Die Nixe im Teich KHM 181 (1857)
Märchentyp AT: 316
Es war einmal ein Müller, der führte mit seiner Frau ein vergnügtes Leben. Sie
hatten Geld und Gut, und ihr Wohlstand nahm von Jahr zu Jahr noch zu. Aber Unglück kommt
über Nacht: wie ihr Reichtum gewachsen war, so schwand er von Jahr zu Jahr wieder hin,
und zuletzt konnte der Müller kaum noch die Mühle, in der er sass, sein Eigentum nennen.
Er war voll Kummer, und wenn er sich nach der Arbeit des Tages niederlegte, so fand er
keine Ruhe, sondern wälzte sich voll Sorgen in seinem Bett.
Eines Morgens stand er schon vor Tagesanbruch auf, ging hinaus ins Freie und dachte, es
sollte ihm leichter ums Herz werden. Als er über dem Mühldamm dahinschritt, brach eben
der erste Sonnenstrahl hervor, und er hörte in dem Weiher etwas rauschen. Er wendete sich
um und erblickte ein schönes Weib, das sich langsam aus dem Wasser erhob. Ihre langen
Haare, die sie über den Schultern mit ihren zarten Händen gefasst hatte, flossen an
beiden Seiten herab und bedeckten ihren weissen Leib. Er sah wohl, dass es die Nixe des
Teichs war, und wusste vor Furcht nicht, ob er davongehen oder stehen bleiben sollte. Aber
die Nixe liess ihre sanfte Stimme hören, nannte ihn beim Namen und fragte, warum er so
traurig wäre. Der Müller war anfangs verstummt, als er sie aber so freundlich sprechen
hörte, fasste er sich ein Herz und erzählte ihr, dass er sonst in Glück und Reichtum
gelebt hätte, aber jetzt so arm wäre, dass er sich nicht zu raten wüsste. "Sei
ruhig", antwortete die Nixe, "ich will dich reicher und glücklicher machen, als
du je gewesen bist, nur musst du mir versprechen, dass du mir geben willst, was eben in
deinem Hause jung geworden ist."
"Was kann das anders sein", dachte der Müller, "als ein junger Hund
oder ein junges Kätzchen?" und sagte ihr zu, was sie verlangte. Die Nixe stieg
wieder in das Wasser hinab, und er eilte getröstet und gutes Mutes nach seiner Mühle.
Noch hatte er sie nicht erreicht, da trat die Magd aus der Haustüre und rief ihm zu, er
sollte sich freuen, seine Frau hätte ihm einen kleinen Knaben geboren. Der Müller stand
wie vom Blitz gerührt er sah wohl, dass die tückische Nixe das gewusst und ihn betrogen
hatte. Mit gesenktem Haupt trat er zu dem Bett seiner Frau, und als sie ihn fragte:
"Warum freust du dich nicht über den schönen Knaben?" so erzählte er ihr, was
ihm begegnet war, und was für ein Versprechen er der Nixe gegeben hatte. "Was hilft
mir Glück und Reichtum", fügte er hinzu, "wenn ich mein Kind verlieren soll?
Aber was kann ich tun?" Auch die Verwandten, die herbeigekommen waren, Glück zu
wünschen, wussten keinen Rat.
Indessen kehrte das Glück in das Haus des Müllers wieder ein. Was er unternahm,
gelang, es war, als ob Kisten und Kasten von selbst sich füllten und das Geld im Schrank
über Nacht sich mehrte. Es dauerte nicht lange, so war sein Reichtum grösser als je
zuvor. Aber er konnte sich nicht ungestört darüber freuen: die Zusage, die er der Nixe
getan hatte, quälte sein Herz. Sooft er an dem Teich vorbeikam, fürchtete er, sie
möchte auftauchen und ihn an seine Schuld mahnen. Den Knaben selbst liess er nicht in die
Nähe des Wassers:; "Hüte dich", sagte er zu ihm, "wenn du das Wasser
berührst, so kommt eine Hand heraus, hascht dich und zieht dich hinab." Doch als
Jahr auf Jahr verging und die Nixe sich nicht wieder zeigte, so fing der Müller an sich
zu beruhigen.
Der Knabe wuchs zum Jüngling heran und kam bei einem Jäger in die Lehre. Als er
ausgelernt hatte und ein tüchtiger Jäger geworden war, nahm ihn der Herr des Dorfes in
seine Dienste. In dem Dorf war ein schönes und treues Mädchen, das gefiel dem Jäger,
und als sein Herr das bemerkte, schenkte er ihm ein kleines Haus; die beiden hielten
Hochzeit, lebten ruhig und glücklich und liebten sich von Herzen.
Einstmals verfolgte der Jäger ein Reh. Als das Tier aus dem Wald in das freie Feld
ausbog, setzte er ihm nach und streckte es endlich mit einem Schuss nieder. Er bemerkte
nicht, dass er sich in der Nähe des gefährlichen Weihers befand, und ging, nachdem er
das Tier ausgeweidet hatte, zu dem Wasser, um seine mit Blut befleckten Hände zu waschen.
Kaum aber hatte er sie hineingetaucht, als die Nixe emporstieg, lachend mit ihren nassen
Armen ihn umschlang und so schnell hinabzog, dass die Wellen über ihm zusammenschlugen.
Als es Abend war und der Jäger nicht nach Haus kam, so geriet seine Frau in Angst. Sie
ging aus, ihn zu suchen, und da er ihr oft erzählt hatte, dass er sich vor den
Nachstellungen der Nixe in acht nehmen musste und nicht in der Nähe des Weihers sich
wagen dürfte, so ahnte sie schon, was geschehen war. Sie eilte zu dem Wasser, und als sie
am Ufer seine Jägertasche liegen fand, da konnte sie nicht länger an dem Unglück
zweifeln. Wehklagend und händeringend rief sie ihren Liebsten mit Namen, aber vergeblich:
sie eilte hinüber auf die andere Seite des Weihers, und rief ihn aufs neue; sie schalt
die Nixe mit harten Worten, aber keine Antwort erfolgte. Der Spiegel des Wassers blieb
ruhig, nur das halbe Gesicht des Mondes blickte unbeweglich zu ihr herauf.
Die arme Frau verliess den Teich nicht. Mit schnellen Schritten, ohne Rast und Ruhe,
umkreiste sie ihn immer von neuem, manchmal still, manchmal einen heftigen Schrei
ausstossend, manchmal in leisem Wimmern. Endlich waren ihre Kräfte zu Ende: sie sank zur
Erde nieder und verfiel in einen tiefen Schlaf. Bald überkam sie ein Traum. Sie stieg
zwischen grossen Felsblöcken angstvoll aufwärts; Dornen und Ranken hakten sich an ihre
Füsse, der Regen schlug ihr ins Gesicht und der Wind zauste ihr langes Haar. Als sie die
Anhöhe erreicht hatte, bot sich ein ganz anderer Anblick dar. Der Himmel war blau, die
Luft mild, der Boden senkte sich sanft hinab und auf einer grünen, bunt beblümten Wiese
stand eine reinliche Hütte. Sie ging darauf zu und öffnete die Türe, da sass eine Alte
mit weissen Haaren, die ihr freundlich winkte.
In dem Augenblick erwachte die arme Frau. Der Tag war schon angebrochen, und sie
entschloss sich gleich, dem Traum Folge zu leisten. Sie stieg mühsam den Berg hinauf, und
es war alles so, wie sie es in der Nacht gesehen hatte. Die Alte empfing sie freundlich
und zeigte ihr einen Stuhl, auf den sie sich setzen sollte. "Du musst ein Unglück
erlebt haben", sagte sie, "weil du meine einsame Hütte aufsuchst." Die
Frau erzählte ihr unter Tränen, was ihr begegnet war. "Tröste dich", sagte
die Alte, "ich will dir helfen: da hast du einen goldenen Kamm. Harre, bis der
Vollmond aufgestiegen ist, dann geh zu dem Weiher, setze dich am Rand nieder und strähle
dein langes schwarzes Haar mit diesem Kamm. Wenn du aber fertig bist, so lege ihn am Ufer
nieder, und du wirst sehen, was geschieht.
Die Frau kehrte zurück, aber die Zeit bis zum Vollmond verstrich ihr langsam. Endlich
erschien die leuchtende Scheibe am Himmel, da ging sie hinaus an den Weiher, setzte sich
nieder und kämmte ihre langen schwarzen Haare mit dem goldenen Kamm, und als sie fertig
war, legte sie ihn an den Rand des Wassers nieder. Nicht lange, so brauste es aus der
Tiefe, eine Welle erhob sich, rollte an das Ufer und führte den Kamm mit sich fort. Es
dauerte nicht länger, als der Kamm nötig hatte, auf den Grund zu sinken, so teilte sich
der Wasserspiegel, und der Kopf des Jägers stieg in die Höhe. Er sprach nicht, schaute
aber seine Frau mit traurigen Blicken an. In demselben Augenblick kam eine zweite Welle
herangerauscht und bedeckte das Haupt des Mannes. Alles war verschwunden, der Weiher lag
so ruhig wie zuvor, und nur das Gesicht des Vollmondes glänzte darauf.
Trostlos kehrte die Frau zurück, doch der Traum zeigte ihr die Hütte der Alten.
Abermals machte sie sich am nächsten Morgen auf den Weg und klagte der weisen Frau ihr
Leid. Die Alte gab ihr eine goldene Flöte und sprach: "Harre, bis der Vollmond
wiederkommt, dann nimm diese Flöte, setze dich an das Ufer, blas ein schönes Lied
darauf, und wenn du damit fertig bist, so lege sie auf den Sand; du wirst sehen, was
geschieht." Die Frau tat, wie die Alte gesagt hatte. Kaum lag die Flöte auf dem
Sand, so brauste es aus der Tiefe: eine Welle erhob sich, zog heran, und führte die
Flöte mit sich fort. Bald darauf teilte sich das Wasser, und nicht bloss der Kopf, auch
der Mann bis zur Hälfte des Leibes stieg hervor. Er breitete voll Verlangen seine Arme
nach ihr aus, aber eine zweite Welle rauschte heran, bedeckte ihn und zog ihn wieder
hinab.
"Ach, was hilft es mir", sagte die Unglückliche, "dass ich meinen
Liebsten nur erblicken um ihn wieder zu verlieren." Der Gram erfüllte aufs neue ihr
Herz, aber der Traum führte sie zum drittenmal in das Haus der Alten. Sie machte sich auf
den Weg, und die weise Frau gab ihr ein goldenes Spinnrad, tröstete sie und sprach:
"Es ist noch nicht alles vollbracht, harre bis der Vollmond kommt, dann nimm das
Spinnrad, setze dich ans Ufer und spinn die Spule voll, und wenn du fertig bist, so stelle
das Spinnrad nahe an das Wasser, und du wirst sehen, was geschieht." Die Frau
befolgte alles genau. Sobald der Vollmond sich zeigte, trug sie das goldene Spinnrad an
das Ufer und spann emsig, bis der Flachs zu Ende und die Spule mit dem Faden ganz
angefüllt war. Kaum aber stand das Rad am Ufer, so brauste es noch heftiger als sonst in
der Tiefe des Wassers, eine mächtige Welle eilte herbei und trug das Rad mich sich fort.
Alsbald stieg mit einem Wasserstrahl der Kopf und der ganze Leib des Mannes in die
Höhe. Schnell sprang er ans Ufer, fasste seine Frau an der Hand und entfloh. Aber kaum
hatten sie sich eine kleine Strecke entfernt, so erhob sich mit entsetzlichem Brausen der
ganze Weiher und strömte mit reissender Gewalt in das weite Feld hinein. Schon sahen die
Fliehenden ihren Tod vor Augen, da rief die Frau in ihrer Angst die Hilfe der Alten an,
und in dem Augenblick waren sie verwandelt, sie in eine Kröte, er in einen Frosch. Die
Flut, die sie erreicht hatte, konnte sie nicht töten, aber sie riss sie beide voneinander
und führte sie weit weg.
Als das Wasser sich verlaufen hatte und beide wieder den trocknen Boden berührten, so
kam ihre menschliche Gestalt zurück. Aber keiner wusste, wo das andere geblieben war; sie
befanden sich unter fremden Menschen, die ihre Heimat nicht kannten. Hohe Berge und tiefe
Täler lagen zwischen ihnen. Um sich das Leben zu erhalten, mussten beide die Schafe
hüten. Sie trieben lange Jahre ihre Herden durch Feld und Wald und waren voll Trauer und
Sehnsucht.
Als wieder einmal der Frühling aus der Erde hervorgebrochen war, zogen beide an einem
Tag mit ihren Herden aus, und der Zufall wollte, dass sie einander entgegenzogen. Er
erblickte an einem fernen Bergesabhang eine Herde und trieb seine Schafe nach der Gegend
hin. Sie kamen in einem Tal zusammen, aber sie erkannten sich nicht, doch freuten sie
sich, dass sie nicht mehr so einsam waren. Von nun an trieben sie jeden Tag ihre Herde
nebeneinander: sie sprachen nicht viel, aber sie fühlten sich getröstet.
Eines Abends, als der Vollmond am Himmel schien und die Schafe schon ruhten, holte der
Schäfer die Flöte aus seiner Tasche und blies ein schönes, aber trauriges Lied. Als er
fertig war, bemerkte er, dass die Schäferin bitterlich weinte. "Warum weinst
du?" fragte er. "Ach", antwortete sie, "so schien auch der Vollmond,
als ich zum letztenmal dieses Lied auf der Flöte blies und das Haupt meines Liebsten aus
dem Wasser hervorkam." Er sah sie an, und es war ihm, als fiele eine Decke von
den Augen, er erkannte seine liebste Frau: und als sie ihn anschaute und der Mond auf sein
Gesicht schien, erkannte sie ihn auch. Sie umarmten und küssten sich, und ob sie
glückselig waren, braucht keiner zu fragen.
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