Die treulose
  Schwester 315
  Märchentyp AT: 315; cf. 300, 590
  Grimm KHM: Die zwei Brüder 60; Die Goldkinder 85
  
  
  Schwester und Bruder gehen von
  Zuhause fort oder werden vertrieben. Der Bruder kämpft
  mit verschiedenen Räubern, Riesen oder Drachen;
  schliesslich gelangen beide in ein Schloss. Der ehemalige
  Schlosseigentümer (Riese, Drache etc.) freit um die
  Schwester und schmiedet mit ihr Pläne, den Bruder zu
  töten. Die Schwester (manchmal auch Mutter) stellt sich
  krank und lässt den Bruder die Leber oder die Milch
  gefährlicher Tiere holen. Diese verschont er jedoch,
  wodurch er die Hilfe der dankbaren Tiere erlangt. Darauf
  wird der Held von der Schwester und ihrem Gesellen mit
  einem Seidenfaden gefesselt, seiner magischen Kräfte und
  Dinge beraubt oder in eine Zaubermühle mit eisernen
  Türen geschickt. Der Bruder bzw. der Sohn besteht jedoch
  alle Abenteuer dank seiner hilfreichen Tiere, die er
  herbeipfeift und die den Drachen oder Riesen in Stücke
  reissen. (siehe 300 und 590) Die verräterische Schwester
  wird eingesperrt oder muss ein Fass mit Tränen füllen.
  
  
  Anmerkung
  Der Märchentyp AT 315 und das Märchen AT 590 (Der
  Prinz und die Armbänder) gehören eigentlich zusammen und
  sind nur eine Erzählung, jedoch in Varianten. Begegnen
  wir hier einem Schwester-Bruder-Märchen, so berichtet AT
  590 von einer Mutter-Sohn-Geschichte. Dabei sind die
  handelnden Hauptgestalten austauschbar: hier Schwester
  dort Mutter, hier Bruder dort Sohn, wobei die Figur des
  Unholds in beiden Märchentypen konstant bleibt - Riese,
  Drache, Räuber etc. Oft helfen dem Sohn/Bruder nicht nur
  dankbare Tiere, sondern besonders in slawischen Märchen
  und in Erzählungen der Zigeuner drei Frauengestalten: die
  heilige Freitag, Samstag und Sonntag, die ihn mit dem
  Wasser des Lebens wiedererwecken, nachdem sie ihm
  Ratschläge gegeben und seine Körperteile zusammengesetzt
  haben, was ein verbreitetes schamanistisches Motiv im
  Zaubermärchen ist. Zweifellos sind diese drei heiligen
  Frauen die drei Schicksalsfrauen, die das Leben schenken
  und nehmen und in Griechenland Moiren genannt werden. Bei
  diesen wie auch bei den römischen Parzen oder den
  nordeuropäischen Nornen treffen wir das Wasser des Lebens
  und den Schicksalsfaden bzw. Lebensfaden, den sie jedem
  Menschen bei der Geburt zuteilen. Daher auch die
  Erwähnung des "Seidenfadens", der in der Hand
  der Schicksalsgöttinnen nicht nur ein lebengebendes
  Symbol ist, sondern auch ein lebenabmessendes Zeichen.
  Dass der Sohn/Bruder einen "Tod" erleben muss,
  hängt mit dem mythologischen Hintergrund des Märchens
  zusammen, der jedoch nicht mehr offensichtlich ist. Darum
  kann das Märchen zu Fehldeutungen verleiten, wenn es z.B.
  für pädagogische oder psychologische Deutungen verwendet
  wird. Der Held (Sohn/Bruder) hat eine Jenseitsreise zu
  erleben, während der er eine Wandlung und Wiedergeburt
  erfährt. Diese wird eingeleitet durch die
  "Mutter/Schwester", d.h. eine mythologische
  Frauengestalt mit einem Tiersymbol (Drache). Die
  glückliche Wiederkehr erfolgt dann ebenfalls durch eine
  oder mehrere Göttinnen mit entsprechenden Tieren. Einen
  moralischen Anstrich bekommt das Märchen erst in seiner
  Entwicklungsgeschichte und Entmythologisierung, so dass am
  Schluss eine büssende Mutter (Schwester) und Sünderin
  beschrieben wird, die beinahe schwankhaft ihre Augen in
  ein Fass ausweinen muss.
  
  Literatur
  Derungs, K.: Struktur des Zaubermärchens II.
  Bern, Stuttgart, Wien 1994.
  Derungs, K.: Amalia oder Der Vogel der Wahrheit. Mythen
  und Märchen aus Rätien im Kulturvergleich. Chur 1994.
  Propp, V.J.: Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens.
  München 1987.
  Ranke, K.: Schleswig-holsteinische Volksmärchen. Kiel
  1955.
  Thompson, S.: The Folktale. New York 1951.
  
  Märchen
  >> Das grosse Buch der
  Zaubermärchen
  
  Hinweise
  
   
  
  
  Variantenverzeichnis
  >> Märchen-Suchdienst
  Die beiden Geschwister und die
  ungetreue Schwester. Haltrich/Deutschland 25
  Elena die Wunderschöne. Levin/Russland 1
  Die Tiermilch. Afanasjew/Russland 205
  
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