Die Gänsehirtin am Brunnen KHM 179 (1857)
Märchentyp AT: 923
Es war einmal ein steinaltes Mütterchen, das lebte mit seiner Herde Gänse in einer
Einöde zwischen Bergen und hatte da ein kleines Haus. Die Einöde war von einem grossen
Wald umgeben, und jeden Morgen nahm die Alte ihre Krücke und wackelte in den Wald. Da war
aber das Mütterchen ganz geschäftig, mehr als man ihm bei seinen hohen Jahren zugetraut
hätte, sammelte Gras für seine Gänse, brach sich das wilde Obst ab, so weit es mit den
Händen reichen konnte, und trug alles auf seinem Rücken heim. Man hätte meinen sollen,
die schwere Last müsste sie zu Boden drücken, aber sie brachte sie immer glücklich nach
Haus. Wenn ihr jemand begegnete, so grüsste sie ganz freundlich: "Guten Tag, lieber
Landsmann, heute ist schönes Wetter. Ja, Ihr wundert Euch, dass ich das Gras schleppe,
aber jeder muss seine Last auf den Rücken nehmen." Doch die Leute begegneten ihr
nicht gerne und nahmen lieber einen Umweg, und wenn ein Vater mit seinem Knaben an ihr
vorüberging, so sprach er leise zu ihm: "Nimm dich in acht vor der Alten, die
hats faustdick hinter den Ohren: es ist eine Hexe."
Eines Morgens ging ein hübscher junger Mann durch den Wald. Die Sonne schien hell, die
Vögel sangen, und ein kühles Lüftchen strich durch das Laub, und er war voll Freude und
Lust. Noch war ihm kein Mensch begegnet, als er plötzlich die alte Hexe erblickte, die am
Boden auf den Knien sass und Gras mit einer Sichel abschnitt. Eine ganze Last hatte
sie schon in ihr Tragtuch geschoben, und daneben standen zwei Körbe, die mit wilden
Birnen und Äpfeln angefüllt waren. "Aber Mütterchen", sprach er, "wie
kannst du das alles fortschaffen?" "Ich muss sie tragen, lieber Herr",
antwortete sie, "reicher Leute Kinder brauchen es nicht. Aber beim Bauer
heissts
Schau dich nicht um,
Dein Buckel ist krumm.
Wollt Ihr mir helfen?" sprach sie, als er bei ihr stehen blieb, "Ihr habt
noch einen geraden Buckel und junge Beine, es wird Euch ein leichtes sein. Auch ist mein
Haus nicht so weit von hier: hinter dem Berge dort steht es auf einer Heide. Wie bald seid
Ihr da hinaufgesprungen." Der junge Mann empfand Mitleiden mit der Alten, "zwar
ist mein Vater kein Bauer", antwortete er, "sondern ein reicher Graf, aber damit
Ihr seht, dass die Bauern nicht allein tragen können, so will ich Euer Bündel
aufnehmen." "Wollt Ihrs versuchen", sprach sie, "so soll
mirs lieb sein. Eine Stunde weit werdet Ihr freilich gehen müssen, aber was macht
Euch das aus! Dort die Äpfel und Birnen müsst Ihr auch tragen."
Es kam dem jungen Grafen doch ein wenig bedenklich vor, als er von einer Stunde Wegs
hörte, aber die Alte liess ihn nicht wieder los, packte ihm das Tragtuch auf den Rücken
und hing ihm die beiden Körbe an den Arm. "Seht Ihr, es geht ganz leicht",
sagte sie. "Nein, es geht nicht leicht", antwortete der Graf und machte ein
schmerzliches Gesicht, "der Bündel drückt ja so schwer, als wären lauter
Wackersteine darin, und die Äpfel und Birnen haben ein Gewicht, als wären sie von Blei;
ich kann kaum atmen." Er hatte Lust, alles wieder abzulegen, aber die Alte liess es
nicht zu. "Seht einmal", sprach sie spöttisch, "der junge Herr will nicht
tragen, was ich alte Frau schon so oft fortgeschleppt habe. Mit schönen Worten sind sie
bei der Hand, aber wenns Ernst wird, so wollen sie sich aus dem Staub machen. Was
steht Ihr da", fuhr sie fort, "und zaudert, hebt die Beine auf. Es nimmt Euch
niemand den Bündel wieder ab." Solange er auf ebener Erde ging, wars noch
auszuhalten, aber als sie an den Berg kamen und steigen mussten, und die Steine hinter
seinen Füssen hinabrollten, als wären sie lebendig, da gings über seine Kräfte. Die
Schweisstropfen standen ihm auf der Stirne und liefen ihm bald heiss, bald kalt über den
Rücken hinab. "Mütterchen", sagte er, "ich kann nicht weiter, ich will
ein wenig ruhen."
"Nichts da", antwortete die Alte, "wenn wir angelangt sind, so könnt
Ihr ausruhen, aber jetzt müsst Ihr vorwärts. Wer weiss, wozu Euch das gut ist."
"Alte, du wirst unverschämt", sagte der Graf und wollte das Tragtuch abwerfen,
aber er bemühte sich vergeblich: es hing so fest an seinem Rücken, als wenn es
angewachsen wäre. Er drehte und wendete sich, aber er konnte es nicht wieder loswerden.
Die Alte lachte dazu und sprang ganz vergnügt auf ihrer Krücke herum. "Erzürnt
Euch nicht, lieber Herr", sprach sie, "Ihr werdet ja so rot im Gesicht wie ein
Zinshahn. Tragt Euren Bündel mit Geduld, wenn wir zu Hause angelangt sind, so will ich
Euch schon ein gutes Trinkgeld geben." Was wollte er machen? Er musste sich in sein
Schicksal fügen und geduldig hinter der Alten herschleichen. Sie schien immer flinker zu
werden und ihm seine Last immer schwerer.
Auf einmal tat sie einen Satz, sprang auf das Tragtuch und setzte sich oben darauf; wie
zaundürre sie war, so hatte sie doch mehr Gewicht als die dickste Bauerndirne. Dem
Jünglinge zitterten die Knie, aber wenn er nicht fortging, so schlug ihn die Alte mit
einer Gerte und mit Brennesseln auf die Beine. Unter beständigem Ächzen stieg er den
Berg hinauf und langte endlich bei dem Haus der Alten an, als er eben niedersinken wollte.
Als die Gänse die Alte erblickten, streckten sie die Flügel in die Höhe und die Hälse
voraus, liefen ihr entgegen und schrien ihr "Wulle, wulle." Hinter der Herde mit
einer Rute in der Hand ging eine bejahrte Trulle, stark und gross, aber hässlich wie die
Nacht. "Frau Mutter", sprach sie zur Alten, "ist Euch etwas begegnet? Ihr
seid so lange ausgeblieben."
"Bewahre, mein Töchterchen", erwiderte sie, "mir ist nichts Böses
begegnet, im Gegenteil, der liebe Herr da hat mir meine Last getragen; denk dir, als ich
müde war, hat er mich selbst noch auf den Rücken genommen. Der Weg ist uns auch gar
nicht lang geworden, wir sind lustig gewesen und haben immer Spass miteinander
gemacht." Endlich rutschte die Alte herab, nahm dem jungen Mann den Bündel vom
Rücken und die Körbe vom Arm, sah ihn ganz freundlich an und sprach: "Nun setzte
Euch auf die Bank vor die Türe und ruht Euch aus. Ihr habt Euern Lohn redlich verdient,
der soll auch nicht ausbleiben"
Dann sprach sie zu der Gänsehirtin: "Geh du ins Haus hinein, mein Töchterchen,
es schickt sich nicht, dass du mit einem jungen Herrn allein bist, man muss nicht Öl ins
Feuer giessen; er könnte sich in dich verlieben." Der Graf wusste nicht, ob er
weinen oder lachen sollte. "Solch ein Schätzchen", dachte er, "und wenn es
dreissig Jahre jünger wäre, könnte doch mein Herz nicht rühren. " Indessen
hätschelte und streichelte die Alte ihre Gänse wie Kinder und ging dann mit ihrer
Tochter in das Haus. Der Jüngling streckte sich auf die Bank unter einem wilden
Apfelbaum. Die Luft war lau und mild; ringsumher breitete sich eine grüne Wiese aus, die
mit Himmelschlüsseln, wildem Thymian und tausend andern Blumen übersät war; mittendurch
rauschte ein klarer Bach, auf dem die Sonne glitzerte; und die weissen Gänse gingen auf
und ab spazieren oder puderten sich im Wasser. "Es ist recht lieblich hier",
sagte er, "aber ich bin so müde, dass ich die Augen nicht aufbehalten mag: ich will
ein wenig schlafen. Wenn nur kein Windstoss kommt und bläst mir meine Beine vom Leib weg,
denn sie sind mürb wie Zunder."
Als er ein Weilchen geschlafen hatte, kam die Alte und schüttelte ihn wach. "Steh
auf ", sagte sie, "hier kannst du nicht bleiben. Freilich habe ich dirs
sauer genug gemacht, aber das Leben hats doch nicht gekostet. Jetzt will ich dir
deinen Lohn geben, Geld und Gut brauchst du nicht, da hast du etwas anderes." Damit
steckte sie ihm ein Büchslein in die Hand, das aus einem einzigen Smaragd geschnitten
war. "Bewahrs wohl", setzte sie hinzu, "es wird dir Glück
bringen." Der Graf sprang auf, und da er fühlte, dass er ganz frisch und wieder bei
Kräften war, so dankte er der Alten für ihr Geschenk und machte sich auf den Weg, ohne
nach dem schönen Töchterchen auch nur einmal umzublicken.
Als er schon eine Strecke weg war, hörte er noch aus der Ferne das lustige Geschrei
der Gänse. Der Graf musste drei Tage in der Wildnis herumirren, ehe er sich herausfinden
konnte. Da kam er in eine grosse Stadt, und weil ihn niemand kannte, ward er in das
königliche Schloss geführt, wo der König und die Königin auf dem Thron sassen. Der
Graf liess sich auf ein Knie nieder, zog das smaragdene Gefäss aus der Tasche und legte
es der Königin zu Füssen. Sie hiess ihn aufstehen, und er musste ihr das Büchslein
hinaufreichen. Kaum aber hatte sie es geöffnet und hineingeblickt, so fiel sie wie tot
zur Erde. Der Graf ward von den Dienern des Königs festgehalten und sollte in das
Gefängnis geführt werden, da schlug die Königin die Augen auf und rief, sie sollten ihn
freilassen, und jedermann sollte hinausgehen, sie wollte insgeheim mit ihm reden.
Als die Königin allein war, fing sie bitterlich an zu weinen und sprach: "Was
hilft mir Glanz und Ehre, die mich umgeben, jeden Morgen erwache ich mit Sorgen und
Kummer. Ich habe drei Töchter gehabt, davon war die jüngste so schön, dass sie alle
Welt für ein Wunder hielt. Sie war so weiss wie Schnee, so rot wie Apfelblüte, und ihr
Haar so glänzend wie Sonnenstrahlen. Wenn sie weinte, so fielen nicht Tränen aus ihren
Augen, sondern lauter Perlen und Edelsteine. Als sie fünfzehn Jahre alt war, da liess der
König alle drei Schwestern vor seinen Thron kommen. Da hättet Ihr sehen sollen, was die
Leute für Augen machten, als die jüngste eintrat, es war als wenn die Sonne aufging. Der
König sprach: "Meine Töchter, ich weiss nicht, wann mein letzter Tag kommt, ich
will heute bestimmen, was eine jede nach meinem Tode erhalten soll. Ihr alle habt mich
lieb, aber welche mich von euch am liebsten hat, die soll das Beste haben." Jede
sagte, sie hätte ihn am liebsten. "Könnt ihr mirs nicht ausdrücken",
erwiderte der König, "wie lieb ihr mich habt? Daran werde ichs sehen, wie
ihrs meint." Die älteste sprach: "Ich habe den Vater so lieb wie den
süssesten Zucker." Die zweite: "Ich habe den Vater so lieb wie mein schönstes
Kleid." Die jüngste aber schwieg. Da fragte der Vater: "Und du, mein liebstes
Kind, wie lieb hast du mich?"
"Ich weiss es nicht", antwortete sie, "und kann meine Liebe mit nichts
vergleichen." Aber der Vater bestand darauf, sie müsste etwas nennen. Da sagte sie
endlich: "Die beste Speise schmeckt mir nicht ohne Salz, darum habe ich den Vater so
lieb wie Salz." Als der König das hörte, geriet er in Zorn und sprach: "Wenn
du mich so liebst als Salz, so soll deine Liebe auch mit Salz belohnt werden." Da
teilte er das Reich zwischen den beiden ältesten, der jüngsten aber liess er einen Sack
mit Salz auf den Rücken binden, und zwei Knechte mussten sie hinaus in den wilden Wald
führen. Wir haben alle für sie gefleht und gebeten", sagte die Königin, "aber
der Zorn des Königs war nicht zu erweichen. Wie hat sie geweint, als sie uns verlassen
musste! Der ganze Weg ist mit Perlen besät worden, die ihr aus den Augen geflossen sind.
Den König hat bald hernach seine grosse Härte gereut, und hat das arme Kind in dem
ganzen Wald suchen lassen, aber niemand konnte sie finden. Wenn ich denke, dass sie die
wilden Tiere gefressen haben, so weiss ich mich vor Traurigkeit nicht zu fassen; manchmal
tröste ich mich mit der Hoffnung, sie sei noch am Leben und habe sich in einer Höhle
versteckt oder bei mitleidigen Menschen Schutz gefunden. Aber stellt Euch vor, als ich
Euer Smaragdbüchslein aufmachte, so lag eine Perle darin, gerade der Art, wie sie meiner
Tochter aus den Augen geflossen sind, und da könnt Ihr Euch vorstellen, wie mir der
Anblick das Herz bewegt hat. Ihr sollt mir sagen, wie Ihr zu der Perle gekommen
seid."
Der Graf erzählte ihr, dass er sie von der Alten im Walde erhalten hätte, die ihm
nicht geheuer vorgekommen wäre und eine Hexe sein müsste; von ihrem Kinde aber hätte er
nichts gehört und gesehen. Der König und die Königin fassten den Entschluss, die Alte
aufzusuchen; sie dachten, wo die Perle gewesen wäre, da müssten sie auch Nachricht von
ihrer Tochter finden. Die Alte sass draussen in der Einöde bei ihrem Spinnrad und spann.
Es war schon dunkel geworden, und ein Span, der unten am Herd brannte, gab ein sparsames
Licht. Auf einmal wards draussen laut, die Gänse kamen heim von der Weide und
liessen ihr heiseres Gekreisch hören. Bald hernach trat auch die Tochter herein. Aber die
Alte dankte ihr kaum und schüttelte nur ein wenig mit dem Kopf. Die Tochter setzte sich
nieder, nahm ihr Spinnrad und drehte den Faden so flink wie ein junges Mädchen. So sassen
beide zwei Stunden, und sprachen kein Wort miteinander. Endlich raschelte etwas am Fenster
und zwei feurige Augen glotzten herein. Es war eine alte Nachteule, die dreimal
"uhu" schrie. Die Alte schaute nur ein wenig in die Höhe, dann sprach sie:
"Jetzt ists Zeit, Töchterchen, dass du hinausgehst, tu deine Arbeit."
Sie stand auf und ging hinaus. "Wo ist sie denn hingegangen?" Über die
Wiesen immer weiter bis in das Tal. Endlich kam sie zu einem Brunnen, bei dem drei alte
Eichbäume standen. Der Mond war indessen rund und gross über dem Berg aufgestiegen, und
es war so hell, dass man eine Stecknadel hätte finden können. Sie zog eine Haut ab, die
auf ihrem Gesicht lag, bückte sich dann zu dem Brunnen und fing an sich zu waschen. Als
sie fertig war, tauchte sie auch die Haut in das Wasser und legte sie dann auf die Wiese,
damit sie wieder im Mondschein bleichen und trocknen sollte. Aber wie war das Mädchen
verwandelt! So was habt ihr nie gesehen! Als der graue Zopf abfiel, da quollen die
goldenen Haare wie Sonnenstrahlen hervor und breiteten sich, als wärs ein Mantel, über
ihre ganze Gestalt. Nur die Augen blitzten heraus so glänzend wie die Sterne am Himmel,
und die Wangen schimmerten in sanfter Röte wie die Apfelblüte.
Aber das schöne Mädchen war traurig. Es setzte sich nieder und weinte bitterlich.
Eine Träne nach der andern drang aus seinen Augen und rollte zwischen den langen Haaren
auf den Boden. So sass es da und wäre lange sitzen geblieben, wenn es nicht in den Ästen
des nahestehenden Baumes geknittert und gerauscht hätte. Sie sprang auf wie ein Reh, das
den Schuss des Jägers vernimmt. Der Mond ward gerade von einer schwarzen Wolke bedeckt,
und im Augenblick war das Mädchen wieder in die alte Haut geschlüpft, und verschwand wie
ein Licht, das der Wind ausbläst.
Zitternd wie ein Espenlaub lief sie zu dem Haus zurück. Die Alte stand vor der Türe,
und das Mädchen wollte ihr erzählen, was ihm begegnet war, aber die Alte lachte
freundlich und sagte: "Ich weiss schon alles." Sie führte es in die Stube und
zündete einen neuen Span an. Aber sie setzte sich nicht wieder zu dem Spinnrad, sondern
sie holte einen Besen und fing an zu kehren und zu scheuern. "Es muss alles rein und
sauber sein", sagte sie zu dem Mädchen. "Aber, Mutter", sprach das
Mädchen, "warum fangt Ihr in so später Stunde die Arbeit an? Was habt Ihr
vor!"
"Weisst du denn, welche Stunde es ist?" fragte die Alte. "Noch nicht
Mitternacht", antwortete das Mädchen, "aber schon elf Uhr vorbei."
"Denkst du nicht daran", fuhr die Alte fort, "dass du heute vor drei Jahren
zu mir gekommen bist? Deine Zeit ist aus, wir können nicht länger beisammen
bleiben." Das Mädchen erschrak und sagte: "Ach, liebe Mutter, wollt Ihr mich
verstossen? Wo soll ich hin? Ich habe keine Freunde und keine Heimat, wohin ich mich
wenden kann. Ich habe alles getan, was Ihr verlangt habt, und Ihr seid immer zufrieden mit
mir gewesen: schickt mich nicht fort." Die Alte wollte dem Mädchen nicht sagen, was
ihm bevorstand. "Meines Bleibens ist nicht länger hier", sprach sie zu ihm,
"wenn ich aber ausziehe, muss Haus und Stube sauber sein: darum halt mich nicht auf
in meiner Arbeit. Deinetwegen sei ohne Sorgen, du sollst ein Dach finden, unter dem du
wohnen kannst, und mit dem Lohn, den ich dir geben will, wirst du auch zufrieden
sein."
"Aber sagt mir nur, was ist vor?" fragte das Mädchen weiter. "Ich sage
dir nochmals, störe mich nicht in meiner Arbeit. Rede kein Wort weiter, geh in deine
Kammer, nimm die Haut vom Gesicht und zieh das seidene Kleid an, das du trugst, als du zu
mir kamst, und dann harre in deiner Kammer, bis ich dich rufe." Aber ich muss wieder
von dem König und der Königin erzählen, die mit dem Grafen ausgezogen waren und die
Alte in der Einöde aufsuchen wollten.
Der Graf war nachts in dem Walde von ihnen abgekommen, und musste allein weitergehen.
Am andern Tag kam es ihm vor, als befände er sich auf dem rechten Weg. Er ging immer
fort, bis die Dunkelheit einbrach, da stieg er auf einen Baum und wollte da übernachten,
denn er war besorgt, er möchte sich verirren. Als der Mond die Gegend erhellte, so
erblickte er eine Gestalt, die den Berg herabwandelte. Sie hatte keine Rute in der Hand,
aber er konnte doch sehen, dass es die Gänsehirtin war, die er früher bei dem Haus der
Alten gesehen hatte. "Oho!" rief er, "da kommt sie, und habe ich erst die
eine Hexe, so soll mir die andere auch nicht entgehen." Wie erstaunte er aber, als
sie zu dem Brunnen trat, die Haut ablegte und sich wusch, als die goldenen Haare über sie
herabfielen, und sie so schön war, wie er noch niemand auf der Welt gesehen hatte. Kaum
dass er zu atmen wagte, aber er streckte den Hals zwischen dem Laub so weit vor, als er
nur konnte, und schaute sie mit unverwandten Blicken an.
Ob er sich zu weit überbog , oder sonst schuld war, plötzlich krachte der Ast, und in
demselben Augenblick schlüpfte das Mädchen in die Haut, sprang wie ein Reh davon, und da
der Mond sich zugleich bedeckte, so war sie seinen Blicken entzogen. Kaum war sie
verschwunden, so stieg der Graf von dem Baum herab und eilte ihr mit behenden Schritten
nach.
Er war noch nicht lange gegangen, so sah er in der Dämmerung zwei Gestalten über die
Wiese wandeln. Es war der König und die Königin, die hatten aus der Ferne das Licht in
dem Häuschen der Alten erblickt und waren drauf zugegangen. Der Graf erzählte ihnen, was
er für Wunderdinge bei dem Brunnen gesehen hätte, und sie zweifelten nicht, dass das
ihre verlorene Tochter gewesen wäre. Voll Freude gingen sie weiter und kamen bald bei dem
Häuschen an; die Gänse sassen ringsherum, hatten den Kopf in die Flügel gesteckt und
schliefen, und keine regte sich. Sie schauten zum Fenster hinein, da sass die Alte ganz
still und spann, nickte mit dem Kopf und sah sich nicht um. Es war ganz sauber in der
Stube, als wenn da die kleinen Nebelmännlein wohnten, die keinen Staub auf den Füssen
tragen. Ihre Tochter aber sahen sie nicht. Sie schauten das alles eine Zeitlang an,
endlich fassten sie sich ein Herz und klopften leise ans Fenster. Die Alte schien sie
erwartet zu haben, sie stand auf und rief ganz freundlich: "Nur herein, ich kenne
euch schon." Als sie in die Stube eingetreten waren, sprach die Alte: "Den
weiten Weg hättet ihr euch sparen können, wenn ihr euer Kind, das so gut und liebreich
ist, nicht vor drei Jahren ungerechterweise verstossen hättet. Ihr hats nichts
geschadet, sie hat drei Jahre lang die Gänse hüten müssen: sie hat nichts Böses dabei
gelernt, sondern ihr reines Herz behalten. Ihr aber seid durch die Angst, in der ihr
gelebt habt, hinlänglich gestraft."
Dann ging sie an die Kammer und rief: "Komm heraus, mein Töchterchen." Da
ging die Türe auf, und die Königstochter trat heraus in ihrem seidenen Gewand mit ihren
goldenen Haaren und ihren leuchtenden Augen, und es war, als ob ein Engel vom Himmel
käme. Sie ging auf ihren Vater und ihre Mutter zu, fiel ihnen um den Hals und küsste
sie; es war nicht anders, sie mussten alle vor Freude weinen. Der junge Graf stand neben
ihnen, und als sie ihn erblickte, ward sie so rot im Gesicht wie eine Moosrose; sie wusste
selbst nicht warum. Der König sprach: "Liebes Kind, mein Königreich habe ich
verschenkt, was soll ich dir geben?"
"Sie braucht nichts", sagte die Alte, "ich schenke ihr die Tränen, die
sie um euch geweint hat, das sind lauter Perlen, schöner, als sie im Meer gefunden
werden, und sind mehr wert als euer ganzes Königreich. Und zum Lohn für ihre Dienste
gebe ich ihr mein Häuschen." Als die Alte das gesagt hatte, verschwand sie vor ihren
Augen. Es knatterte ein wenig in den Wänden, und als sie sich umsahen, war das Häuschen
in einen prächtigen Palast verwandelt, und eine königliche Tafel war gedeckt, und die
Bedienten liefen hin und her.
Die Geschichte geht noch weiter, aber meiner Grossmutter, die sie mir erzählt hat, war
das Gedächtnis schwach geworden: sie hatte das übrige vergessen. Ich glaube immer, die
schöne Königstochter ist mit dem Grafen vermählt worden, und sie sind zusammen in dem
Schloss geblieben und haben da in aller Glückseligkeit gelebt, solange Gott wollte. Ob
die schneeweissen Gänse, die bei dem Häuschen gehütet wurden, lauter Mädchen waren (es
brauchts niemand übelzunehmen), welche die Alte zu sich genommen hatte, und ob sie
jetzt ihre menschliche Gestalt wieder erhielten und als Dienerinnen bei der jungen
Königin blieben, das weiss ich nicht genau, aber ich vermute es doch. Soviel ist gewiss,
dass die Alte keine Hexe war, wie die Leute glaubten, sondern eine weise Frau, die es gut
meinte. Wahrscheinlich ist sie es auch gewesen, die der Königstochter schon bei der
Geburt die Gabe verliehen hat, Perlen zu weinen statt der Tränen. Heutzutage kommt das
nicht mehr vor, sonst könnten die Armen bald reich werden.
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