Jungfrau Maleen KHM 198 (1857)
Märchentyp AT: 870
Es war einmal ein König, der hatte einen Sohn, der warb um die Tochter eines
mächtigen Königs, die hiess Jungfrau Maleen und war wunderschön. Weil ihr Vater sie
einem andern geben wollte, so ward sie ihm versagt. Da sich aber beide von Herzen liebten,
so wollten sie nicht voneinander lassen, und die Jungfrau Maleen sprach zu ihrem Vater:
"ich kann und will keinen andern zu meinem Gemahl nehmen." Da geriet der Vater
in Zorn und liess einen finstern Turm bauen, in den kein Strahl von Sonne oder Mond fiel.
Als er fertig war, sprach er: "darin sollst du sieben Jahre lang sitzen, dann will
ich kommen und sehen, ob dein trotziger Sinn gebrochen ist." Für die sieben Jahre
ward Speise und Trank in den Turm getragen, dann ward sie und ihre Kammerjungfer
hineingeführt und eingemauert, und also von Himmel und Erde geschieden. Da sassen sie in
der Finsternis, wussten nicht, wann Tag oder Nacht anbrach.
Der Königssohn ging oft um den Turm herum und rief ihren Namen, aber kein Laut drang
von aussen durch die dicken Mauern. Was konnten sie anders tun als jammern und klagen?
Indessen ging die Zeit dahin, und an der Abnahme von Speise und Trank merkten sie, dass
die sieben Jahre ihrem Ende sich näherten. Sie dachten, der Augenblick der Erlösung
wäre gekommen, aber kein Hammerschlag liess sich hören und kein Stein wollte aus der
Mauer fallen: es schien, als ob ihr Vater sie vergessen hätte. Als sie nur noch für
kurze Zeit Nahrung hatten und einen jämmerlichen Tod voraussehen, da sprach die Jungfrau
Maleen: "wir müssen das letzte versuchen und sehen, ob wir die Mauer
durchbrechen." Sie nahm das Brotmesser, grub und bohrte an dem Mörtel eines Steins,
und wenn sie müd war, so löste sie die Kammerjungfrau ab.
Nach langer Arbeit gelang es ihnen, einen Stein herauszunehmen, dann einen zweiten und
dritten, und nach drei Tagen fiel der erste Lichtstrahl in ihre Dunkelheit, und endlich
war die Öffnung so gross, dass sie hinausschauen konnten. Der Himmel war blau, und eine
frische Luft wehte ihnen entgegen, aber wie traurig sah ringsumher alles aus: das Schloss
ihres Vaters lag in Trümmern, die Stadt und die Dörfer waren, soweit man sehen konnte,
verbrannt, die Felder weit und breit verheert: keine Menschenseele liess sich erblicken.
Als die Öffnung in der Mauer so gross war, dass sie hindurchschlüpfen konnten, so sprang
zuerst die Kammerjungfrau herab, und dann folgte die Jungfrau Maleen.
Aber wo sollten sie sich hinwenden? Die Feinde hatten das ganze Reich verwüstet, den
König verjagt und alle Einwohner erschlagen. Sie wanderten fort, um ein anderes Land zu
suchen, aber sie fanden nirgend ein Obdach oder einen Menschen, der ihnen einen Bissen
Brot gab, und ihre Not war so gross, dass sie ihren Hunger an einem Brennesselstrauch
stillen mussten.
Als sie nach langer Wanderung in ein anderes Land kamen, boten sie überall ihre
Dienste an, aber wo sie anklopften, wurden sie abgewiesen, und niemand wollte sich ihrer
erbarmen. Endlich gelangten sie in eine grosse Stadt und gingen nach dem königlichen Hof.
Aber auch da hiess man sie weitergehen, bis endlich der Koch sagte, sie könnten in der
Küche bleiben und als Aschenputtel dienen.
Der Sohn des Königs, in dessen Reich sie sich befanden, war aber gerade der Verlobte
der Jungfrau Maleen gewesen. Der Vater hatte ihm eine andere Braut bestimmt, die ebenso
hässlich von Angesicht als bös von Herzen war. Die Hochzeit war festgesetzt und die
Braut schon angelangt, bei ihrer grossen Hässlichkeit aber liess sie sich vor niemand
sehen und schloss sich in ihre Kammer ein, und die Jungfrau Maleen musste ihr das Essen
aus der Küche bringen. Als der Tag herankam, wo die Braut mit dem Bräutigam in die
Kirche gehen sollte, so schämte sie sich ihrer Hässlichkeit und fürchtete, wenn sie
sich auf der Strasse zeigte, würde sie von den Leuten verspottet und ausgelacht. Da
sprach sie zur Jungfrau Maleen: "dir steht ein grosses Glück bevor, ich habe mir den
Fuss vertreten und kann nicht gut über die Strasse gehen; du sollst meine Brautkleider
anziehen und meine Stelle einnehmen: eine grössere Ehre kann dir nicht zuteil
werden."
Die Jungfrau Maleen aber schlug es aus und sagte: "ich verlange keine Ehre, die
mir nicht gebührt." Es war auch vergeblich, dass sie ihr Gold anbot. Endlich sprach
sie zornig: "wenn du nicht gehorchst, so kostet es dir dein Leben: ich brauche nur
ein Wort zu sagen, so wird dir der Kopf vor die Füsse gelegt." Da musste sie
gehorchen und die prächtigen Kleider der Braut samt ihrem Schmuck anlegen. Als sie in den
königlichen Saal eintrat, erstaunten alle über ihre grosse Schönheit, und der König
sagte zu seinem Sohn das ist die Braut, die ich dir ausgewählt habe, und die du zur
Kirche führen sollst." Der Bräutigam erstaunte und dachte: "sie gleicht meiner
Jungfrau Maleen, und ich würde glauben, sie wäre es selbst, aber die sitzt schon lange
im Turm gefangen oder ist tot." Er nahm sie an der Hand und führte sie zur
Kirche. An dem Wege stand ein Brennesselbusch, da sprach sie
"Brennettelbusch,
Brennettelbusch so klene,
Wat steist du hier allene?
Ik hef de Tyt geweten,
Da hef ik dy ungesaden,
Ungebraden eten."
"Was sprichst du da?" fragte der Königssohn. "Nichts", antwortete
sie, "ich dachte nur an die Jungfrau Maleen." Er verwundene sich, dass sie von
ihr wusste, schwieg aber still. Als sie an den Steg vor dem Kirchhof kamen, sprach
sie: "Karkstegels, brik nich, bün de rechte Brut nich." "Was sprichst du
da?" fragte der Königssohn. "Nichts", antwortete sie, "ich dachte nur
an die Jungfrau Maleen." "Kennst du die Jungfrau Maleen?" "Nein",
antwortete sie, "wie sollte ich sie kennen, ich habe nur von ihr gehört."
Als sie an die Kirchtüre kamen, sprach sie abermals "Karkendär, brik nich, Bün
de rechte Brut nich." "Was sprichst du da?" fragte er. "Ach",
antwortete sie, "ich habe nur an die Jungfrau Maleen gedacht." Da zog er ein
kostbares Geschmeide hervor, legte es ihr an den Hals und hakte die Kettenringe
ineinander. Darauf traten sie in die Kirche, und der Priester legte vor dem Altar ihre
Hände ineinander und vermählte sie. Er führte sie zurück, aber sie sprach auf dem
ganzen Weg kein Wort. Als sie wieder in dem königlichen Schloss angelangt waren, eilte
sie in die Kammer der Braut, legte die prächtigen Kleider und den Schmuck ab, zog ihren
grauen Kittel an und behielt nur das Geschmeide um den Hals, das sie von dem Bräutigam
empfangen hatte.
Als die Nacht herankam und die Braut in das Zimmer des Königssohns sollte geführt
werden, so liess sie den Schleier über ihr Gesicht fallen, damit er den Betrug nicht
merken sollte. Sobald alle Leute fortgegangen waren, sprach er zu ihr: "Was hast du
doch zu dem Brennesselbusch gesagt, der an dem Wege stand?"
"Zu welchem Brennesselbusch?" fragte sie, "ich spreche mit keinem
Brennesselbusch." "Wenn du es nicht getan hast, so bist du die rechte Braut
nicht", sagte er. Da half sie sich und sprach "mut heruet na myne Maegt, De my
myn Gedanken draegt." Sie ging hinaus und fuhr die Jungfrau Maleen an: "Dirne,
was hast du zu dem Brennesselbusch gesagt?" "Ich sagte nichts als:
"Brennettelbusch,
Brennettelbusch so klene,
Wat steist du hier allene?
Ik hef de Tyt geweten,
Da hef ik dy ungesaden,
ungebraden eten."
Die Braut lief in die Kammer zurück und sagte: "Jetzt weiss ich, was ich zu dem
Brennesselbusch gesprochen habe", und wiederholte die Worte, die sie eben gehört
hatte. "Aber was sagtest du zu dem Kirchensteg, als wir darübergingen?" fragte
der Königssohn. "Zu dem Kirchensteg?" antwortete sie, "ich spreche mit
keinem Kirchensteg." "Dann bist du auch die rechte Braut nicht." Sie sagte
wiederum: "Mut heruet na myne Maegt, De my myn Gedanken draegt." Lief hinaus und
fuhr die Jungfrau Maleen an: "Dirne, was hast du zu dem Kirchsteg gesagt?"
"Ich sagte nichts als: Karkstegels, brik nich, Bün de rechte Brut nich."
"Das kostet dich dein Leben", rief die Braut, eilte aber in die Kammer und
sagte: "Jetzt weiss ich, was ich zu dem Kirchensteg gesprochen habe", und
wiederholte die Worte. "Aber was sagtest du zur Kirchentür?"
"Zur Kirchentür?" antwortete sie, "ich spreche mit keiner
Kirchentür." "Dann bist du auch die rechte Braut nicht." Sie ging hinaus,
fuhr die Jungfrau Maleen an "Dirne, was hast du zu der Kirchentür gesagt?"
"Ich sagte nichts als: Karkendär, brick nich, bün de rechte Brut nich."
"Das bricht dir den Hals", rief die Braut und geriet in den grössten Zorn,
eilte aber zurück in die Kammer und sagte: "Jetzt weiss ich, was ich zu der
Kirchentür gesprochen habe", und wiederholte die Worte. "Aber wo hast du das
Geschmeide, das ich dir an der Kirchentür gab?"
"Was für ein Geschmeide?" antwortete sie, "du hast mir kein Geschmeide
gegeben."
"Ich habe es dir selbst um den Hals gelegt und selbst eingehakt: wenn du das nicht
weisst, so bist du die rechte Braut nicht." Er zog ihr den Schleier vom Gesicht, und
als er ihre grundlose Hässlichkeit erblickte, sprang er erschrocken zurück und sprach:
"Wie kommst du hierher? Wer bist du?"
"Ich bin deine verlobte Braut, aber weil ich fürchtete, die Leute würden mich
verspotten, wenn sie mich draussen erblickten, so habe ich dem Aschenputtel befohlen,
meine Kleider anzuziehen und statt meiner zur Kirche zu gehen."
"Wo ist das Mädchen?" sagte er, "ich will es sehen, geh und hol es
hierher." Sie ging hinaus und sagte den Dienern, das Aschenputtel sei eine
Betrügerin, sie sollten es in den Hof hinabführen und ihm den Kopf abschlagen. Die
Diener packten es und wollten es fortschleppen, aber es schrie so laut um Hilfe, dass der
Königssohn seine Stimme vernahm, aus seinem Zimmer herbeieilte und den Befehl gab, das
Mädchen augenblicklich loszulassen.
Es wurden Lichter herbeigeholt, und da bemerkte er an ihrem Hals den Goldschmuck, den
er ihm vor der Kirchentür gegeben hatte. "Du bist die rechte Braut", sagte er,
"die mit mir zur Kirche gegangen ist: komm mit mir in meine Kammer." Als sie
beide allein waren, sprach er: "Du hast auf dem Kirchgang die Jungfrau Maleen
genannt, die meine verlobte Braut war; wenn ich dächte, es wäre möglich, so müsste ich
glauben, sie stände vor mir: du gleichst ihr in allem." Sie antwortete: "Ich
bin die Jungfrau Maleen, die um dich sieben Jahre in der Finsternis gefangen gesessen,
Hunger und Durst gelitten und so lange in Not und Armut gelebt hat; aber heute bescheint
mich die Sonne wieder. Ich bin dir in der Kirche angetraut und bin deine rechtmässige
Gemahlin." Da küssten sie einander und waren glücklich für ihr Lebtag. Der
falschen Braut ward zur Vergeltung der Kopf abgeschlagen.
Der Turm, in welchem die Jungfrau Maleen gesessen hatte, stand noch lange Zeit, und
wenn die Kinder vorübergingen, so sangen sie:
"kling, klang kloria,
wer sitt in dissen Toria?
Dar sitt en Königsdochter in,
Die kann ik nich to seen krygn.
De Muer, de will nich bräken,
De Steen, de will nich stechen.
Hänschen mit de bunte Jak,
Kumm unn folg my achterna."
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