Der Hirte 515
Märchentyp AT: 515
Grimm KHM:
Ein in einer treibenden Holzkiste
gefundener Ziehsohn geht mit seinem Vieh auf die Weide. Er
findet zwei winzige Glasschuhe, die er jedoch am Abend
einer kleinen jungen Frau wiedergeben muss. Er begegnet
einem Riesen, der ihm bei drei Prüfungen hilft, die er
durchstehen muss, um drei verschiedene Wünsche erfüllt
zu bekommen. Er muss in einem engen Pass über einen
grimmigen Löwen springen, dann einen Fluss mit brausendem
Wasser überschreiten, worin Schlangen und Drachen sind,
und zuletzt über eine flammende Feuerlohe springen. Nach
diesen Prüfungen gelangen der Held und der Riese zu einem
verzauberten Schloss. Da sagt der Riese, er solle das
Glasschwert nehmen und ihn erschlagen. Als er zuschlägt,
ist die Verzauberung gebrochen, und der Riese wird zum
König des Schlosses, der er früher gewesen war. Dann
bekommt der Bursche, der eigentlich ein geraubter Prinz
ist, drei Wünsche erfüllt. Er darf im Schloss wohnen,
erhält die Tochter des Königs und das Königreich nach
dessen Tod.
Anmerkung
Das Auffinden von Kindern in einer auf dem Wasser
treibenden Kiste oder in einem Korb ist ein häufiges
Motiv in Mythen und Märchen. Teilweise erkennen wir darin
die mythische oder übernatürliche Herkunft der Heldin
oder des Helden, wie es z.B. AT 707 Der Vogel der Wahrheit
am Anfang oder im Verlauf der Erzählung berichten. Immer
sind es jedoch Königskinder, die vielfach ausgesetzt, von
Schäfern, Hirten oder einer Frau (Prinzessin) gefunden
werden, wo der junge Held aufwächst. Erst dann bestreitet
er seine Abenteuer (Proben) und wird selbst König. Die
Glasschuhe, das Glasschwert und die Feuerlohe zeigen uns
an, dass wir es mit Gegenständen der Jenseitswelt zu tun
haben, worauf auch der verzauberte Riese/König hindeutet.
Die Rückverwandlung durch Enthaupten ist ebenfalls im
Märchen reich belegt. Andere Handlungen mit gleicher
Wirkung sind z.B. das Bestreichen mit Blut, die Berührung
mit der Lebensrute, das Ausgiessen von Lebenswasser oder
das Verbrennen der Tierhaut. Der Prinz und der König sind
eigentlich nur eine Doppelgestalt, die sich in ihrer
Existenz abwechseln und daher auch mit dem Königtum, das
sie durch die "Prinzessin" erhalten. Diese ist
Garantin des Thrones, und eine Heirat mit ihr macht den
Helden zum König, was auf mutterrechtliche
Gesellschaftsformen hinweist. Eine flammende Feuerlohe
wird auch in der Brünhild- und Siegfriedsage erwähnt (AT
519 Brünhilde), jedoch vor allem in der epischen
Ausformung.
Literatur
Derungs, K.: Struktur des Zaubermärchens II.
Hildesheim, Zürich, New York 1994.
Derungs, K. (Hg.): Keltische Frauen und Göttinnen.
Matriarchale Spuren bei Kelten, Pikten und Schotten. Bern
1995.
Propp, V.J.: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens.
München 1987.
Schang, T.: Chinas Weise Frauen. Bern 1996, p. 93 f.
Thompson, S.: The Folktale. New York 1951.
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