Rotkäppchen
333
Märchentyp AT: 333; cf. 334
Grimm KHM: Rotkäppchen 26
Ein kleines Mädchen mit einer
schönen, roten Kappe, die es von seiner Grossmutter
bekommen hat, geht diese besuchen. Es begegnet einem Wolf,
der von ihr den Weg erfährt und vorauseilt, die
Grossmutter verschlingt und in ihrem Bett Rotkäppchens
Kommen erwartet. Als Rotkäppchen kommt, fragt es nach dem
sonderbaren Aussehen der "Grossmutter" (grosse
Ohren, Augen, Hände, Mund), schliesslich verschlingt es
der Wolf.
Anmerkung
Dieses in Frankreich in mehreren Versionen verbreitete
Märchen wurde von Perrault (gest. 1703) meisterhaft
bearbeitet. Es wurde von den Brüdern Grimm 1812 in zwei
Varianten aufgenommen, die beide mit dem Tod des Wolfs
enden, aber in der einen wird der Bauch des Wolfs
aufgeschnitten, so dass Rotkäppchen und seine Grossmutter
genau wie in 123 (Der Wolf und die Geisslein) heil
herauskommen. Dieser Zug kommt jedoch schon in der antiken
Literatur vor, indem Kinder aus dem Bauch des
menschenfressenden Lamia gerettet werden.
Das Märchen dürfte vorwiegend auf literarischem Weg,
d.h. durch Kinderbücher, verbreitet worden sein. Man hat
es im Volksmund, obwohl spärlich, vor allem in den
Heimatländern Perraults und der Brüder Grimm -
Frankreich und Deutschland - gefunden, aber auch in
Belgien, Holland, Dänemark, Italien, Spanien, Portugal,
Ungarn und Rumänien. Ausserhalb Europas hat es von
Portugal aus Brasilien erreicht, und es wird in Afrika und
China mit Vorliebe zusammen mit Fragmenten aus Der Wolf
und die Geisslein (123) und in China mit Gegenstände auf
Wanderschaft (210) erzählt. Es scheint sogar im 17.
Jahrhundert dort erzählt worden zu sein, was zeigt, dass
es wesentlich älter als Perrault ist. Hingegen scheinen
aus dem
Mittelalter herbeigeholte europäische
Parallelen zu hinken. Sowohl Bolte und Polivka als auch
Wesselski ziehen Fecunda ratis von Egbert von Lüttich
(aus dem Jahr 1023) heran. Die Handlung des Märchens
findet jedoch dort keine Parallelen. Wir begegnen nur
einem in eine rote Tunika gekleideten fünfjährigen
Mädchen, das mit einigen Wölfen spielt.
Literatur
Derungs, K.: Der psychologische Mythos. Frauen,
Märchen & Sexismus. Bern 1996.
Henssen, G.: Deutsche Schreckmärchen und ihre
europäischen Anverwandten. In: Zeitschrift für
Volkskunde 50, 1953, p. 84-97.
Pancritius, M.: Aus mutterrechtlicher Zeit. In: Anthropos
27, 1932, p. 743-778.
Ritz, H.: Die Geschichte vom Rotkäppchen. Göttingen
1993.
Rumpf, M.: Caterinella. In: Fabula 1, 1958, p. 76-84.
Rumpf, M.: Rotkäppchen. Frankfurt 1989.
Zipes. J.: Rotkäppchens Lust und Leid. Köln 1982.
Märchen
>> The
false grandmother
>> Rotkäppchen
(Perrault)
Hinweise
Der Schluss, wo dem Untier der Bauch aufgeschnitten
wird, stimmt zum Wolf und den sieben Geisslein (KHM 5),
während in der andern Fassung der Wolf das Kind gar nicht
frisst, sondern vom Dach in den Trog hinabstürzt und
ertrinkt.
Aus Nassau "Das Rotkäppchen"; aus
Oberfranken "Rautkáppl"; aus Südtirol
"Alte im Wald" (der Vater schlägt dem Wolf den
Kopf ab); niederländisch "Van Roodkappeken"
(ohne Wiederbelebung); die französische Fassung Perraults
(1697 Nr. 2 "Le petit Chaperon rouge"), auf
welcher Tiecks anmutige Bearbeitung von 1800 beruht, endet
tragisch mit dem Verschlingen des unschuldigen Mädchens
durch den Unhold. "Le rat et la râtesse"
(angehängt an das Kettenmärchen vom Tod der Ratte) und
bei Bladé, "L’enfant et le loup" (ein Knabe
will seine Tante besuchen). Ein neuer, bei Perrault
fehlender Zug ist, dass der Wolf das Blut der Grossmutter
in ein Gefäss tut und das durstige Kind davon trinken
heisst, worauf eine Geisterstimme klagt: "Du isst von
meiner Brust, Kind, du trinkst mein Blut"; auch die
Vögel oder die Katze warnen. In zwei Versionen aus
Nièvre und Touraine entrinnt das Mädchen glücklich,
indem es den Wolf bittet, es auf einen Augenblick
hinauszulassen, und den Faden, an dem er es hält, an
einem Baum bindet; in einer wallonischen entschlüpft es
aus dem Sack, in dem es der Wolf verwahrt. Bei
"Chaperon-d’or" steckt die Grossmutter den
Wolf in den Sack und wirft ihn in den Brunnen, ähnlich
Grimms zweiter Fassung. An Stelle des Wolfes, der sich im
gasconischen Märchen als Geistlicher verkleidet,
erscheint ein greulicher Mann, der auf einer Sau dem
Mädchen nachsetzt und durch das als Brücke gespannte
Leinen in den Bach stürzt.
Italienisch "El cappellin rosso" (Orco heisst
das Mädchen das Fleisch der Grossmutter essen), "L’orca"
(das Mädchen bindet den Esel an den Strick und
entflieht); rumänisch "Der fremde Grossvater".
Schon um 1023 berichtet Egbert von Lüttich in seiner
lateinischen "Fecunda ratis" (hrsg. von E. Voigt
1889 S. 232 "De puella a lupellis servata") als
ein von den Bauern gehörtes Abenteuer, wie man ein
fünfjähriges Mägdlein in einer Wolfshöhle fand, wo es
mit den jungen Wölfen spielte und sie mahnte:
"Zerreisst meinen roten Rock nicht, ihr Mäuse! Den
hat mir mein Pate geschenkt".
Traurig endet eine schwedische Ballade. Ein Mädchen
geht abends zum Tanze durch einen finstern Wald; da
begegnet ihm der graue Wolf. "Ach lieber Wolf",
spricht es, "beiss mich nicht! Ich geb dir mein
seidengenähtes Hemd". "Dein seidengenähtes
Hemd verlang ich nicht, dein junges Leben und Blut will
ich haben." So bietet sie ihm ihre Silberschuhe,
hernach die Goldkrone, aber vergebens. In der Not klettert
das Mädchen auf eine hohe Eiche; der Wolf untergräbt die
Wurzel. Die Jungfrau in Todesangst tut einen schneidenden
Schrei. Ihr Geliebter hörts, sattelt und reitet schnell
wie ein Vogel; wie er zur Stelle kommt, (liegt die Eiche
umgestürzt und) ist nur ein blutiger Arm des Mädchens
übrig. In den dänischen Fassungen bei Grundtvig
erscheint meist eine schwangere Frau an Stelle des
Mädchens.
Zum Dialog über die verwunderlich grossen Ohren,
Augen, Hände und den Mund der vermeinten Grossmutter
lässt sich ein kärtnisches Mädchen "Die Babu"
vergleichen, wo die Kinder eine hexenhafte Frau ebenso
fragen.
Variantenverzeichnis
>> Märchen-Suchdienst
Das kleine Rotkäppchen.
Perrault/Frankreich 2
Rotkäppchen. Grimm/KHM 26
Das Rothütchen. Schneller/Tirol 6
Der fremde Grossvater. Schullerus/Rumänien 111
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