Das Kind und
die Schlange 285
Märchentyp AT: 285; cf. 672B
Grimm KHM: Märchen von der Unke 105
Ein Kind teilt sein
Essen bzw. seinen Milchtopf mit einer Schlange, die im
selben Haushalt wohnt und täglich erscheint. Eines Tages
entdeckt die Mutter, dass die Schlange wieder zum Esstopf
des Kindes kommt, verkennt die vertraute Situation und
schlägt vor Schrecken und Angst um ihren Sprössling das
Tier tot. Einige Tage später geht jedoch beim Kind eine
eigenartige Veränderung vor sich. Es wird krank und immer
schwächer, bis es wie die Hausschlange ebenfalls den Tod
erleidet.
Anmerkung
Die Sage muss Indien sehr früh erreicht haben, da sie
sich, wenn auch spät aufgenommen, im Pantschatantra
findet. Nach dessen Version erhält ein Brahmane täglich
ein Goldstück von der Schlange, als aber sein erwachsener
Sohn den ganzen Schatz der Schlange auf einmal haben will
und sie zu erschlagen versucht, wird er selbst getötet.
Auch Kurden, Syrer und Südaraber kennen die Sage in
ähnlichen Formen.In Europa ist sie bei Romulus und sogar
im 12. Jahrhundert bei Marie de France, in den Gesta
Romanorum, in Steinhöwels gesammelten Fabeln und bei Hans
Sachs zu finden. In mehreren dieser Versionen, besonders
in den Gesta Romanorum und bei Marie de France, misslingt
der mehr oder minder absichtliche Beil- oder Hammerhieb
gegen die Schlange, die als reich und segenbringend (vgl.
672) angesehen wird, und mit dem Verschwinden der Schlange
stellen sich Armut und Unheil ein, die auch die Kinder des
Schuldigen treffen. Es scheint, als ob diese Versionen in
erster Linie der Literatur West- und Mitteleuropas
angehört hätten.
Die mündliche Überlieferung dürfte aus der gleichen
Quelle wie der griechische Fabeldichter Babrios (2.
Jahrhundert) geschöpft haben. Seine Darstellung, wie
übrigens auch die Version des Pergamenus, stimmt ziemlich
genau mit der folgenden, volkstümlichen Version überein,
die auch tatsächlich von den Südslawen herstammt: Eine
Schlange kommt immer und trinkt Milch aus der Schale eines
Kindes. Das Kind sagt: "Trink nicht so schnell, du
kleiner Schelm!" und versetzt der Schlange einen
Klaps, die darauf, ohne es zu wissen, das Kind totbeisst.
Der Vater lauert dann schmeichelnd auf die Schlange und
führt endlich einen Schlag gegen sie, der nicht tödlich
ist, aber bewirkt, dass die Schlange verschwindet, die
vorgetäuschte Freundschaft des Menschen verschmähend.
Die mündliche Überlieferung hat Varianten in der
Türkei sowie im Südosten, in Mittel- und Nordeuropa,
besonders in Schweden, aber auch in Spanien. In den
nordeuropäischen Varianten gelingt es der Schlange nie,
das Kind zu töten, sondern die Mutter greift ein und
erschlägt sie, mit dem Ergebnis, dass das Kind
dahinsiecht. Es scheint, als ob die Verbreitung der Sage
in gewissem Grade mit dem Brauch zusammenhängt, der
sogenannten Hausschlange Milch zu geben. Dieser Brauch ist
vom Balkan bis nach Nordeuropa belegt, ist aber auch in
Indien und Ägypten bekannt. In das letztgenannte Land
verlegte Pylarchos seine Version. In Schweden ist dieser
Brauch schon von Olaus Magnus aufgezeichnet worden.
Literatur
Baumann, H.: Das Tier als Zweites Ich. In: Tier
und Totem. Naturverbundenheit in archaischen Kulturen.
Hrsg. von Sigrid Hellbusch u.a. Bern 1998.
Bolte, J. u.a.: Zu den Grimm'schen Märchen von der
Unke. In: Korrespondenzblatt für die siebenbürgische
Landeskunde 49, 1926. p. 32-33, 51, 66-67.
Derungs, K.: Archaische Naturmotive in den
Zaubermärchen. In: Die ursprünglichen Märchen der
Brüder Grimm. Bern 1999.
Derungs, K.: Märchen und Totemismus. In: Tier und Totem.
Naturverbundenheit in archaischen Kulturen. Hrsg. von
Sigrid Hellbusch u.a. Bern 1998.
Waugh, B.H.: The child and the snake. In: Norveg 7,
1960. p. 153-182.
Märchen
>> Das grosse Buch der
Zaubermärchen
Hinweise
Märchen von der Unke I.
Die von Milch des Kindes trinkende Hausschlange wird
von der Mutter erschlagen. Unter der Unke wird in Hessen
und Westfalen die Ringelnatter (coluber natrix)
verstanden, die sehr gern Milch trinkt und nicht giftig
ist. Vom Hegen der Schlangen in Schweden erzählt Michael
Heberer, der 1592 nach Linderås kam: "In diesem
Dorff sahen wir das Haus voller Schlangen in Ställen und
andern Gemächern, die sehr gross waren, begerten aber
niemand nichts zu thun... Bis man uns zu essen gabe,
sassen die Kinder auff der Erden und verzehreten ihren
Brey, da krochen zwo Schlangen herzu und assen mit den
Kindern auss einer Schüssel." In Serbien stellt man
mehrfach im Stall oder im Weinberg Milch für die
Schlangen hin.
Offenbaren Zusammenhang damit hat eine Erzählung der
Gesta Romanorum: Ein Ritter wird arm und ist darüber
traurig. Da fängt eine Natter, die lang im Winkel seiner
Kammer gelebt hatte, zu sprechen an und sagt: "Gib
mir alle Tage Milch und setze sie mir selbst her, so will
ich dich reich machen". Der Ritter bringt ihr nun
alle Tage die Milch, und in kurzer Zeit wird er wieder
reich. Des Ritters dumme Frau rät aber zum Tod der
Natter, um der Schätze willen, die wohl in ihrem Lager
sich fänden. Der Ritter nimmt also eine Schüssel Milch
in die eine Hand, einen Hammer in die andere und bringt's
der Natter; die schlüpft aus ihrer Höhle, sich daran zu
erlaben. Wie sie nun trinkt, hebt er den Hammer, trifft
sie aber nicht, sondern schlägt gewaltig in die
Schüssel; worauf sie alsbald forteilt. Von dem Tag an
verliert er seine Kinder und nimmt an Leib und an Gut ab,
wie er vorher daran zugenommen hat. Er bittet sie wieder
um Gnade, aber sie spricht. "Meinst du, ich hätte
den Schlag vergessen, den die Schüssel an meines Hauptes
statt empfangen hat? Zwischen uns ist kein Friede".
Da bleibt der Ritter in Armut sein Lebelang. In der
lateinischen Fabel Ademars ergrimmt der Bauer, der die
Schlange zu füttert pflegt, eines Tages und verwundet sie
mit der Axt; verarmt sucht er sie zu versöhnen, wird aber
von ihr zurückgewiesen. Für den Mordversuch des Bauern
fehlt hier und in den abhängigen Fassungen der Grund.
Dagegen heben andre Berichte die Unschuld der Schlange
hervor: in einer später eingeschalteten Fabel des
Pantschatantra will der Sohn des Brahmanen, dem die
Schlange täglich ein Goldstück in die Milchschale legt,
sich ihrer Reichtümer bemächtigen, schlägt sie auf den
Kopf und wird von ihr getötet.
Märchen von der Unke II.
Ein Mädchen nimmt das abgelegte Goldkrönlein der
Schlange fort, worauf diese stirbt. Zur Vorstellung von
dem Krönlein haben die zwei weissen oder gelben
Mondflecken Anlass gegeben, welche die Ringelnatter
jederseits hinter den Schläfen hat. - Ähnlich aus dem
Elsass: "Der Schlangenkönig vom Heissenstein".
Nach einer anderen Erzählung hatte auf einem Bauernhof
die Tochter des Hauses das Geschäft die Kühe auf dem
Feld zu melken, welche sie deshalb gewöhnlich unter eine
Schattenhütte oder in eine Scheune trieb. Als sie einmal
melkte, kroch eine grosse Schlange unter den Dielen
hervor. Das Mädchen füllte ein Tröglein, in welches sie
oft Milch für die Katzen goss, mit Milch und stellte es
der Schlange hin, welche es völlig austrank. Dies
wiederholte sie täglich, auch im Winter. Als das Mädchen
Hochzeit hielt, und die Gäste fröhlich bei Tisch sassen,
kam die Schlange unerwartet in die Stube und legte vor der
Braut zum Zeichen ihrer Erkenntlichkeit eine kostbare
Krone von Gold und Silber nieder. - Ebenso wird in einer
Schweizer Sage "Die Schlangenkönigin" ein armes
Hirtenmädchen beschenkt, weil es eine verschmachtende
Schlange mit Milch gelabt hat.
In der Niederlausitz glaubt man, es gebe einen
Wasserschlangenkönig, welcher eine Krone auf dem Haupt
trage, die nicht nur an sich köstlich sei, sondern auch
dem Besitzer grosse Reichtümer zuwende. Jemand wagt es
und breitet an einem sonnigen Maitag vor dem Schloss zu
Lübbenau auf einem grünen Platz ein grosses weisses Tuch
aus; denn der Schlangenkönig legte gern seine Krone auf
reinliche weisse Sachen, um dann mit den andern Schlangen
zu spielen. Kaum ist das Tuch gebreitet, so zeigt sich der
König, legt seine Krone darauf und zieht dann mit den
Schlangen fort zum Spiel. Jetzt kommt der Mann (zu Pferd,
um schnell entfliehen zu können) leise herbei, fasst das
Tuch, worauf die Krone sich befindet, an den vier Zipfeln
und jagt fort. Er hört das durchdringende Pfeifen der
Schlangen hinter sich, entkommt aber durch die
Schnelligkeit seines Rosses auf das Pflaster der Stadt.
Bei dem Besitz der köstlichen Krone wird er bald
steinreich. Aber bisweilen erreichen auch die verfolgenden
Schlangen den Räuber der Schlangenkrone und töten ihn.
Märchen von der Unke III.
Gespräch zwischen Unke und Kind. Hier ist mit der Unke
ohne Zweifel die Feuerkröte (Bombinator igneus.) gemeint,
die einen dumpfen Ruf hören lässt, obwohl Vilmar
(Idiotikon von Kurhessen 1868 S. 427) angibt, dass man in
Hessen den Unkenruf irrig den Ringelnattern zuschreibt.
Variantenverzeichnis
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Das Märchen von der Unke.
Grimm/KHM 105
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