Der Vogel Greif KHM 165 (1857)
Märchentyp AT: 570, 610
Es war einmal ein König - wo der regiert und wie er geheissen hat, weiss ich nimmer -
der hatte keinen Sohn , nur eine einzige Tochter, die war immer krank, und kein Doktor
konnte sie heilen. Da wurde dem König geweissagt, seine Tochter werde sich an Äpfeln
gesund essen. Da liess er durchs ganze Land bekannt machen: Wer seiner Tochter Äpfel
bringe, dass sie sich daran gesund essen könne, der bekäme sie zur Frau und würde
König werden. Das hörte auch ein Bauer, der drei Söhne hatte. Da sprach er zum
ältesten: "Geh auf den Speicher hinauf, nimm einen Handkorb voll von den schönsten
Äpfeln mit den roten Backen und trag sie zu Hof; vielleicht kann sich die Königstochter
gesund daran essen, und du darfst sie heiraten und wirst König."
Der Bursche machte es auch so und nahm den Weg unter die Füsse. Als er eine Zeitlang
gegangen war, begegnete er einem kleinen eisgrauen Männlein; da fragte ihn, was er im
Handkorb hätte. Da sagte Ulrich, denn so hiess er: "Froschschenkel." Das
Männlein sagte darauf: "Nun, so sollens welche sein und bleiben", und
ging weiter. Endlich kam Ulrich vors Schloss und liess sich anmelden: er habe Äpfel, die
die Tochter gesund machen würden, wenn sie davon ässe. Das freute den König gewaltig,
und er liess den Ulrich vor sich kommen. Aber, o weh! als er aufdeckte, hatte er statt
Äpfel Froschschenkel im Korb, die noch zappelten.
Darüber wurde der König böse und liess ihn zum Haus hinausjagen. Als er heimkam,
erzählte er dem Vater, wie es ihm ergangen war. Da schickte der Vater den
nächstältesten Sohn, der Samuel hiess; aber dem erging es genau so wie Ulrich. Es
begegnete ihm auch das kleine eisgraue Männlein, und das fragte ihn, was er da im Korbe
habe. Der Samuel sagte: "Schweineborsten"; und das eisgraue Männlein sagte:
"Nun, so sollens welche sein und bleiben." Als er nun vors Königsschloss
kam und sagte, er habe Äpfel, an denen sich die Königstochter gesund essen könne, so
wollten sie ihn nicht einlassen und sagten, es sei schon einer dagewesen und habe sie zum
Narren gehalten. Samuel aber bestand darauf, er habe gewiss Äpfel, sie sollten ihn nur
einlassen.
Endlich glaubten sie ihm und führten ihn vor den König. Aber als er seinen Korb
aufdeckte, so hatte er eben Schweinsborsten. Da wurde der König so furchtbar zornig, dass
er den Samuel aus dem Haus peitschen liess. Als er heimkam, erzählte er, wie es ihm
ergangen war. Da kam der jüngste Bub, den sie nur immer den dummen Hans nannten, und
fragte den Vater, ob er auch mit Äpfeln gehen dürfe. "Ja", sagte da der Vater,
"du wärst der rechte Kerl dazu! Wenn die Gescheiten nichts ausrichten, was wolltest
denn du ausrichten!" Der Bub liess aber nicht nach: "Doch Vater, ich will auch
gehen."
"Geh mir doch weg, du dummer Kerl, du musst warten, bis du gescheiter wirst",
sagte darauf der Vater und kehrte ihm den Rücken. Der Hans aber zupfte ihn hinten am
Kittel: "Doch, Vater, ich will auch gehen." "Nun, meinetwegen, so geh; du
wirst wohl wieder zurückkommen", gab der Vater unwirsch zur Antwort. Der Bub aber
freute sich sehr und sprang hochauf. "Ja, tu jetzt noch wie ein Narr; du wirst von
einem Tag zum andern immer dümmer", sagte der Vater wieder. Das machte aber dem Hans
nichts aus, und er liess sich in seiner Freude nicht stören. Weil es aber auf die Nacht
zuging, so dachte er, er wolle warten bis zum Morgen, er komme heute doch nimmer an den
Hof. Nachts im Bett konnte er nicht schlafen; und wenn er auch einmal eine Weile
eingeschlummert war, so träumte ihm von schönen Jungfrauen, von Schlössern, Gold und
Silber und allerhand solchen Sachen.
Morgens in der Frühe machte er sich auf den Weg, und gleich darauf begegnete ihm ein
kleines mürrisches Männchen in einem eisgrauen Gewand und fragte ihn, was er da im Korbe
hätte. Der Hans gab ihm zu Antwort, er habe Äpfel, an denen sich die Königstochter
gesund essen wolle. "Nun", sagte das Männlein, "so sollen es solche sein
und bleiben." Aber am Hofe wollten sie den Hans durchaus nicht einlassen; denn es
seien schon zwei dagewesen und hätten gesagt, sie brächten Äpfel, und da hätte der
eine Froschschenkel und der andere Schweineborsten gehabt. Der Hans aber liess nicht nach
mit Bitten, er habe gewiss keine Froschschenkel, sondern die schönsten Äpfel, die im
ganzen Königreich wüchsen. Weil er nun so treuherzig redete, so dachte der Torhüter,
der könne nicht lügen; sie liessen ihn also ein und hatten auch recht daran getan. Denn
als der Hans seinen Korb vor dem König aufdeckte, da lagen goldgelbe Äpfel darin. Der
König freute sich und liess gleich seiner Tochter davon bringen und harrte nun in banger
Erwartung, bis man ihm Bericht brächte, was sie für Wirkung getan hätten.
Aber nicht lange Zeit verging, so gab ihm jemand Bericht; aber wer ist es gewesen? Die
Tochter selbst! Sobald sie von den Äpfeln gegessen hatte, war sie gesund aus dem Bette
gesprungen. Was der König für eine Freude hatte, lässt sich gar nicht beschreiben. Aber
nun wollte er dem Hans die Tochter nicht zur Frau geben und sagte, er müsse ihm zuvor
noch einen Nachen machen, der auf dem trockenen Land noch besser ginge als im Wasser. Der
Hans nahm die Bedingung an und ging heim und erzählte, wie es ihm ergangen sei.
Da schickte der Vater den Ulrich ins Holz, um einen solchen Nachen zu machen. Er
arbeitete fleissig und pfiff dazu. Um Mittag, als die Sonne am höchsten stand, kam ein
kleines eisgraues Männlein und fragte, was er da mache. Der Ulrich gab ihm zur Antwort:
"Rührlöffel." Das eisgraue Männlein sagte: "Nun, so sollen's welche sein
und bleiben." Am Abend meinte Ulrich, er hätte jetzt einen Nachen gemacht; aber als
er sich hineinsetzen wollte, so waren's lauter Rührlöffel. Am andern Tag ging der Samuel
in den Wald; aber es ging ihm genauso wie dem Ulrich.
Am dritten Tag ging der dumme Hans. Er schaffte recht fleissig, so dass der ganze Wald
von seinen kräftigen Schlägen widerhallte; dazu sang und pfiff er recht lustig. Da kam
wieder das kleine Männlein zu Mittag, wo es am heissesten war, und fragte, was er da
mache. "Einen Nachen, der auf dem trockenen Land besser geht als auf dem
Wasser"; und wenn er damit fertig sei, so bekomme er die Königstochter zur Frau.
"Nun", sagte das Männlein, "dann soll es so einer werden und
bleiben." Am Abend, als die Sonne im Goldglanz unterging, war der Hans auch fertig
mit seinem Nachen und mit allem, was dazu gehörte. Er setzte sich hinein und ruderte der
Königsstadt zu. Der Nachen aber ging so geschwind wie der Wind. Der König sah es von
weitem, wollte aber dem Hans seine Tochter noch nicht geben und sagte, er müsse erst noch
hundert Hasen vom frühen Morgen bis zum späten Abend hüten; und wenn ihm einer
fortkäme, so bekomme er die Tochter nicht.
Der Hans war's zufrieden, und gleich am andern Tage ging er mit seiner Herde auf die
Weide und passte sehr genau auf, dass ihm keiner davonliefe. Es dauerte aber gar nicht
lange, so kam eine Magd vom Schloss und sagte zum Hans, er solle ihr geschwind einen Hasen
geben, sie hätten Besuch bekommen. Der Hans merkte aber wohl, wo das hinaus wollte, und
sagte, er gäbe keinen her; der König könne dann morgen seinem Besuch mit Hasenpfeffer
aufwerten. Die Magd aber liess nicht nach und am Ende fing sie an zu schimpfen. Da sagte
der Hans, wenn die Königstochter selber komme, so wolle er einen Hasen geben. Das sagte
die Magd im Schloss; und die Königstochter ging selbst. Unterdessen aber kam zum Hans
wieder das kleine Männlein und fragte ihn, was er da tue. Ha, er müsse da hundert Hasen
hüten, dass ihm keiner davonlaufe; und dann dürfe er die Königstochter heiraten und
wäre König. "Gut", sagte das Männlein; "da hast du ein Pfeifchen, und
wenn dir einer fortläuft, so pfeif nur, dann kommt er wieder zurück." Als nun die
Königstochter kam, gab ihr der Hans einen Hasen in die Schürze., Aber wie sie etwa
hundert Schritte weg war, pfiff der Hans, und der Hase sprang ihr aus der Schürze und
hast du nicht gesehen? wieder zu der Herde.
Als es nun Abend war, pfiff der Hasenhirt noch einmal und schaute, ob alle da seien,
und trieb sie dann zum Schloss. Der König wunderte sich, wie nur der Hans imstande
gewesen sei, hundert Hasen zu hüten, ohne dass ihm einer davongelaufen sei. Er wollte ihm
aber die Tochter trotzdem nicht geben und sagte, er müsse ihm erst noch eine Feder aus
dem Schwanz des Vogel Greif bringen.
Der Hans machte sich gleich auf den Weg und marschierte recht rüstig vorwärts. Am
Abend kam er zu einem Schloss; da fragte er um ein Nachtlager, denn damals gab es noch
keine Wirtshäuser. Da sagte ihm der Herr vom Schloss mit Freuden zu und fragt ihn, wohin
er wolle. Der Hans gab darauf zur Antwort: "Zum Vogel Greif." "So, zum
Vogel Greif? Man sagt immer, der wisse alles, und habe den Schlüssel zu einer eisernen
Geldkiste verloren, Ihr könnt doch so gut sein und ihn fragen, wo er sei." "Ja
freilich", sagte der Hans, "das will ich schon tun."
Am frühen Morgen ging er von dort weiter und kam unterwegs zu einem anderen Schloss,
in dem er wieder über Nacht blieb. Als die Leute dort vernahmen, dass er zum Vogel Greif
wolle, sagten sie, es sei im Hause eine Tochter krank, und sie hätten schon alle Mittel
gebraucht; aber es wolle keines anschlagen; er solle doch so gut sein und den Vogel Greif
fragen, was die Tochter wieder gesund machen könne. Der Hans sagte, das wolle er gerne
tun, und ging weiter.
Da kam er zu einem Wasser, und anstatt einer Fähre war da ein grosser, grosser Mann,
der alle Leute hinübertragen musste Der Mann fragte den Hans, wo seine Reise hinginge.
"Zum Vogel Greif", sagte der Hans. "Nun, wenn Ihr zu ihm kommt", sagte
da der Mann, "so fragt ihn auch, warum ich alle Leute über das Wasser tragen
muss." Da sagte der Hans: "Ja, bei Gott, ja, das will ich schon tun." Da
nahm ihn der Mann auf die Achsel und trug ihn hinüber. Endlich kam nun der Hans zum Haus
vom Vogel Greif; aber da war nur die Frau daheim, und der Vogel Greif selber nicht. Da
fragte ihn die Frau, was er wolle. Da erzählte ihr der Hans alles: dass er eine Feder
holen sollte aus dem Schwanz des Vogel Greif; und dann hätten sie in einem Schloss den
Schlüssel zu einer Geldkiste verloren, und er solle den Vogel Greif fragen, wo der
Schlüssel sei; dann sei in einem andern Schloss eine Tochter krank und er sollte wissen,
was die Tochter gesund machen könne; dann sei nicht weit von hier ein Wasser und ein Mann
dabei, der die Leute hinübertragen müsse, und er möchte gern wissen, warum dieser Mann
alle Leute hinübertragen müsse. Da sagte die Frau: "Ja schaut, mein guter Freund,
es kann kein Christ mit dem Vogel Greif reden, er frisst sie alle; wenn Ihr aber wollt, so
könnt Ihr Euch unter sein Bett legen, und zur Nacht, wenn er recht fest schläft, so
könnt Ihr dann herauflangen und ihm eine Feder aus dem Schwanz reissen; und wegen der
Sachen, die Ihr wissen solltet, will ich ihn selber fragen." Der Hans war das alles
zufrieden und legte sich unters Bett.
Am Abend kam der Vogel Greif heim und wie er in die Stube kam, so sagte er: "Frau,
da riecht's nach Mensch." "Ja", sagte da die Frau, "'s ist heut' einer
dagewesen, aber er ist wieder fort;" und da sagte der Vogel Greif nichts mehr. Mitten
in der Nacht, als der Vogel Greif recht schnarchte, langte Hans hinauf und riss ihm eine
Feder aus dem Schwanz. Da schreckte der Vogel Greif plötzlich auf und sagte: "Frau,
es riecht nach Mensch, und es ist mir, als habe mich jemand am Schwanz gezerrt." Da
sagte die Frau: "Du hast gewiss geträumt, und ich hab dir ja heut' schon gesagt, es
war ein Mensch da; aber er ist wieder fort. Der hat mir allerhand Sachen erzählt. Sie
hätten in einem Schloss den Schlüssel zu einer Geldkiste verloren und könnten ihn nicht
mehr finden."
"Oh, die Narren", sagte der Vogel Greif, "der Schlüssel liegt im
Holzhaus hinter der Tür unter einem Holzstoss." "Und dann hat er auch gesagt,
in einem Schloss sei eine Tochter krank, und sie wüssten kein Mittel, um sie gesund zu
machen." "Oh, die Narren", sagte der Vogel Greif, "unter der
Kellerstiege hat eine Kröte ein Nest von ihren Haaren gemacht, und wenn sie die Haare
wiederbekommt, so wird sie gesund." "Und dann hat er auch noch gesagt; es sei an
einem Ort ein Wasser und ein Mann dabei, der müsse alle Leute darübertragen."
"Oh, der Narr", sagte der Vogel Greif, "täte er nur einmal einen mitten
hineinstellen, er brauchte dann keinen mehr hinüberzutragen."
Am Morgen früh stand der Vogel Greif auf und ging fort. Da kam der Hans unter dem Bett
vor und hatte eine schöne Feder; auch hatte er gehört, was der Vogel Greif gesagt hatte
von dem Schlüssel und der Tochter und dem Manne. Die Frau vom Vogel Greif erzählte ihm
dann alles noch einmal, dass er nichts vergesse, und dann ging er wieder heimwärts.
Zuerst kam er zu dem Mann am Wasser. Der fragte ihn gleich, was der Vogel Greif gesagt
habe; da sagte der Hans, er solle ihn erst hinübertragen, er wolle es ihm dann drüben
sagen. Da trug ihn der Mann hinüber. Als er drüben war, sagte ihm der Hans, er sollte
nur einmal einen mitten hinein ins Wasser stellen, so müsste der dann keinen mehr
hinübertragen. Da freute sich der Mann sehr und sagte zum Hans, er wolle ihn zum Dank
noch einmal hin- und zurücktragen. Da sagte der Hans: nein, er wolle ihm die Mühe
ersparen, er sei so schon mit ihm zufrieden und ging weiter.
Da kam er zum Schloss, wo die Tochter krank war; die nahm er auf die Schulter, denn sie
konnte nicht laufen, und trug sie die Kellerstiege hinunter und nahm das Krötennest unter
der untersten Stufe vor und gab es der Tochter in die Hände: und die sprang ihm von der
Schulter herunter, und vor ihm die Stiege hinauf und war ganz gesund. Jetzt hatten der
Vater und die Mutter eine grosse Freude und machten dem Hans Geschenke von Gold und
Silber; und was er nur immer wollte, das gaben sie ihm.
Als nun der Hans in das andere Schloss kam, ging er gleich ins Holzhaus und fand
richtig hinter der Tür unter dem Holzstoss den Schlüssel und brachte ihn dem Herrn. Der
freute sich auch nicht wenig und gab dem Hans zur Belohnung viel von dem Gold, das in der
Kiste war, und sonst noch allerhand Sachen, wie Kühe und Schafe und Geissen. Als der Hans
zum König kam mit all' den Sachen, mit dem Geld und dem Gold und Silber, und den Kühen,
Schafen und Geissen, da fragte ihn der König, wo er nur das alles bekommen habe. Da sagte
der Hans, der Vogel Greif gebe einem, so viel man wolle. Da dachte der König, er könne
das auch brauchen, und machte sich auf den Weg zum Vogel Greif. Aber als er zu dem Wasser
kam, da war er eben der erste, der nach dem Hans kam, und der Mann stellte ihn mitten im
Wasser ab und ging fort. Und der König ertrank. Der Hans aber heiratete die Tochter und
wurde König.
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