Das Meerhäschen KHM 191 (1857)
Märchentyp AT: 329, 554
Es war einmal eine Königstochter, die hatte in ihrem Schloss hoch unter der Zinne
einen Saal mit zwölf Fenstern, die gingen nach allen Himmelsgegenden, und wenn sie
hinaufstieg und umherschaute, so konnte sie ihr ganzes Reich übersehen. Aus dem ersten
sah sie schon schärfer als andere Menschen, in dem zweiten noch besser, in dem dritten
noch deutlicher, und so immer weiter, bis in dem zwölften, wo sie alles sah, was über
und unter der Erde war, und ihr nichts verborgen bleiben konnte. Weil sie aber stolz war,
sich niemand unterwerfen wollte und die Herrschaft allein behalten, so liess sie
bekanntmachen, es sollte niemand ihr Gemahl werden, der sich nicht so vor ihr verstecken
könnte, dass es ihr unmöglich wäre, ihn zu finden. Wer es aber versuche und sie
entdecke ihn, so werde ihm das Haupt abgeschlagen und auf einen Pfahl gesteckt.
Es standen schon siebenundneunzig Pfähle mit toten Häuptern vor dem Schloss, und in
langer Zeit meldete sich niemand. Die Königstochter war vergnügt und dachte: "ich
werde nun für mein Lebtag frei bleiben." Da erschienen drei Brüder vor ihr und
kündigten ihr an, dass sie ihr Glück versuchen wollten. Der älteste glaubte sicher zu
sein, wenn er in ein Kalkloch krieche, aber sie erblickte ihn schon aus dem ersten
Fenster, liess ihn herausziehen und ihm das Haupt abschlagen. Der zweite kroch in den
Keller des Schlosses, aber auch diesen erblickte sie aus dem ersten Fenster, und es war um
ihn geschehen: sein Haupt kam auf den neunundneunzigsten Pfahl.
Da trat der jüngste vor sie hin und bat, sie möchte ihm einen Tag Bedenkzeit geben,
auch so gnädig sein, es ihm zweimal zu schenken, wenn sie ihn entdecke; misslinge es ihm
zum drittenmal, so wolle er sich nichts mehr aus seinem Leben machen. Weil er so schön
war und so herzlich bat, so sagte sie, "ja, ich will dir das bewilligen, aber es wird
dir nicht glücken."
Den folgenden Tag sann er lange nach, wie er sich verstecken wollte, aber es war
vergeblich. Da ergriff er seine Büchse und ging hinaus auf die Jagd. Er sah einen Raben
und nahm ihn aufs Korn; eben wollte er losdrücken, da rief der Rabe: "Schiess nicht,
ich will dirs vergelten!" Er setzte ab, ging weiter und kam an einen See, wo er
einen grossen Fisch überraschte, der aus der Tiefe herauf an die Oberfläche des Wassers
gekommen war. Als er angelegt hatte, rief der Fisch: "Schiess nicht, ich will
dirs vergelten!" Er liess ihn untertauchen, ging weiter und begegnete einem
Fuchs, der hinkte. Er schoss und verfehlte ihn, da rief der Fuchs: "Komm lieber her
und zieh mir den Dorn aus dem Fuss." Er tat es zwar, wollte aber dann den Fuchs
töten und ihm den Balg abziehen. Der Fuchs sprach: "Lass ab, ich will dirs
vergelten!" Der Jüngling liess ihn laufen, und da es Abend war, kehrte er heim.
Am anderen Tag sollte er sich verkriechen, aber wie er sich auch den Kopf darüber
zerbrach, er wusste nicht wohin. Er ging in den Wald zu dem Raben und sprach: "Ich
habe dich leben lassen, jetzt sage mir, wohin ich mich verkriechen soll, damit mich die
Königstochter nicht sieht." Der Rabe senkte den Kopf und bedachte sich lange.
Endlich schnarrte er: "Ich habs heraus!" Er holte ein Ei aus seinem Nest,
zerlegte es in zwei Teile und schloss den Jüngling hinein; dann machte er es wieder ganz
und setzte sich darauf.
Als die Königstochter an das erste Fenster trat, konnte sie ihn nicht entdecken, auch
nicht in den folgenden, und es fing an ihr bange zu werden, doch im elften erblickte sie
ihn. Sie liess den Raben schiessen, das Ei holen und zerbrechen, und der Jüngling musste
herauskommen. Sie sprach: "Einmal ist es dir geschenkt, wenn du es nicht besser
machst, so bist du verloren."
Am folgenden Tag ging er an den See, rief den Fisch herbei und sprach: "Ich habe
dich leben lassen, nun sage, wohin soll ich mich verbergen, damit mich die Königstochter
nicht sieht." Der Fisch besann sich, endlich rief er: "Ich habs heraus!
Ich will dich in meinem Bauch verschliessen." Er verschluckte ihn und fuhr hinab auf
den Grund des Sees. Die Königstochter blickte durch ihre Fenster, auch im elften sah sie
ihn nicht und war bestürzt, doch endlich im zwölften entdeckte sie ihn. Sie liess den
Fisch fangen und töten, und der Jüngling kam zum Vorschein. Es kann sich jeder denken,
wie ihm zumut war. Sie sprach: "Zweimal ist dirs geschenkt, aber dein Haupt
wird wohl auf den hundertsten Pfahl kommen."
An dem letzten Tag ging er mit schwerem Herzen aufs Feld und begegnete dem Fuchs.
"Du weisst alle Schlupfwinkel zu finden", sprach er, "ich habe dich leben
lassen, jetzt rat mir, wohin ich mich verstecken soll, damit mich die Königstochter nicht
findet." "Ein schweres Stück", antwortete der Fuchs und machte ein
bedenkliches Gesicht. Endlich rief er "ich habs heraus!" Er ging mit ihm
zu einer Quelle, tauchte sich hinein und kam als ein Marktkrämer und Tierhändler heraus.
Der Jüngling musste sich auch in das Wasser tauchen, und ward in ein kleines Meerhäschen
verwandelt. Der Kaufmann zog in die Stadt und zeigte das artige Tierchen. Es lief viel
Volk zusammen, um es anzusehen. Zuletzt kam auch die Königstochter, und weil sie grossen
Gefallen daran hatte, kaufte sie es und gab dem Kaufmann viel Geld dafür. Bevor er es ihr
hinreichte, sagte er zu ihm: "Wenn die Königstochter ans Fenster geht, so krieche
schnell unter ihren Zopf." Nun kam die Zeit, wo sie ihn suchen sollte. Sie trat nach
der Reihe an die Fenster vom ersten bis zum elften und sah ihn nicht. Als sie ihn auch bei
dem zwölften nicht sah, war sie voll Angst und Zorn und schlug es so gewaltig zu, dass
das Glas in allen Fenstern in tausend Stücke zersprang und das ganze Schloss erzitterte.
Sie ging zurück und fühlte das Meerhäschen unter ihrem Zopf, da packte sie es, warf es
zu Boden und rief: "Fort mir aus den Augen!"
Es lief zum Kaufmann und beide eilten zur Quelle, wo sie sich untertauchten und ihre
wahre Gestalt zurückerhielten. Der Jüngling dankte dem Fuchs und sprach: "Der Rabe
und der Fisch sind blitzdumm gegen dich, du weisst die rechten Pfiffe, das muss wahr
sein!" Der Jüngling ging geradezu in das Schloss. Die Königstochter wartete schon
auf ihn und fügte sich ihrem Schicksal. Die Hochzeit ward gefeiert, und er war jetzt der
König und Herr des ganzen Reichs. Er erzählte ihr niemals, wohin er sich zum drittenmal
versteckt und wer ihm geholfen hatte, und so glaubte sie, er habe alles aus eigener Kunst
getan und hatte Achtung vor ihm, denn sie dachte bei sich: "Der kann doch mehr als
du!"
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