihre Durchsichtigkeit und harte,
glatte Oberfläche zu vergleichen. Gletscher waren in den
Alpenländern ebenso bekannt wie in Afghanistan und in
Nordindien mit dem Hindukusch und dem Himalaya. Die Inder
stellen sich vor, dass ihre Peris (d.h. eine Art Feen, die
unseren Elfen gleichen) in einem "Glasschloss"
(schell-batte-kote) auf dem Gipfel des Nanga Parbat im
nordwestlichen Kaschmir, dem ersten Heim der Inder auf der
indischen Halbinsel, wohnen. Der Nanga Parbat oder
"der kahle Berg" erhebt sich 2000 Meter über
das umgebende Gebirgsmassiv und ist von Gletschern
umringt, also ein wahrhaftiger "Glasberg", wenn
man Glas und Eis gleichzustellen wagt. In voller
Übereinstimmung damit beschreibt das orientalische
Märchen, wie sich auf einem solchen Berggipfel ein
Häuschen, ein Wäldchen und ein kleiner See befinden, und
oftmals ist das Häuschen aus Glas. Ein gläsernes Haus
wird übrigens schon in den indischen Jatakas oder
Erzählungen von Buddhas Wiedergeburten erwähnt. Viel
älter sind jedoch die Ruinen der Glaswälle, die bis in
den 3. und 4. Stock hinauf reichen, die im alten
Mardukstempel Babylons gefunden wurden.
Aber trotz all dieser Romantik und des Reichtums an
Bergen und Tempeln scheint die Vorstellung vom Glasberg in
Europa volkstümlicher gewesen zu sein als im Orient. Wir
treffen besonders im nicht-slawischen Europa sowohl
Häuser als auch Burgen und Schlösser aus Glas. In diesem
Zusammenhang mag darauf hingewiesen werden, dass die
abendländische Dichtung oft ganz realistisch von mit Glas
verkleideten Mauern ("mit Glasse überzogen",
"verglacé", "vitrified") spricht, die
an den Mardukstempel erinnern, und dass es solche Mauern
jetzt noch in Schottland gibt. Es hat den Anschein, als ob
man die Wälle in reiner Befestigungsabsicht mit Glas
verkleidet hätte.
Den Gipfel des Berges erreicht man im Märchen entweder
durch Hinaufgehen oder -reiten. Im morgenländischen
Märchen ist das erstere gebräuchlicher, und der Berg
verwandelt sich oft in einen Zauberberg. Man hört dann
fürchterliche Stimmen, die die Wanderung gefährlich
machen. Leicht kann man versteinert werden (siehe 707,
vgl. 551). Es geschieht auch, dass "starke
Weiber" in einem Glashaus irgendwo auf dem Gipfel
wohnen und nach Opfern ausspähen. Diese Vorstellungen
gehören sicherlich bereits der hellenistisch-römischen
Zeit an. Im europäischen Märchen hingegen erfährt diese
Wanderung zu Fuss in gewissem Masse eine Veränderung. Der
Held greift oft zu Zaubermitteln, um festen Stand zu
bekommen. Er erhält als Hilfe einen kleinen Knochen oder
eine Leiter aus Knochen, oft der zauberkundigen Heldin
entwendet - ein Motiv, dem wir in Westeuropa, in Varianten
von 313 (Die magische Flucht) auch dann begegnen, wenn es
um das Erklettern eines glatten Baumes geht. Es wird aber
auch erzählt, dass die Hände des Kletterers mit Eisen
beschlagen wurden wie die Hufe eines Pferdes. Neben den
Vorstellungen dieses Märchens von einem Glasberg gibt es
auch andere. Der Glasberg wird dann gleichbedeutend mit
dem Himmelsgewölbe, dem Paradies oder dem Totenreich. Das
Erklettern des Glasberges wird dabei, besonders im
nordöstlichen Mitteleuropa, zu einer Strafe. Man gibt
daher den Toten eine Tierklaue zur Hilfe.
Zu einem solchen Ritt ist ein Zauberpferd oder
jedenfalls ein scharf beschlagenes, mit Eisstollen
versehenes Pferd erfoderlich. Ohne Stollen kann man nicht
einmal einen gewöhnlichen vereisten Hang hinaufreiten.
Die Römer und Griechen beschuhten ihre Pferde noch
relativ spät, indem sie ihnen Schuhe aus Bast oder Leder
umbanden. Erst später kamen Eisenschuhe in Gebrauch.
Wirklichen Hufbeschlag dürfte es jedoch vor 300 n.u.Z.
kaum gegeben haben, und Eisstollen sind vom Norden
frühestens aus dem 8. bis 9. Jahrhundert bekannt.
Besonders im südöstlichen Europa sehen wir, wie in
Überlieferungen, die mit der Siegfriedsage verwandt sind,
ein Sprung oder Ritt über ein Grab oder ein Feuer an die
Stelle des Rittes auf einen gläsernen Berg tritt.
Manchmal kann man sich fragen, ob nicht trotz alledem die
Vorstellung vom Gralsberg, Mons silvaticus, hinter der
Vorstellung des Glasberges (vgl. 551) spukt.
Nun gibt es ein Märchen, das u.a. nach Inger Boberg
als das wirkliche Märchen vom Glasberg anzusehen ist. Sie
hat ihm auch besondere Untersuchungen zuteil werden
lassen. Es beginnt damit, dass drei Brüder die Weide des
Vaters (das Grab oder dgl.) bewachen. Nur dem Dritten
gelingt es, und als Belohnung erhält er nacheinander drei
immer schönere Pferde und Rüstungen. Als die Prinzessin
dem versprochen wird, der einen Glasberg hinaufreiten
kann, findet sich der Jüngling dreimal in drei
verschiedenen Rüstungen ein, und zuletzt reitet er auf
seinem dritten Pferd zum Gipfel des Berges hinauf. Er wird
von der Prinzessin mit drei goldenen Äpfeln belohnt und
erhält ihre Hand. Kennzeichnend für das Märchen sind
die drei verschiedenen Rüstungen des Helden bei seinem
dreimaligen Auftreten.
Dieses Motiv ist besonders im 12. Jahrhundert in der
französischen Heldendichtung belegt und beliebt und ist
sicherlich auch durch eine Tatsache begründet. Das
Goldapfelmotiv, das, wie wir sahen, dem Märchen
angehört, wurde bereits im Zusammenhang mit dem
nahestehenden Märchen Der Goldhaarige (314) behandelt,
und das dreimalige Bewachen des Weideplatzes des Vaters
fällt in gewisser Hinsicht mit dem Einleitungsmotiv zu
dem nordeuropäischen Zweig des Schwanenjungfraumärchens
(400, vgl. auch 550) zusammen. Die Bestandteile dieses
Märchens scheinen also, im nordwestlichen Deutschland und
vielleicht auch in Dänemark zumindestens zu Beginn des
13. Jahrhunderts vorhanden gewesen zu sein, und wir finden
die eigentliche Vorstellung vom Glasberg sowohl in der
Wolfdietrichsage wie im jüngeren Titurel (beide aus dem
13. Jahrhundert). Die Siegfriedsage erlebte in diesen
Gebieten im 15. und 16. Jahrhundert eine Renaissance, und
etwas später sehen wir, dass der Glasberg unter
Umständen, die auf Entlehnung aus dem hier behandelten
Märchen hindeuten, u.a. von Vedel (gest. 1616) in seine
Aufzeichnung des Volksliedes Sivard og Brynild eingeführt
wurde. Er lässt Sivard, d.h Sigurd, Brynild gerade durch
einen Ritt auf den Glasberg gewinnen. Doch wird der
Glasberg im Lied bereits im Jahr 1560 erwähnt. Von
Nordwestdeutschland und Dänemark aus hat sich das
Märchen vom Glasberg teils nach dem übrigen
Skandinavien, teils nach Nordostdeutschland, Polen, den
baltischen Ländern, Böhmen, Finnland und Russland, wo
der Glasberg oft durch ein hohes Haus ersetzt wurde,
verbreitet. Von dort haben wir Ausläufer sowohl nach
Syrien wie nach Indien.
Wenn wir vom Glasbergmotiv absehen und an dessen Stelle
ein beliebiges Kampfmotiv mit einem wunderbaren Pferd als
Helfer einsetzen, finden wir das Märchen in der
mittelalterlichen französischen und keltischen Dichtung
mit vielleicht einem alten, arabischen Märchen aus
Spanien als Vorbild, in dem Prinz Ahmed in einer Grotte
Pferd, Rüstung und Lanze findet. Damit gewinnt er das
Turnier und die Hand der Prinzessin, das Zauberpferd aber
kehrt, unbezwingbar, mit seinem Reiter bei Sonnenuntergang
zur Grotte zurück (siehe 502).
Literatur
Derungs, K.: Struktur des Zaubermärchens II.
Hildesheim, Zürich, New York 1994.
Derungs, K. (Hg.): Keltische Frauen und Göttinnen.
Matriarchale Spuren bei Kelten, Pikten und Schotten. Bern
1995.
Huth, O.: Der Glasberg. In: Veröffentlichungen der
Europ. Märchengesellschaft 7, 1984. p. 139-156.
Krohn, K.: Übersicht über einige Resultate der
Märchenforschung. Helsinki 1931.
Markale, J.: Die keltische Frau. München 1984.
Ward, D.: Glasberg. In: EM 5, 1265-1270.
Wisser, W.: Das Märchen vom Ritt auf den Glasberg in
Holstein. In: Zeitschrift für Volkskunde 25, 1915, p.
305-313.
Märchen
>> Das grosse Buch der
Zaubermärchen
Hinweise
Variantenverzeichnis
>> Märchen-Suchdienst
Hirsedieb. Bechstein/Deutschland 13
Der Wunderbaum. Haltrich/Deutschland 16
Die Königstochter auf dem Glasberg.
Hyltén-Cavallius/Schweden 1,17
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