Der gläserne Sarg KHM 163 (1857)
Märchentyp AT: 410
Sage niemand, dass ein armer Schneider es nicht weit bringen und nicht zu hohen Ehren
gelangen könne, es ist weiter gar nichts nötig, als dass er an die rechte Schmiede kommt
und, was die Hauptsache ist, dass es ihm glückt.
Ein solches artiges und behendes Schneiderbürschchen ging einmal seiner Wanderschaft
nach und kam in einen grossen Wald, und weil es den Weg nicht wusste, verirrte es sich.
Die Nacht brach ein, und es blieb ihm nichts übrig, als in dieser schauerlichen
Einsamkeit ein Lager zu suchen. Auf dem weichen Moose hätte er freilich ein gutes Bett
gefunden, allein die Furcht vor den wilden Tieren liess ihm da keine Ruhe, und er musste
sich endlich entschliessen, auf einem Baume zu übernachten. Er suchte eine hohe Eiche,
stieg bis in den Gipfel hinauf und dankte Gott, dass er sein Bügeleisen bei sich trug,
weil ihn sonst der Wind, der über die Gipfel der Bäume wehete, weggeführt hätte.
Nachdem er einige Stunden in der Finsternis, nicht ohne Zittern und Zagen, zugebracht
hatte, erblickte er in geringer Entfernung den Schein eines Lichtes; und weil er dachte,
dass da eine menschliche Wohnung sein möchte, wo er sich besser befinden würde als auf
den Ästen eines Baums, so stieg er vorsichtig herab und ging dem Lichte nach. Es leitete
ihn zu einem kleinen Häuschen, das aus Rohr und Binsen geflochten war. Er klopfte mutig
an, die Türe öffnete sich, und bei dem Scheine des herausfallenden Lichtes sah er ein
altes eisgraues Männchen, das ein von buntfarbigen Lappen zusammengesetztes Kleid
anhatte. "Wer seid Ihr, und was wollt Ihr?" fragte es mit einer schnarrenden
Stimme. "Ich bin ein armer Schneider", antwortete er, "den die Nacht hier
in der Wildnis überfallen hat, und bitte Euch inständig, mich bis morgen in Eurer Hütte
aufzunehmen."
"Geh deiner Wege", erwiderte der Alte mit mürrischem Tone, "mit
Landstreichern will ich nichts zu schaffen haben; suche dir anderwärts ein
Unterkommen." Nach diesen Worten wollte er wieder in sein Haus schlüpfen, aber der
Schneider hielt ihn am Rockzipfel fest und bat so beweglich, dass der Alte, der so böse
nicht war, als er sich anstellte, endlich erweicht ward und ihn mit in seine Hütte nahm,
wo er ihm zu essen gab und dann in einem Winkel ein ganz gutes Nachtlager anwies. Der
müde Schneider brauchte keines Einwiegens, sondern schlief sanft bis an den Morgen,
würde auch noch nicht an das Aufstehen gedacht haben, wenn er nicht von einem lauten
Lärm wäre aufgeschreckt worden. Ein heftiges Schreien und Brüllen drang durch die
dünnen Wände des Hauses. Der Schneider, den ein unerwarteter Mut überkam, sprang auf,
zog in der Hast seine Kleider an und eilte hinaus.
Da erblickte er nahe bei dem Häuschen einen grossen schwarzen Stier und einen schönen
Hirsch, die in dem heftigsten Kampfe begriffen waren. Sie gingen mit so grosser Wucht
aufeinander los, dass von ihrem Getrampel der Boden erzitterte, und die Luft von ihrem
Geschrei erdröhnte. Es war lange ungewiss, welcher von beiden den Sieg davontragen
würde; endlich stiess der Hirsch seinem Gegner das Geweih in den Leib, worauf der Stier
mit entsetzlichem Brüllen zur Erde sank, und durch einige Schläge des Hirsches völlig
getötet ward.
Der Schneider, welcher dem Kampf mit Erstaunen zugesehen hatte, stand noch unbeweglich
da, als der Hirsch in vollen Sprüngen auf ihn zueilte und ihn, ehe er entfliehen konnte,
mit seinem grossen Geweihe geradezu aufgabelte. Er konnte sich nicht lange besinnen, denn
es ging schnellen Laufes fort über Stock und Stein, Berg und Tal, Wiese und Wald. Er
hielt sich mit beiden Händen an den Enden des Geweihes fest und überliess sich seinem
Schicksal. Es kam ihm aber nicht anders vor, als flöge er davon.
Endlich hielt der Hirsch vor einer Felswand still und liess den Schneider sanft
herabfallen. Der Schneider, mehr tot als lebendig, bedurfte längere Zeit, um wieder zur
Besinnung zu kommen. Als er sich einigermassen erholt hatte, stiess der Hirsch, der neben
ihm stehen geblieben war, sein Geweih mit solcher Gewalt gegen eine in dem Felsen
befindliche Türe, dass sie aufsprang. Feuerflammen schlugen heraus, auf welche ein
grosser Dampf folgte, der den Hirsch seinen Augen entzog. Der Schneider wusste nicht, was
er tun und wohin er sich wenden sollte, um aus dieser Einöde wieder unter Menschen zu
gelangen.
Indem er also unschlüssig stand, tönte eine Stimme aus dem Felsen, die ihm zurief:
"Tritt ohne Furcht herein, dir soll kein Leid widerfahren." Er zauderte zwar,
doch von einer heimlichen Gewalt angetrieben, gehorchte er der Stimme und gelangte durch
die eiserne Tür in einen grossen geräumigen Saal, dessen Decke, Wände und Boden aus
glänzend geschliffenen Quadratsteinen bestanden, auf deren jedem ihm unbekannte Zeichen
eingehauen waren. Er betrachtete alles voll Bewunderung und war eben im Begriff, wieder
hinauszugehen, als er abermals die Stimme vernahm, welche ihm sagte: "Tritt auf den
Stein, der in der Mitte des Saales liegt, und dein wartet grosses Glück."
Sein Mut war schon so weit gewachsen, dass er dem Befehle Folge leistete. Der Stein
begann unter seinen Füssen nachzugeben und sank langsam in die Tiefe hinab. Als er wieder
feststand und der Schneider sich umsah, befand er sich in einem Saale, der an Umfang dem
vorigen gleich war. Hier aber gab es mehr zu betrachten und zu bewundern. In die Wände
waren Vertiefungen eingehauen, in welchen Gefässe von durchsichtigem Glase standen, die
mit farbigem Spiritus oder mit einem bläulichen Rauche angefüllt waren. Auf dem Boden
des Saales standen, einander gegenüber, zwei grosse gläserne Kasten, die sogleich seine
Neugierde reizten. Indem er zu dem einen trat, erblickte er darin ein schönes Gebäude,
einem Schlosse ähnlich, von Wirtschaftsgebäuden, Ställen und Scheuern und einer Menge
anderer artigen Sachen umgeben. Alles war klein, aber überaus sorgfältig und zierlich
gearbeitet, und schien von einer kunstreichen Hand mit der höchsten Genauigkeit
ausgeschnitzt zu sein. Er würde seine Augen von der Betrachtung dieser Seltenheiten noch
nicht abgewendet haben, wenn sich nicht die Stimme abermals hätte hören lassen. Sie
forderte ihn auf, sich umzukehren und den gegenüberstehenden Glaskasten zu beschauen.
Wie stieg seine Verwunderung, als er darin ein Mädchen von grösster Schönheit
erblickte. Es lag wie im Schlafe, und war in lange blonde Haare wie in einen kostbaren
Mantel eingehüllt. Die Augen waren fest geschlossen, doch die lebhafte Gesichtsfarbe und
ein Band, das der Atem hin und her bewegte, liessen keinen Zweifel an ihrem Leben. Der
Schneider betrachtete die Schöne mit klopfendem Herzen, als sie plötzlich die Augen
aufschlug und bei seinem Anblick in freudigem Schrecken zusammenfuhr. "Gerechter
Himmel", rief sie, "meine Befreiung naht! geschwind, geschwind, hilf mir aus
meinem Gefängnis: wenn du den Riegel an diesem gläsernen Sarg wegschiebst, so bin ich
erlöst." Der Schneider gehorchte ohne Zaudern, alsbald hob sie den Glasdeckel in die
Höhe, stieg heraus und eilte in die Ecke des Saals, wo sie sich in einen weiten Mantel
verhallte. Dann setzte sie sich auf einen Stein nieder, hiess den jungen Mann herangehen,
und nachdem sie einen freundlichen Kuss auf seinen Mund gedrückt hatte, sprach sie:
"Mein lang ersehnter Befreier, der gütige Himmel hat mich zu dir geführt und meinen
Leiden ein Ziel gesetzt. An demselben Tage, wo sie endigen, soll dein Glück beginnen. Du
bist der vom Himmel bestimmte Gemahl, und sollst, von mir geliebt und mit allen irdischen
Gütern überhäuft, in ungestörter Freud dein Leben zubringen. Sitz nieder und höre die
Erzählung meines Schicksals.
Ich bin die Tochter eines reichen Grafen. Meine Eltern starben, als ich noch in zarter
Jugend war, und empfahlen mich in ihrem letzten Willen meinem älteren Bruder, bei dem ich
auferzogen wurde. Wir liebten uns so zärtlich und waren so übereinstimmend in unserer
Denkungsart und unsern Neigungen, dass wir beide den Entschluss fassten, uns niemals zu
verheiraten, sondern bis an das Ende unseres Lebens beisammen zu bleiben. In unserm Hause
war an Gesellschaft nie Mangel: Nachbarn und Freunde besuchten uns häufig, und wir übten
gegen alle die Gastfreundschaft in vollem Masse. So geschah es auch eines Abends, dass ein
Fremder in unser Schloss geritten kam und unter dem Vorgeben, den nächsten Ort nicht mehr
erreichen zu können, um ein Nachtlager bat. Wir gewährten seine Bitte mit zuvorkommender
Höflichkeit, und er unterhielt uns während des Abendessens mit seinem Gespräche und
eingemischten Erzählungen auf das anmutigste. Mein Bruder hatte ein so grosses
Wohlgefallen an ihm, dass er ihn bat, ein paar Tage bei uns zu verweilen, wozu er nach
einigem Weigern einwilligte. Wir standen erst spät in der Nacht vom Tische auf, dem
Fremden wurde ein Zimmer angewiesen, und ich eilte, ermüdet, wie ich war, meine Glieder
in die weichen Federn zu senken. Kaum war ich ein wenig eingeschlummert, so weckten mich
die Töne einer zarten und lieblichen Musik. Da ich nicht begreifen konnte, woher sie
kamen, so wollte ich mein im Nebenzimmer schlafendes Kammermädchen rufen, allein zu
meinem Erstaunen fand ich, dass mir, als lastete ein Alp auf meiner Brust, von einer
unbekannten Gewalt die Sprache benommen und ich unvermögend war, den geringsten Laut von
mir zu geben. Indem sah ich bei dem Schein der Nachtlampe den Fremden in mein durch zwei
Türen fest verschlossenes Zimmer eintreten. Er näherte sich mir und sagte, dass er durch
Zauberkräfte, die ihm zu Gebote ständen, die liebliche Musik habe ertönen lassen, um
mich aufzuwecken, und dringe jetzt selbst durch alle Schlösser in der Absicht, mir Herz
und Hand anzubieten. Mein Widerwille aber gegen seine Zauberkünste war so gross, dass ich
ihn keiner Antwort würdigte. Er blieb eine Zeitlang unbeweglich stehen, wahrscheinlich in
der Absicht, einen günstigen Entschluss zu erwarten, als ich aber fortfuhr zu schweigen,
erklärte er zornig, dass er sich rächen und Mittel finden werde, meinen Hochmut zu
bestrafen, worauf er das Zimmer wieder verliess. Ich brachte die Nacht in höchster Unruhe
zu und schlummerte erst gegen Morgen ein. Als ich erwacht war, eilte ich zu meinem Bruder,
um ihn von dem, was vorgefallen war, zu benachrichtigen, allein ich fand ihn nicht auf
seinem Zimmer, und der Bediente sagte mir, dass er bei anbrechendem Tage mit dem Fremden
auf die Jagd geritten sei.
Mir ahnete gleich nichts Gutes. Ich kleidete mich schnell an, liess meinen Leibzelter
satteln und ritt, nur von einem Diener begleitet, in vollem Jagen nach dem Walde. Der
Diener stürzte mit dem Pferde und konnte mir, da das Pferd den Fuss gebrochen hatte,
nicht folgen. Ich setzte, ohne mich aufzuhalten, meinen Weg fort, und in wenigen Minuten
sah ich den Fremden mit einem schönen Hirsch, den er an der Leine führte, auf mich
zukommen. Ich fragte ihn, wo er meinen Bruder gelassen habe und wie er zu diesem Hirsche
gelangt sei, aus dessen grossen Augen ich Tränen fliessen sah. Anstatt mir zu antworten,
fing er an, laut aufzulachen. Ich geriet darüber in höchsten Zorn, zog eine Pistole und
drückte sie gegen das Ungeheuer ab, aber die Kugel prallte von seiner Brust zurück und
fuhr in den Kopf meines Pferdes. Ich stürzte zur Erde, und der Fremde murmelte einige
Worte, die mir das Bewusstsein raubten.
Als ich wieder zur Besinnung kam, fand ich mich in dieser unterirdischen Gruft in einem
gläsernen Sarge. Der Schwarzkünstler erschien nochmals, sagte, dass er meinen Bruder in
einen Hirsch verwandelt, mein Schloss mit allem Zubehör verkleinert in den andere
Glaskasten eingeschlossen und meine in Rauch verwandelten Leute in Glasflaschen gebannt
hätte. Wolle ich mich jetzt seinem Wunsche fügen, so sei ihm ein leichtes, alles wieder
in den vorigen Stand zu setzen: er brauche nur die Gefässe zu öffnen, so werde alles
wieder in die natürliche Gestalt zurückkehren. Ich antwortete ihm so wenig als das
erstemal. Er verschwand und liess mich in meinem Gefängnisse liegen, in welchem mich ein
tiefer Schlaf befiel. Unter den Bildern, welche an meiner Seele vorübergingen, war auch
das tröstliche, dass ein junger Mann kam und mich befreite, und als ich heute die Augen
öffne, so erblicke ich dich und sehe meinen Traum erfüllt. Hilf mir vollbringen, was in
jenem Gesichte noch weiter geschah. Das erste ist, dass wir den Glaskasten, in welchem
mein Schloss sich befindet, auf jenen breiten Stein heben."
Der Stein, sobald er beschwert war, hob sich mit dem Fräulein und dem Jüngling in die
Höhe und stieg durch die Öffnung der Decke in den obern Saal, wo sie dann leicht ins
Freie gelangen konnten. Hier öffnete das Fräulein den Deckel, und es war wunderbar
anzusehen, wie Schloss, Häuser und Gehöfte sich ausdehnten und in grösster
Schnelligkeit zu natürlicher Grösse heranwuchsen. Sie kehrten darauf in die
unterirdische Höhle zurück und liessen die mit Rauch gefällten Gläser von dem Stein
herauftragen. Kaum hatte das Fräulein die Flaschen geöffnet, so drang der blaue Rauch
heraus und verwandelte sich in lebendige Menschen, in welchen das Fräulein ihre Diener
und Leute erkannte. Ihre Freude ward noch vermehrt, als ihr Bruder, der den Zauberer in
dem Stier getötet hatte, in menschlicher Gestalt aus dem Walde herankam, und noch
denselben Tag reichte das Fräulein, ihrem Versprechen gemäss, dem glücklichen Schneider
die Hand am Altare.
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