Der starke Hans KHM 166 (1857)
Märchentyp AT: 301A, 650A
Es war einmal ein Mann und eine Frau, die hatten nur ein einziges Kind und lebten in
einem abseits gelegenen Tale ganz allein. Es trug sich zu, dass die Mutter einmal ins Holz
ging, Tannenreiser zu lesen, und den kleinen Hans, der erst zwei Jahre alt war, mitnahm.
Da es gerade in der Frühlingszeit war und das Kind seine Freude an den bunten Blumen
hatte, so ging sie immer weiter mit ihm in den Wald hinein.
Plötzlich sprangen aus dem Gebüsch zwei Räuber hervor, packten die Mutter und das
Kind und führten sie tief in den schwarzen Wald, wo jahraus, jahrein kein Mensch hinkam.
Die arme Frau bat die Räuber inständig, sie mit ihrem Kinde freizulassen, aber das Herz
der Räuber war von Stein: sie hörten nicht auf ihr Bitten und Flehen und trieben sie mit
Gewalt an, weiterzugehen. Nachdem sie etwa zwei Stunden durch Stauden und Dörner sich
hatten durcharbeiten müssen, kamen sie zu einem Felsen, wo eine Türe war, an welche die
Räuber klopften, und die sich alsbald öffnete. Sie mussten durch einen langen dunkelen
Gang und kamen endlich in eine grosse Höhle, die von einem Feuer, das auf dem Herd
brannte, erleuchtet war. An der Wand hingen Schwerter, Säbel und andere Mordgewehre, die
in dem Lichte blinkten, und in der Mitte stand ein schwarzer Tisch, an dem vier andere
Räuber sassen und spielten, und obenan sass der Hauptmann. Dieser kam, als er die Frau
sah, herbei, redete sie an und sagte, sie sollte nur ruhig und ohne Angst sein, sie täten
ihr nichts zuleid, aber sie müsste das Hauswesen besorgen, und wenn sie alles in Ordnung
hielte, so sollte sie es nicht schlimm bei ihnen haben. Darauf gaben sie ihr etwas zu
essen und zeigten ihr ein Bett, wo sie mit ihrem Kinde schlafen könnte.
Die Frau blieb viele Jahre bei den Räubern, und Hans ward gross und stark. Die Mutter
erzählte ihm Geschichten und lehrte ihn in einem alten Ritterbuch, das sie in der Höhle
fand, lesen. Als Hans neun Jahr alt war, machte er sich aus einem Tannenast einen starken
Knüttel und versteckte ihn hinter das Bett; dann ging er zu seiner Mutter und sprach:
"Liebe Mutter, sage mir jetzt einmal, wer mein Vater ist, ich will und muss es
wissen." Die Mutter schwieg still und wollte es ihm nicht sagen, damit er nicht das
Heimweh bekäme; sie wusste auch, dass die gottlosen Räuber den Hans doch nicht
fortlassen würden; aber es hätte ihr fast das Herz zersprengt, dass Hans nicht sollte zu
seinem Vater kommen.
In der Nacht, als die Räuber von ihrem Raubzug heimkehrten, holte Hans seinen Knüttel
hervor, stellte sich vor den Hauptmann und sagte: "Jetzt will ich wissen, wer mein
Vater ist, und wenn du mirs nicht gleich sagst, so schlag ich dich nieder." Da lachte
der Hauptmann und gab dem Hans eine Ohrfeige, dass er unter den Tisch kugelte. Hans machte
sich wieder auf, schwieg und dachte: "Ich will noch ein Jahr warten und es dann noch
einmal versuchen, vielleicht gehts besser."
Als das Jahr herum war, holte er seinen Knüttel wieder hervor, wischte den Staub ab,
betrachtete ihn und sprach: "Es ist ein tüchtiger wackerer Knüttel." Nachts
kamen die Räuber heim, tranken Wein, einen Krug nach dem andern, und fingen an die Köpfe
zu hängen. Da holte der Hans seinen Knüttel herbei, stellte sich wieder vor den
Hauptmann und fragte ihn, wer sein Vater wäre. Der Hauptmann gab ihm abermals eine so
kräftige Ohrfeige, dass Hans unter den Tisch rollte, aber es dauerte nicht lange, so war
er wieder oben und schlug mit seinem Knüttel auf den Hauptmann und die Räuber, dass sie
Arme und Beine nicht mehr regen konnten. Die Mutter stand in einer Ecke und war voll
Verwunderung über seine Tapferkeit und Stärke. Als Hans mit seiner Arbeit fertig war,
ging er zu seiner Mutter und sagte: "Jetzt ist mirs Ernst gewesen, aber jetzt muss
ich auch wissen, wer mein Vater ist."
"Lieber Hans", antwortete die Mutter, "komm, wir wollen gehen und ihn
suchen, bis wir ihn finden." Sie nahm dem Hauptmann den Schlüssel zu der
Eingangstür ab, und Hans holte einen grossen Mehlsack, packte Gold, Silber, und was er
sonst noch für schöne Sachen fand, zusammen, bis er voll war, und nahm ihn dann auf den
Rücken. Sie verliessen die Höhle, aber was tat Hans die Augen auf, als er aus der
Finsternis heraus in das Tageslicht kam, und den grünen Wald, Blumen und Vögel und die
Morgensonne am, Himmel anblickte. Er stand da und staunte alles an, als wenn er nicht
recht gescheit wäre.
Die Mutter suchte den Weg nach Haus, und als sie ein paar. Stunden gegangen waren, so
kamen sie glücklich in ihr einsames Tal und zu ihrem Häuschen. Der Vater sass unter der
Türe, er weinte vor Freude, als er seine Frau erkannte, und hörte, dass Hans sein Sohn
war, die er beide längst für tot gehalten hatte. Aber Hans, obgleich erst zwölf Jahr
alt, war doch einen Kopf grösser als sein Vater. Sie gingen zusammen in das Stübchen,
aber kaum hatte Hans seinen Sack auf die Ofenbank gesetzt, so fing das ganze Haus an zu
krachen, die Bank brach ein und dann auch der Fussboden, und der schwere Sack sank in den
Keller hinab. "Gott behüte uns", rief der Vater, "was ist das? jetzt hast
du unser Häuschen zerbrochen."
"Lasst Euch keine grauen Haare darüber wachsen, lieber Vater", antwortete
Hans, "da in dem Sack steckt mehr, als für ein neues Haus nötig ist." Der
Vater und Hans fingen auch gleich an, ein neues Haus zu bauen, Vieh zu erhandeln und Land
zu kaufen und zu wirtschaften. Hans ackerte die Felder, und wenn er hinter dem Pflug ging
und ihn in die Erde hineinschob, so hatten die Stiere fast nicht nötig zu ziehen. Den
nächsten Frühling sagte Hans: "Vater, behaltet alles Geld und lasst mir einen
zentnerschweren Spazierstab machen, damit ich in die Fremde gehen kann."
Als der verlangte Stab fertig war, verliess er seines Vaters Haus, zog fort und kam in
einen tiefen und finstere Wald. Da hörte er etwas knistern und knastern, schaute um sich
und sah eine Tanne, die von unten bis oben wie ein Seil gewunden war; und wie er die Augen
in die Höhe richtete, so erblickte er einen grossen Kerl, der den Baum gepackt hatte und
ihn wie eine Weidenrute umdrehte. "He!" rief Hans, "was machst du da
droben?" Der Kerl antwortete: "Ich habe gestern Reiswellen zusammengetragen und
will mir ein Seil dazu drehen."
"Das lass ich mir gefallen", dachte Hans, "der hat Kräfte", und
rief ihm zu: "Lass du das gut sein und komm mit mir." Der Kerl kletterte von
oben herab und war einen ganzen Kopf grösser als Hans, und der war doch auch nicht klein.
"Du heissest jetzt Tannendreher", sagte Hans zu ihm. Sie gingen darauf weiter
und hörten etwas klopfen und hämmern, so stark, dass bei jedem Schlag der Erdboden
zitterte. Bald darauf kamen sie zu einem mächtigen Felsen, vor dem stand ein Riese und
schlug mit der Faust grosse Stücke davon ab. Als Hans fragte, was er da vorhätte,
antwortete er: "Wenn ich nachts schlafen will, so kommen Bären, Wölfe und anderes
Ungeziefer der Art, die schnuppern und schnuffeln an mir herum und lassen mich nicht
schlafen, da will ich mir ein Haus bauen und mich hineinlegen, damit ich Ruhe habe."
"Ei ja wohl", dachte Hans, "den kannst du auch noch brauchen", und
sprach zu ihm "lass das Hausbauen gut sein und geh mit mir, du sollst der
Felsenklipperer heissen!" Er willigte ein, und sie strichen alle drei durch den Wald
hin, und wo sie hinkamen, da wurden die wilden Tiere aufgeschreckt und liefen vor ihnen
weg. Abends kamen sie in ein altes verlassenes Schloss, stiegen hinauf und legten sich in
den Saal schlafen.
Am andere Morgen ging Hans hinab in den Garten, der war ganz verwildert und stand voll
Dörner und Gebüsch. Und wie er so herumging, sprang ein Wildschwein auf ihn los; er gab
ihm aber mit seinem Stab einen Schlag, dass es gleich niederfiel. Dann nahm er es auf die
Schulter und brachte es hinauf; da steckten sie es an einen Spiess, machten sich einen
Braten zurecht und waren guter Dinge. Nun verabredeten sie, dass jeden Tag, der Reihe
nach, zwei auf die Jagd gehen sollten und einer daheim bleiben und kochen, für jeden neun
Pfund Fleisch.
Den ersten Tag blieb der Tannendreher daheim, und Hans und der Felsenklipperer gingen
auf die Jagd. Als der Tannendreher beim Kochen beschäftigt war, kam ein kleines altes
zusammengeschrumpeltes Männchen zu ihm auf das Schloss und forderte Fleisch. "Pack
dich, Duckmäuser", antwortete er, "du brauchst kein Fleisch." Aber wie
verwunderte sich der Tannendreher, als das kleine unscheinbare Männlein an ihm
hinaufsprang und mit Fäusten so auf ihn losschlug, dass er sich nicht wehren konnte, zur
Erde fiel und nach Atem schnappte. Das Männlein ging nicht eher fort, als bis es seinen
Zorn völlig an ihm ausgelassen hatte.
Als die zwei andern von der Jagd heimkamen, sagte ihnen der Tannendreher nichts von dem
alten Männchen und den Schlägen, die er bekommen hatte, und dachte: "Wenn sie
daheim bleiben, so können sies auch einmal mit der kleinen Kratzbürste versuchen",
und der blosse Gedanke machte ihm schon Vergnügen. Den folgenden Tag blieb der
Steinklipperer daheim, und dem ging es gerade so wie dem Tannendreher, er ward von dem
Männlein übel zugerichtet, weil er ihm kein Fleisch hatte geben wollen.
Als die andern abends nach Haus kamen, sah es ihm der Tannendreher wohl an, was er
erfahren hatte, aber beide schwiegen still und dachten: "Der Hans, der muss auch von
der Suppe kosten." Der Hans, der den nächsten Tag daheim bleiben musste, tat seine
Arbeit in der Küche, wie sichs gebührte, und als er oben stand und den Kessel
abschaumte, kam das Männchen und forderte ohne weiteres ein Stück Fleisch. Da dachte
Hans: "Es ist ein armer Wicht, ich will ihm von meinem Anteil geben, damit die andern
nicht zu kurz kommen", und reichte ihm ein Stück Fleisch. Als es der Zwerg verzehrt
hatte, verlangte er nochmals Fleisch, und der gutmütige Hans gab es ihm und sagte, da
wäre noch ein schönes Stück, damit sollte er zufrieden sein. Der Zwerg forderte aber
zum drittenmal. "Du wirst unverschämt", sagte Hans und gab ihm nichts. Da
wollte der boshafte Zwerg an ihm hinaufspringen und ihn wie den Tannendreher und
Felsenklipperer behandeln, aber er kam an den unrechten. Hans gab ihm, ohne sich
anzustrengen, ein paar Hiebe, dass er die Schlosstreppe hinabsprang. Hans wollte ihm
nachlaufen, fiel aber, so lang er war, über ihn hin. Als er sich wieder aufgerichtet
hatte, war ihm der Zwerg voraus. Hans eilte ihm bis in den Wald nach und sah, wie er in
eine Felsenhöhle schlüpfte. Hans kehrte nun heim, hatte sich aber die Stelle gemerkt.
Die beiden andern, als sie nach Haus kamen, wunderten sich, dass Hans so wohlauf war.
Er erzählte ihnen, was sich zugetragen hatte, und da verschwiegen sie nicht länger, wie
es ihnen ergangen war. Hans lachte und sagte: "Es ist euch ganz recht, warum seid ihr
so geizig mit eurem Fleisch gewesen, aber es ist eine Schande, ihr seid so gross und habt
euch von dem Zwerge Schläge geben lassen."
Sie nahmen darauf Korb und Seil und gingen alle drei zu der Felsenhöhle, in welche der
Zwerg geschlüpft war, und liessen den Hans mit seinem Stab im Korb hinab. Als Hans auf
dem Grund angelangt war, fand er eine Türe, und als er sie öffnete, sass da eine
bildschöne Jungfrau, nein so schön, dass es nicht zu sagen ist, und neben ihr sass der
Zwerg und grinste den Hans an wie eine Meerkatze. Sie aber war mit Ketten gebunden und
blickte ihn so traurig an, dass Hans grosses Mitleid empfand und dachte: "Du musst
sie aus der Gewalt des bösen Zwerges erlösen", und gab ihm einen Streich mit seinem
Stab, dass er tot niedersank. Alsbald fielen die Ketten von der Jungfrau ab, und Hans war
wie verzückt über ihre Schönheit. Sie erzählte ihm, sie wäre eine Königstochter, die
ein wilder Graf aus ihrer Heimat geraubt und hier in den Felsen eingesperrt hätte, weil
sie nichts von ihm hätte wissen wollen; den Zwerg aber hätte der Graf zum Wächter
gesetzt, und er hätte ihr Leid und Drangsal genug angetan. Darauf setzte Hans die
Jungfrau in den Korb und liess sie hinaufziehen.
Der Korb kam wieder her ab, aber Hans traute den beiden Gesellen nicht und dachte
"sie haben sich schon falsch gezeigt und dir nichts von dem Zwerg gesagt, wer weiss,
was sie gegen dich im Schild führen." Da legte er seinen Stab in den Korb, und das
war sein Glück, denn als der Korb halb in der Höhe war, liessen sie ihn fallen, und
hätte Hans wirklich darin gesessen, so wäre es sein Tod gewesen. Aber nun wusste er
nicht, wie er sich aus der Tiefe herausarbeiten sollte, und wie er hin und her dachte, er
fand keinen Rat. "Es ist doch traurig", sagte er, "dass du da unten
verschmachten sollst." Und als er so auf- und abging, kam er wieder zu dem
Kämmerchen, wo die Jungfrau gesessen hatte, und sah, dass der Zwerg einen Ring am Finger
hatte, der glänzte und schimmerte. Da zog er ihn ab und steckte ihn an, und als er ihn am
Finger umdrehte, so hörte er plötzlich etwas über seinem Kopf rauschen. Er blickte in
die Höhe und sah da Luftgeister schweben, die sagten, er wäre ihr Herr, und fragten, was
sein Begehren wäre. Hans war anfangs ganz verstummt, dann aber sagte er, sie sollte ihn
hinauftragen. Augenblicklich gehorchten sie, und es war nicht anders, als flöge er
hinauf. Als er aber oben war, so war kein Mensch mehr zu sehen, und als er in das Schloss
ging, so fand er auch dort niemand. Der Tannendreher und der Felsenklipperer waren
fortgeeilt und hatten die schöne Jungfrau mitgeführt. Aber Hans drehte den Ring, da
kamen die Luftgeister und sagten ihm, die zwei wären auf dem Meer.
Hans lief und lief in einem fort, bis er zu dem Meeresstrand kam, da erblickte er weit
weit auf dem Wasser ein Schiffchen, in welchem seine treulosen Gefährten sassen. Und im
heftigen Zorn sprang er, ohne sich zu besinnen, mitsamt seinem Stab ins Wasser und fing an
zu schwimmen, aber der zentnerschwere Stab zog ihn tief hinab, dass er fast ertrunken
wäre. Da drehte er noch zu rechter Zeit den Ring, alsbald kamen die Luftgeister und
trugen ihn so schnell wie der Blitz in das Schiffchen. Da schwang er seinen Stab und gab
den bösen Gesellen den verdienten Lohn und warf sie hinab ins Wasser; dann aber ruderte
er mit der schönen Jungfrau, die in den grössten Ängsten gewesen war, und die er zum
zweiten Male befreit hatte, heim zu ihrem Vater und ihrer Mutter und ward mit ihr
verheiratet, und haben sich alle gewaltig gefreut.
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