Der Trommler KHM 193 (1857)
Märchentyp AT: 400, 313C, 518
Eines Abends ging ein junger Trommler ganz allein auf dem Feld und kam an einen See, da
sah er an dem Ufer drei Stückchen weisse Leinewand liegen. "Was für feines
Leinen", sprach er und steckte eins davon in die Tasche. Er ging heim, dachte nicht
weiter an seinen Fund und legte sich zu Bett. Als er eben einschlafen wollte, war es ihm,
als nennte jemand seinen Namen. Er horchte und vernahm eine leise Stimme, die ihm zurief:
"Trommeler, Trommeler, wach auf." Er konnte, da es finstere Nacht war, niemand
sehen, aber es kam ihm vor, als schwebte eine Gestalt vor seinem Bett auf und ab.
"Was willst du?" fragte er. "Gib mir mein Hemdchen zurück",
antwortete die Stimme, "das du mir gestern abend am See weggenommen hast."
"Du sollst es wiederhaben", sprach der Trommler, "wenn du mir sagst, wer
du bist. "Ach", erwiderte die Stimme, "ich bin die Tochter eines mächtigen
Königs, aber ich bin in die Gewalt einer Hexe geraten und bin auf den Glasberg gebannt.
Jeden Tag muss ich mit meinen zwei Schwestern im See baden, aber ohne mein Hemdchen kann
ich nicht wieder fortfliegen. Meine Schwestern haben sich fortgemacht, ich aber habe
zurückbleiben müssen. Ich bitte dich, gib mir mein Hemdchen wieder."
"Sei ruhig, armes Kind", sprach der Trommler, "ich will dirs gerne
zurückgeben." Er holte es aus seiner Tasche und reichte es ihr in der Dunkelheit
hin. Sie erfasste es hastig und wollte damit fort. "Weile einen Augenblick",
sagte er, "vielleicht kann ich dir helfen." "Helfen kannst du mir nur, wenn
du auf den Glasberg steigst und mich aus der Gewalt der Hexe befreist. Aber zu dem
Glasberg kommst du nicht, und wenn du auch ganz nahe daran wärst, so kommst du nicht
hinauf." "Was ich will, das kann ich", sagte der Trommler, "ich habe
Mitleid mit dir, und ich fürchte mich vor nichts. Aber ich weiss den Weg nicht, der nach
dem Glasberg führt." "Der Weg geht durch den grossen Wald, in dem die
Menschenfresser hausen", antwortete sie, "mehr darf ich dir nicht sagen."
Darauf hörte er, wie sie fortschwirrte.
Bei Anbruch des Tages machte sich der Trommler auf, hing seine Trommel um und ging ohne
Furcht geradezu in den Wald hinein. Als er ein Weilchen gegangen war und keinen Riesen
erblickte, so dachte er: "Ich muss die Langschläfer aufwecken", hing die
Trommel vor und schlug einen Wirbel, dass die Vögel aus den Bäumen mit Geschrei
aufflogen. Nicht lange, so erhob sich auch ein Riese in die Höhe, der im Gras gelegen und
geschlafen hatte, und war so gross wie eine Tanne. "Du Wicht", rief er ihm zu,
"was trommelst du hier und weckst mich aus dem besten Schlaf?"
"Ich trommle", antwortete er, "weil viele Tausende hinter mir herkommen,
damit sie den Weg wissen." "Was wollen die hier in meinem Wald?" fragte der
Riese. "Sie wollen dir den Garaus machen und den Wald von einem Ungetüm, wie du
bist, säubern." "Oho", sagte der Riese, "ich trete euch wie Ameisen
tot."
"Meinst du, du könntest gegen sie etwas ausrichten?" sprach der Trommler,
"wenn du dich bückst, um einen zu packen, so springt er fort und versteckt sich; wie
du dich aber niederlegst und schläfst, so kommen sie aus allen Gebüschen herbei und
kriechen an dir hinauf. Jeder hat einen Hammer von Stahl am Gürtel stecken, damit
schlagen sie dir den Schädel ein." Der Riese ward verdriesslich und dachte:
"Wenn ich mich mit dem listigen Volk befasse, so könnte es doch zu meinem Schaden
ausschlagen. Wölfen und Bären drücke ich die Gurgel zusammen, aber vor den Erdwürmern
kann ich mich nicht schützen."
"Hör, kleiner Kerl", sprach er, "zieh wieder ab, ich verspreche dir,
dass ich dich und deine Gesellen in Zukunft in Ruhe lassen will, und hast du noch einen
Wunsch, so sags mir, ich will dir wohl etwas zu Gefallen tun." "Du hast lange
Beine", sprach der Trommler, "und kannst schneller laufen als ich, trag mich zum
Glasberge, so will ich den Meinigen ein Zeichen zum Rückzug geben, und sie sollen dich
diesmal in Ruhe lassen." "Komm her, Wurm", sprach der Riese, "setz
dich auf meine Schulter, ich will dich tragen, wohin du verlangst." Der Riese hob ihn
hinauf, und der Trommler fing oben an nach Herzenslust auf der Trommel zu wirbeln. Der
Riese dachte: "Das wird das Zeichen sein, dass das andere Volk zurückgehen
soll."
Nach einer Weile stand ein zweiter Riese am Weg, der nahm den Trommler dem ersten ab
und steckte ihn in sein Knopfloch. Der Trommler fasste den Knopf, der wie eine Schüssel
gross war, hielt sich daran und schaute ganz lustig umher. Dann kamen sie zu einem
dritten, der nahm ihn aus dem Knopfloch und setzte ihn auf den Rand seines Hutes; da ging
der Trommler oben auf und ab und sah über die Bäume hinaus, und als er in blauer Ferne
einen Berg erblickte, so dachte er "das ist gewiss der Glasberg", und er war es
auch. Der Riese tat noch ein paar Schritte, so waren sie an dem Fuss des Berges angelangt,
wo ihn der Riese absetzte. Der Trommler verlangte, er sollte ihn auch auf die Spitze des
Glasberges tragen, aber der Riese schüttelte mit dem Kopf, brummte etwas in den Bart und
ging in den Wald zurück.
Nun stand der arme Trommler vor dem Berg, der so hoch war, als wenn drei Berge
aufeinandergesetzt wären, und dabei so glatt wie ein Spiegel, und wusste keinen Rat, um
hinaufzukommen. Er fing an zu klettern, aber vergeblich, er rutschte immer wieder herab.
"Wer jetzt ein Vogel wäre", dachte er, aber was half das Wünschen, es wuchsen
ihm keine Flügel. Indem er so stand und sich nicht zu helfen wusste, erblickte er nicht
weit von sich zwei Männer, die heftig miteinander stritten. Er ging auf sie zu und sah,
dass sie wegen eines Sattels uneins waren, der vor ihnen auf der Erde lag, und den jeder
von ihnen haben wollte. "Was seid ihr für Narren", sprach er, "zankt euch
um einen Sattel und habt kein Pferd dazu."
"Der Sattel ist wert, dass man darum streitet", antwortete der eine von den
Männern, "wer darauf sitzt und wünscht sich irgendwohin, und wärs am Ende der
Welt, der ist im Augenblick angelangt, wie er den Wunsch ausgesprochen hat. Der Sattel
gehört uns gemeinschaftlich, die Reihe, darauf zu reiten, ist an mir, aber der andere
will es nicht zulassen."
"Den Streit will ich bald austragen", sagte der Trommler, ging eine Strecke
weit und steckte einen weissen Stab in die Erde. Dann kam er zurück und sprach:
"Jetzt lauft nach dem Ziel, wer zuerst dort ist, der reitet zuerst." Beide
setzten sich in Trab, aber kaum waren sie ein paar Schritte weg, so schwang sich der
Trommler auf den Sattel, wünschte sich auf den Glasberg, und ehe man die Hand umdrehte,
war er dort. Auf dem Berg oben war eine Ebene, da stand ein altes steinernes Haus, und vor
dem Haus lag ein grosser Fischteich, dahinter aber ein finsterer Wald. Menschen und Tiere
sah er nicht, es war alles still, nur der Wind raschelte in den Bäumen, und die Wolken
zogen ganz nah über seinem Haupt weg. Er trat an die Türe und klopfte an. Als er zum
drittenmal geklopft hatte, öffnete eine Alte mit braunem Gesicht und roten Augen die
Türe; sie hatte eine Brille auf ihrer langen Nase und sah ihn scharf an, dann fragte sie,
was sein Begehren wäre. "Einlass, Kost und Nachtlager", antwortete der
Trommler. "Das sollst du haben", sagte die Alte, "wenn du dafür drei
Arbeiten verrichten willst." "Warum nicht?" antwortete er, "ich scheue
keine Arbeit, und wenn sie noch so schwer ist." Die Alte liess ihn ein, gab ihm Essen
und abends ein gutes Bett.
Am Morgen, als er ausgeschlafen hatte, nahm die Alte einen Fingerhut von ihrem dürren
Finger, reichte ihn dem Trommler hin und sagte: "Jetzt geh an die Arbeit und schöpfe
den Teich draussen mit diesem Fingerhut aus; aber ehe es Nacht wird, musst du fertig sein,
und alle Fische, die in dem Wasser sind, müssen nach ihrer Art und Grösse ausgesucht und
nebeneinandergelegt sein."
"Das ist eine seltsame Arbeit", sagte der Trommler, ging aber zu dem Teich
und fing an zu schöpfen. Er schöpfte den ganzen Morgen, aber was kann man mit einem
Fingerhut bei einem grossen Wasser ausrichten, und wenn man tausend Jahre schöpft? Als es
Mittag war, dachte er: "Es ist alles umsonst, und ist einerlei, ob ich arbeite oder
nicht", hielt ein und setzte sich nieder. Da kam ein Mädchen aus dem Haus gegangen,
stellte ihm ein Körbchen mit Essen hin und sprach: "Du sitzest da so traurig, was
fehlt dir?" Er blickte es an und sah, dass es wunderschön war. "Ach",
sagte er, "ich kann die erste Arbeit nicht vollbringen, wie wird es mit den andern
werden? Ich bin ausgegangen, eine Königstochter zu suchen, die hier wohnen soll, aber ich
habe sie nicht gefunden; ich will weitergehen."
"Bleib hier", sagte das Mädchen, "ich will dir aus deiner Not helfen.
Du bist müde, lege deinen Kopf in meinen Schoss und schlaf. Wenn du wieder aufwachst, so
ist die Arbeit getan." Der Trommler liess sich das nicht zweimal sagen. Sobald ihm
die Augen zufielen, drehte sie einen Wunschring und sprach: "Wasser herauf, Fische
heraus." Alsbald stieg das Wasser wie eine weisser Nebel in die Höhe und zog mit den
andern Wolken fort, und die Fische schnalzten, sprangen ans Ufer und legten sich
nebeneinander, jeder nach seiner Grösse und Art. Als der Trommler erwachte, sah er mit
Erstaunen, dass alles vollbracht war. Aber das Mädchen sprach: "Einer von den
Fischen liegt nicht bei seinesgleichen, sondern ganz allein. Wenn die Alte heute abend
kommt und sieht, dass alles geschehen ist, was sie verlangt hat, so wird sie fragen:
"Was soll dieser Fisch allein?" Dann wirf ihr den Fisch ins Angesicht und
sprich: "Der soll für dich sein, alte Hexe".
Abends kam die Alte, und als sie die Frage getan hatte, so warf er ihr den Fisch ins
Gesicht. Sie stellte sich, als merkte sie es nicht, und schwieg still, aber sie blickte
ihn mit boshaften Augen an. Am andern Morgen sprach sie: "Gestern hast du es zu
leicht gehabt, ich muss dir schwerere Arbeit geben. Heute musst du den ganzen Wald
umhauen, das Holz in Scheite spalten und in Klaftern legen, und am Abend muss alles fertig
sein." Sie gab ihm eine Axt, einen Schläger und zwei Keile. Aber die Axt war von
Blei, der Schläger und die Keile waren von Blech. Als er anfing zu hauen, so legte sich
die Axt um, und Schläger und Keile drückten sich zusammen. Er wusste sich nicht zu
helfen, aber mittags kam das Mädchen wieder mit dem Essen und tröstete ihn. "Lege
deinen Kopf in meinen Schoss", sagte sie, "und schlaf, wenn du aufwachst, so ist
die Arbeit getan." Sie drehte ihren Wunschring, in dem Augenblick sank der ganze Wald
mit Krachen zusammen, das Holz spaltete sich von selbst und legte sich in Klaftern
zusammen; es war als ob unsichtbare Riesen die Arbeit vollbrächten.
Als er aufwachte, sagte das Mädchen "siehst du, das Holz ist geklaftert und
gelegt; nur ein einziger Ast ist übrig, aber wenn die Alte heute abend kommt und fragt,
was der Ast solle, so gib ihr damit einen Schlag und sprich: Der soll für dich sein, du
Hexe." Die Alte kam. "Siehst du", sprach sie, "wie leicht die Arbeit
war: aber für wen liegt der Ast noch da?" "Für dich, du Hexe", antwortete
er und gab ihr einen Schlag damit. Aber sie tat, als fühlte sie es nicht, lachte
höhnisch und sprach: "Morgen früh sollst du alles Holz auf einen Haufen legen, es
anzünden und verbrennen." Er stand mit Anbruch des Tages auf und fing an das Holz
herbeizuholen, aber wie kann ein einziger Mensch einen ganzen Wald zusammentragen? Die
Arbeit rückte nicht fort. Doch das Mädchen verliess ihn nicht in der Not: es brachte ihm
mittags seine Speise, und als er gegessen hatte, legte er seinen Kopf in den Schoss und
schlief ein. Bei seinem Erwachen brannte der ganze Holzstoss in einer ungeheuern Flamme,
die ihre Zungen bis in den Himmel ausstreckte. "Hör mich an", sprach das
Mädchen, "wenn die Hexe kommt, wird sie dir allerlei auftragen: tust du ohne Furcht,
was sie verlangt, so kann sie dir nichts anhaben; fürchtest du dich aber, so packt dich
das Feuer und verzehrt dich. Zuletzt, wenn du alles getan hast, so packe sie mit beiden
Händen und wirf sie mitten in die Glut."
Das Mädchen ging fort, und die Alte kam herangeschlichen. "Hu! mich friert",
sagte sie "aber das ist ein Feuer, das brennt, das wärmt mir die alten Knochen, da
wird mir wohl. Aber dort liegt ein Klotz, der will nicht brennen, den hol mir heraus. Hast
du das noch getan, so bist du frei und kannst ziehen, wohin du willst. Nur munter
hinein." Der Trommler besann sich nicht lange, sprang mitten in die Flammen, aber sie
taten ihm nichts, nicht einmal die Haare konnten sie ihm versengen. Er trug den Klotz
heraus und legte ihn hin.
Kaum aber hatte das Holz die Erde berührt, so verwandelte es sich, und das schöne
Mädchen stand vor ihm, das ihm in der Not geholfen hatte; und an den seidenen
goldglänzenden Kleidern, die es anhatte, merkte er wohl, dass es die Königstochter war.
Aber die Alte lachte giftig und sprach: "Du meinst, du hättest sie, aber du hast sie
noch nicht." Eben wollte sie auf das Mädchen losgehen und es fortziehen, da packte
er die Alte mit beiden Händen, hob sie in die Höhe und warf sie den Flammen in den
Rachen, die über ihr zusammenschlugen, als freuten sie sich, dass sie eine Hexe verzehren
sollten. Die Königstochter blickte darauf den Trommler an, und als sie sah, dass es ein
schöner Jüngling war und bedachte, dass er sein Leben daran gesetzt hatte, um sie zu
erlösen, so reichte sie ihm die Hand und sprach: "Du hast alles für mich gewagt,
aber ich will auch für dich alles tun. Versprichst du mir deine Treue, so sollst du mein
Gemahl werden. An Reichtümern fehlt es uns nicht, wir haben genug an dem, was die Hexe
hier zusammengetragen hat."
Sie führte ihn in das Haus, da standen Kisten und Kasten, die mit ihren Schätzen
angefüllt waren. Sie liessen Gold und Silber liegen und nahmen nur die Edelsteine. Sie
wollte nicht länger auf dem Glasberg bleiben, da sprach er zu ihr: "Setzte dich zu
mir auf meinen Sattel, so fliegen wir hinab wie Vögel."
"Der alte Sattel gefällt mir nicht", sagte sie, "ich brauche nur an
meinem Wunschring zu drehen, so sind wir zu Haus." "Wohlan", antwortete der
Trommler, "so wünsch uns vor das Stadttor. " Im Nu waren sie dort, der Trommler
aber sprach: "Ich will erst zu meinen Eltern gehen und ihnen Nachricht geben, harre
mein hier auf dem Feld, ich will bald zurück sein." "Ach", sagte die
Königstochter, "ich bitte dich, nimm dich in acht, küsse deine Eltern bei deiner
Ankunft nicht auf die rechte Wange, denn sonst wirst du alles vergessen, und ich bleibe
hier allein und verlassen auf dem Feld zurück."
"Wie kann ich dich vergessen?" sagte er und versprach ihr in die Hand, recht
bald wiederzukommen. Als er in sein väterliches Haus trat, wusste niemand, wer er war, so
hatte er sich verändert, denn die drei Tage, die er auf dem Glasberg zugebracht hatte,
waren drei lange Jahre gewesen. Da gab er sich zu erkennen, und seine Eltern fielen ihm
vor Freude um den Hals, und er war so bewegt in seinem Herzen, dass er sie auf beide
Wangen küsste und an die Worte des Mädchens nicht dachte. Wie er ihnen aber den Kuss auf
die rechte Wange gegeben hatte, verschwand ihm jeder Gedanke an die Königstochter. Er
leerte seine Taschen aus und legte Hände voll der grössten Edelsteine auf den Tisch. Die
Eltern wussten gar nicht, was sie mit dem Reichtum anfangen sollten. Da baute der Vater
ein prächtiges Schloss von Gärten, Wäldern und Wiesen umgeben, als wenn ein Fürst
darin wohnen sollte. Und als es fertig war, sagte die Mutter: "Ich habe ein Mädchen
für dich ausgesucht, in drei Tagen soll die Hochzeit sein." Der Sohn war mit allem
zufrieden, was die Eltern wollten.
Die arme Königstochter hatte lange vor der Stadt gestanden und auf die Rückkehr des
Jüngling gewartet. Als es Abend ward, sprach sie: "Gewiss hat er seine Eltern auf
die rechte Wange geküsst und hat mich vergessen." Ihr Herz war voll Trauer, sie
wünschte sich in ein einsames Waldhäuschen und wollte nicht wieder an den Hof ihres
Vaters zurück. Jeden Abend ging sie in die Stadt und ging an seinem Haus vorüber; er sah
sie manchmal, aber er kannte sie nicht mehr. Endlich hörte sie, wie die Leute sagten
"morgen wird seine Hochzeit gefeiert." Da sprach sie: "Ich will versuchen,
ob ich sein Herz wiedergewinne.
Als der erste Hochzeitstag gefeiert ward, da drehte sie ihren Wunschring und sprach:
"Ein Kleid so glänzend wie die Sonne." Alsbald lag das Kleid vor ihr und war so
glänzend, als wenn es aus lauter Sonnenstrahlen gewebt wäre. Als alle Gäste sich
versammelt hatten, so trat sie in den Saal. Jedermann wunderte sich über das schöne
Kleid, am meisten die Braut, und da schöne Kleider ihre grösste Lust waren, so ging sie
zu der Fremden und fragte, ob sie es ihr verkaufen wollte. "Für Geld nicht",
antwortete, sie, "aber wenn ich die erste Nacht vor der Türe verweilen darf, wo der
Bräutigam schläft, so will ich es hingeben." Die Braut konnte ihr Verlangen nicht
bezwingen und willigte ein, aber sie mischte dem Bräutigam einen Schlaftrunk in seinen
Nachtwein, wovon er m tiefen Schlaf verfiel. Als nun alles still geworden war, so kauerte
sich die Königstochter vor die Türe der Schlafkammer, öffnete sie ein wenig und rief
hinein:
"Trommler, Trommler, hör mich an,
hast du mich denn ganz vergessen?
hast du auf dem Glasberg nicht bei mir gesessen?
habe ich vor der Hexe nicht bewahrt dein Leben?
hast du mir auf Treue nicht die Hand gegeben?
Trommler, Trommler, hör mich an."
Aber es war alles vergeblich, der Trommler wachte nicht auf, und als der Morgen
anbrach, musste die Königstochter unverrichteter Dinge wieder fortgehen.
Am zweiten Abend drehte sie ihren Wunschring und sprach "ein Kleid so silbern als
der Mond." Als sie mit dem Kleid, das so zart war wie der Mondschein, bei dem Fest
erschien, erregte sie wieder das Verlangen der Braut und gab es ihr für die Erlaubnis,
auch die zweite Nacht vor der Türe der Schlafkammer zubringen zu dürfen. Da rief sie in
nächtlicher Stille:
"Trommler, Trommler, hör mich an,
hast du mich denn ganz vergessen?
hast du auf dem Glasberg nicht bei mir gesessen?
habe ich vor der Hexe nicht bewahrt dein Leben?
hast du mir auf Treue nicht die Hand gegeben?
Trommler, Trommler, hör mich an."
Aber der Trommler, von dem Schlaftrunk betäubt, war nicht zu erwecken. Traurig ging
sie den Morgen wieder zurück in ihr Waldhaus. Aber die Leute im Haus hatten die Klage des
fremden Mädchens gehört und erzählten dem Bräutigam davon; sie sagten ihm auch, dass
es ihm nicht möglich gewesen wäre, etwas davon zu vernehmen, weil sie ihm einen
Schlaftrunk in den Wein geschüttet hätten. Am dritten Abend drehte die Königstochter
den Wunschring und sprach: "Ein Kleid flimmernd wie Sterne." Als sie sich darin
auf dem Fest zeigte, war die Braut über die Pracht des Kleides, das die andern weit
übertraf, ganz ausser sich und sprach: "Ich soll und muss es haben." Das
Mädchen gab es, wie die andern, für die Erlaubnis, die Nacht vor der Türe des
Bräutigams zuzubringen.
Der Bräutigam aber trank den Wein nicht, der ihm vor dem Schlafengehen gereicht wurde,
sondern goss ihn hinter das Bett. Und als alles im Haus still geworden war, so hörte er
eine sanfte Stimme, die ihn anrief:
"Trommler, Trommler, hör mich an,
hast du mich denn ganz vergessen?
hast du auf dem Glasberg nicht bei mir gesessen?
habe ich vor der Hexe nicht bewahrt dein Leben?
hast du mir auf Treue nicht die Hand gegeben?
Trommler, Trommler, hör mich an."
Plötzlich kam ihm das Gedächtnis wieder. "Ach", rief er, "wie habe ich
so treulos handeln können, aber der Kuss, den ich meinen Eltern in der Freude meines
Herzens auf die rechte Wange gegeben habe, der ist schuld daran, der hat mich
betäubt." Er sprang auf, nahm die Königstochter bei der Hand und führte sie zu dem
Bett seiner Eltern. "Das ist meine rechte Braut", sprach er, "wenn ich die
andere heirate, so tue ich grosses Unrecht." Die Eltern, als sie hörten, wie alles
sich zugetragen hatte, willigten ein. Da wurden die Lichter im Saal wieder angezündet,
Pauken und Trompeten herbeigeholt, die Freunde und Verwandten eingeladen wiederzukommen,
und die wahre Hochzeit ward mit grosser Freude gefeiert. Die erste Braut behielt die
schönen Kleider zur Entschädigung und gab sich zufrieden.
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