Spindel, Weberschiffchen und Nadel KHM 188 (1857)
Märchentyp AT: 585
Es war eimmal ein Mädchen, dem starb Vater und Mutter, als es noch ein kleines Kind
war. Am Ende des Dorfes wohnte in einem Häuschen ganz allein seine Pate, die sich von
Spinnen, Weben und Nähen ernährte. Die Alte nahm das verlassene Kind zu sich, hielt es
zur Arbeit an und erzog es in aller Frömmigkeit. Als das Mädchen fünfzehn Jahre alt
war, erkrankte sie, rief das Kind an ihr Bett und sagte: "liebe Tochter, ich fühle,
dass mein Ende herannaht, ich hinterlasse dir das Häuschen, darin bist du vor Wind und
Wetter geschützt, dazu Spindel, Weberschiffchen und Nadel, damit kannst du dir dein Brot
verdienen." Sie legte noch die Hände auf seinen Kopf, segnete es und sprach:
"behalt nur Gott in dem Herzen, so wird dirs wohl gehen." Darauf schloss sie die
Augen, und als sie zur Erde bestattet wurde, ging das Mädchen bitterlich weinend hinter
dem Sarg und erwies ihr die letzte Ehre.
Das Mädchen lebte nun in dem kleinen Haus ganz allein, war fleissig, spann, webte und
nähte, und auf allem, was es tat, ruhte der Segen der guten Alten. Es war, als ob sich
der Flachs in er Kammer von selbst mehrte, und wenn sie ein Stück Tuch oder einen Teppich
gewebt oder ein Hemd genäht hatte, so fand sich gleich ein Käufer, der es reichlich
bezahlte, so dass sie keine Not empfand und andern noch etwas mitteilen konnte.
Um diese Zeit zog der Sohn des Königs im Land umher und wollte sich eine Braut suchen.
Eine arme sollte er nicht wählen und eine reiche wollte er nicht. Da sprach er: "die
soll meine Frau werden, die zugleich die ärmste und die reichste ist." Als er in das
Dorf kam, wo das Mädchen lebte, fragte er, wie er überall tat, wer in dem Ort die
reichste und die ärmste wäre. Sie nannten ihm die reichste zuerst: die ärmste, sagten
sie, wäre das Mädchen, das in dem kleinen Haus ganz am Ende wohnte. Die Reiche sass vor
der Haustür in vollem Putz, und als der Königssohn sich näherte, stand sie auf, ging
ihm entgegen und neigte sich vor ihm. Er sah sie an, sprach kein Wort und ritt weiter. Als
er zu dem Haus der Armen kam, stand das Mädchen nicht an der Türe, sondern sass in
seinem Stübchen. Er hielt das Pferd an und sah durch das Fenster, durch das die helle
Sonne schien, das Mädchen an dem Spinnrad sitzen und emsig spinnen. Es blickte auf, und
als es bemerkte, dass der Königssohn hereinschaute, ward es über und über rot, schlug
die Augen nieder und spann weiter; ob der Faden diesmal ganz gleich ward, weiss ich nicht,
aber es spann so lange, bis der Königssohn wieder weggeritten war. Dann trat es ans
Fenster, öffnete es und sagte: "es ist so heiss in der Stube", aber es blickte
ihm nach, solange es noch die weissen Federn an seinem Hut erkennen konnte. Das Mädchen
setzte sich wieder in seine Stube zur Arbeit und spann weiter. Da kam ihm ein Spruch in
den Sinn, den die Alte manchmal gesagt hatte, wenn es bei der Arbeit sass, und es sang so
vor sich hin:
"Spindel, Spindel, geh du aus,
bring den Freier in mein Haus."
Was geschah? Die Spindel sprang ihm augenblicklich aus der Hand und zur Türe hinaus;
und als es vor Verwunderung aufstand und ihr nachblickte, so sah es, dass sie lustig in
das Feld hineintanzte und einen glänzenden goldenen Faden hinter sich herzog. Nicht
lange, so war sie ihm aus den Augen entschwunden. Das Mädchen, da es keine Spindel mehr
hatte, nahm das Weberschiffchen in die Hand, setzte sich an den Webstuhl und fing an zu
weben. Die Spindel aber tanzte immer weiter, und eben als der Faden zu Ende war, hatte sie
den Königssohn erreicht. "Was sehe ich?" rief er, "die Spindel will mir
wohl den Weg zeigen?" drehte sein Pferd um und ritt an dem goldenen Faden zurück.
Das Mädchen aber sass an seiner Arbeit und sang:
"Schiffchen, Schiffchen, webe fein,
Führ den Freier mir herein."
Alsbald sprang ihr das Schiffchen aus der Hand und sprang zur Türe hinaus. Vor der
Türschwelle aber fing es an einen Teppich zu weben, schöner, als man je einen gesehen
hat. Auf beiden Seiten blühten Rosen und Lilien, und in der Mitte auf goldenem Grund
stiegen grüne Ranken herauf, darin sprangen Hasen und Kaninchen: Hirsche und Rehe
streckten die Köpfe dazwischen: oben in den Zweigen sassen bunte Vögel; es fehlte
nichts, als dass sie gesungen hätten. Das Schiffchen sprang hin und her, und es war, als
wüchse alles von selber.
Weil das Schiffchen fortgelaufen war, hatte sich das Mädchen zum Nähen hingesetzt: es
hielt die Nadel in der Hand und sang:
"Nadel, Nadel, spitz und fein,
Mach das Haus dem Freier rein."
Da sprang ihr die Nadel aus den Fingern und flog in der Stube hin und her, so schnell
wie der Blitz. Es war nicht anders, als wenn unsichtbare Geister arbeiteten, alsbald
überzogen sich Tisch und Bänke mit grünem Tuch, die Stühle mit Sammet, und an den
Fenstern hingen seidene Vorhänge herab.
Kaum hatte die Nadel den letzten Stich getan, so sah das Mädchen schon durch das
Fenster die weissen Federn von dem Hut des Königssohns, den die Spindel an dem goldenen
Faden herbeigeholt hatte. Er stieg ab, schritt über den Teppich in das Haus herein, und
als er in die Stube trat, stand das Mädchen da in seinem ärmlichen Kleid, aber es
glühte darin wie eine Rose im Busch. "Du bist die ärmste und auch die
reichste", sprach er zu ihr, "komm mit mir, du sollst meine Braut sein."
Sie schwieg, aber sie reichte ihm die Hand. Da gab er ihr einen Kuss, führte sie hinaus,
hob sie auf sein Pferd und brachte sie in das königliche Schloss, wo die Hochzeit mit
grosser Freude gefeiert ward. Spindel, Weberschiffchen und Nadel wurden in der
Schatzkammer verwahrt und in grossen Ehren gehalten.
top