Schneeweisschen und Rosenrot KHM 161 (1857)
Märchentyp AT: 426
Eine arme Witwe, die lebte einsam in einem Hüttchen, und vor dem Hüttchen war ein
Garten, darin standen zwei Rosenbäumchen, davon trug das eine weisse, das andere rote
Rosen; und sie hatte zwei Kinder, die glichen den beiden Rosenbäumchen, und das eine
hiess Schneeweisschen, das andere Rosenrot. Sie waren aber so fromm und gut, so arbeitsam
und unverdrossen, als je zwei Kinder auf der Welt gewesen sind; Schneeweisschen war nur
stiller und sanfter als Rosenrot. Rosenrot sprang lieber in den Wiesen und Feldern umher,
suchte Blumen und fing Sommervögel; Schneeweisschen aber sass daheim bei der Mutter, half
ihr im Hauswesen oder las ihr vor, wenn nichts zu tun war. Die beiden Kinder hatten
einander so lieb, dass sie sich immer an den Händen fassten, sooft sie zusammen
ausgingen; und wenn Schneeweisschen sagte; "Wir wollen uns nicht verlassen", so
antwortete Rosenrot; "So lange wir leben, nicht", und die Mutter setzte hinzu;
"Was das eine hat, solls mit dem andern teilen."
Oft liefen sie im Walde allein umher und sammelten rote Beeren, aber kein Tier tat
ihnen etwas zuleid, sondern sie kamen vertraulich herbei; das Häschen frass ein Kohlblatt
aus ihren Händen, das Reh graste an ihrer Seite, der Hirsch sprang ganz lustig vorbei und
die Vögel blieben auf den Ästen sitzen und sangen, was sie nur wussten. Kein Unfall traf
sie; wenn sie sich im Walde verspätet hatten und die Nacht sie überfiel, so legten sie
sich nebeneinander auf das Moos und schliefen, bis der Morgen kam, und die Mutter wusste
das und hatte ihretwegen keine Sorge.
Einmal, als sie im Walde übernachtet hatten und das Morgenrot sie aufweckte, da sahen
sie ein schönes Kind in einem weissen glänzenden Kleidchen neben ihrem Lager sitzen. Es
stand auf und blickte sie ganz freundlich an, sprach aber nichts und ging in den Wald
hinein. Und als sie sich umsahen, so hatten sie ganz nahe bei einem Abgrunde geschlafen,
und wären gewiss hineingefallen, wenn sie in der Dunkelheit noch ein paar Schritte
weitergegangen wären. Die Mutter aber sagte ihnen, das müsste der Engel gewesen sein,
der gute Kinder bewache.
Schneeweisschen und Rosenrot hielten das Hüttchen der Mutter so reinlich, dass es eine
Freude war hineinzuschauen. Im Sommer besorgte Rosenrot das Haus und stellte der Mutter
jeden Morgen, ehe sie aufwachte, einen Blumenstrauss vors Bett, darin war von jedem
Bäumchen eine Rose. Im Winter zündete Schneeweisschen das Feuer an und hing den Kessel
an den Feuerhaken, und der Kessel war von Messing, glänzte aber wie Gold, so rein war er
gescheuert.
Abends, wenn die Flocken fielen, sagte die Mutter: "Geh, Schneeweisschen, und
schieb den Riegel vor", und dann setzten sie sich an den Herd, und die Mutter nahm
die Brille und las aus einem grossen Buche vor, und die beiden Mädchen hörten zu, sassen
und spannen; neben ihnen lag ein Lämmchen auf dem Boden, und hinter ihnen auf einer
Stange sass ein weisses Täubchen und hatte seinen Kopf unter den Flügel gesteckt.
Eines Abends, als sie so vertraulich beisammen sassen, klopfte jemand an die Türe, als
wollte er eingelassen sein. Die Mutter sprach: "Geschwind, Rosenrot, mach auf, es
wird ein Wanderer sein, der Obdach sucht." Rosenrot ging und schob den Riegel weg und
dachte, es wäre ein armer Mann, aber der war es nicht, es war ein Bär, der seinen dicken
schwarzen Kopf zur Türe hereinstreckte. Rosenrot schrie laut und sprang zurück; das
Lämmchen blökte, das Täubchen flatterte auf, und Schneeweisschen versteckte sich hinter
der Mutter Bett. Der Bär aber fing an zu sprechen und sagte: "Fürchtet euch nicht,
ich tue euch nichts zuleid, ich bin halb erfroren und will mich nur ein wenig bei euch
wärmen."
"Du armer Bär", sprach die Mutter, "leg dich ans Feuer, und gib nur
acht, dass dir dein Pelz nicht brennt." Dann rief sie: "Schneeweisschen,
Rosenrot, kommt hervor, der Bär tut euch nichts, er meints ehrlich." Da kamen sie
beide heran, und nach und nach näherten sich auch das Lämmchen und Täubchen und hatten
keine Furcht vor ihm.
Der Bär sprach: "Ihr Kinder, klopft mir den Schnee ein wenig aus dem
Pelzwerk", und sie holten den Besen und kehrten dem Bär das Fell rein; er aber
streckte sich ans Feuer und brummte ganz vergnügt und behaglich. Nicht lange, so wurden
sie ganz vertraut und trieben Mutwillen mit dem unbeholfenen Gast. Sie zausten ihm das
Fell mit den Händen, setzten ihre Füsschen auf seinen Rücken und walgerten ihn hin und
her, oder sie nahmen eine Haselrute und schlugen auf ihn los, und wenn er brummte, so
lachten sie. Der Bär liess sichs aber gerne gefallen, nur wenn sies gar zu arg
machten, rief er :"Lasst mich am Leben, ihr Kinder:
Schneeweisschen, Rosenrot,
schlägst dir den Freier tot."
Als Schlafenszeit war und die andern zu Bett gingen, sagte die Mutter zu dem Bär:
"Du kannst in Gottes Namen da am Herde liegen bleiben, so bist du vor der Kälte und
dem bösen Wetter geschützt." Sobald der Tag graute, liessen ihn die beiden Kinder
hinaus, und er trabte über den Schnee in den Wald hinein.
Von nun an kam der Bär jeden Abend zu der bestimmten Stunde, legte sich an den Herd
und erlaubte den Kindern, Kurzweil mit ihm zu treiben, so viel sie wollten; und sie waren
so gewöhnt an ihn, dass die Türe nicht eher zugeriegelt ward, als bis der schwarze
Gesell angelangt war.
Als das Frühjahr herangekommen und draussen alles grün war, sagte der Bär eines
Morgens zu Schneeweisschen: "Nun muss ich fort und darf den ganzen Sommer nicht
wiederkommen." "Wo gehst du denn hin, lieber Bär?" fragte Schneeweisschen.
"Ich muss in den Wald und meine Schätze vor den bösen Zwergen hüten; im Winter,
wenn die Erde hart gefroren ist, müssen sie wohl unten bleiben und können sich nicht
durcharbeiten, aber jetzt, wenn die Sonne die Erde aufgetaut und erwärmt hat, da brechen
sie durch, steigen herauf, suchen und stehlen; was einmal in ihren Händen ist und in
ihren Höhlen liegt, das kommt so leicht nicht wieder an des Tages Licht."
Schneeweisschen war ganz traurig über den Abschied, und als es ihm die Türe aufriegelte,
und der Bär sich hinausdrängte, blieb er an dem Türchen hängen, und ein Stück seiner
Haut riss auf, und da war es Schneeweisschen, als hätte es Gold durchschimmern gesehen;
aber es war seiner Sache nicht gewiss. Der Bär lief eilig fort und war bald hinter den
Bäumen verschwunden.
Nach einiger Zeit schickte die Mutter die Kinder in den Wald, Reisig zu sammeln. Da
fanden sie drangen einen grossen Baum, der lag gefällt auf dem Boden, und an dem Stamme
sprang zwischen dem Gras etwas auf und ab, sie konnten aber nicht unterscheiden, was es
war. Als sie näher kamen, sahen sie einen Zwerg mit einem alten verwelkten Gesicht und
einem ellenlangen schneeweissen Bart. Das Ende des Bartes war in eine Spalte des Baumes
eingeklemmt, und der Kleine sprang hin und her wie ein Hündchen an einem Seil und wusste
nicht, wie er sich helfen sollte. Er glotzte die Mädchen mit seinen roten feurigen Augen
an und schrie: "Was steht ihr da! Könnt ihr nicht herbeigehen und mir Beistand
leisten?"
"Was hast du angefangen, kleines Männchen?" fragte Rosenrot. "Dumme
neugierige Gans", antwortet der Zwerg, "den Baum habe ich mir spalten wollen, um
kleines Holz in der Küche zu haben; bei den dicken Klötzen verbrennt gleich das bisschen
Speise, das unsereiner braucht, der nicht so viel hinunterschlingt als ihr grobes,
gieriges Volk. Ich hatte den Keil schon glücklich hineingetrieben, und es wäre alles
nach Wunsch gegangen, aber das verwünschte Holz war zu glatt und sprang unversehens
heraus, und der Baum fuhr so geschwind zusammen, dass ich meinen schönen weissen Bart
nicht mehr herausziehen konnte; nun steckt er drin, und ich kann nicht fort. Da lachen die
albernen glatten Milchgesichter! Pfui, was seid ihr garstig!"
Die Kinder gaben sich alle Mühe, aber sie konnten den Bart nicht herausziehen, er
steckte zu fest. "Ich will laufen und Leute herbeiholen", sagte Rosenrot.
"Wahnsinnige Schafsköpfe", schnarrte der Zwerg, "wer wird gleich Leute
herbeirufen, ihr seid mir schon um zwei zu viel; fällt euch nichts Besseres ein?"
"Sei nur nicht ungeduldig", sagte Schneeweisschen, "ich will schon Rat
schaffen", holte sein Scherchen aus der Tasche und schnitt das Ende des Bartes ab.
Sobald der Zwerg sich frei fühlte, griff er nach einem Sack, der zwischen den Wurzeln des
Baumes steckte und mit Gold gefüllt war, hob ihn heraus und brummte vor sich hin:
"Ungehobeltes Volk, schneidet mir ein Stück von meinem stolzen Barte ab! Lohns euch
der Guck[g]uck!" damit schwang er seinen Sack auf den Rücken und ging fort, ohne die
Kinder nur noch einmal anzusehen.
Einige Zeit danach wollten Schneeweisschen und Rosenrot ein Gericht Fische angeln. Als
sie nahe bei dem Bach waren, sahen sie, dass etwas wie eine grosse Heuschrecke nach dem
Wasser zu hüpfte, als wollte es hineinspringen. Sie liefen heran und erkannten den Zwerg.
"Wo willst du hin?" sagte Rosenrot, "du willst doch nicht ins Wasser?"
"Solch ein Narr bin ich nicht", schrie der Zwerg, "seht ihr nicht, der
verwünschte Fisch will mich hineinziehen!" Der Kleine hatte da gesessen und
geangelt, und unglücklicherweise hatte der Wind seinen Bart mit der Angelschnur
verflochten; als gleich darauf ein grosser Fisch anbiss, fehlten dem schwachen Geschöpf
die Kräfte, ihn herauszuziehen: der Fisch behielt die Oberhand und riss den Zwerg zu sich
hin. Zwar hielt er sich an allen Halmen und Binsen, aber das half nicht viel, er musste
den Bewegungen des Fisches folgen, und war in beständiger Gefahr, ins Wasser gezogen zu
werden. Die Mädchen kamen zu rechter Zeit, hielten ihn fest und versuchten den Bart von
der Schnur loszumachen, aber vergebens, Bart und Schnur waren fest ineinander verwirrt. Es
blieb nichts übrig, als das Scherchen hervorzuholen und den Bart abzuschneiden, wobei ein
kleiner Teil desselben verloren ging.
Als der Zwerg das sah, schrie er sie. an: "Ist das Manier, ihr Lorche, einem das
Gesicht zu schänden? Nicht genug, dass ihr mir den Bart unten abgestutzt habt, jetzt
schneidet ihr mir den besten Teil davon ab; ich darf mich vor den Meinigen gar nicht sehen
lassen. Dass ihr laufen müsstet und die Schuhsohlen verloren hättet!" Dann holte er
einen Sack Perlen, der im Schilfe lag, und ohne ein Wort weiter zu sagen, schleppte er ihn
fort und verschwand hinter einem Stein.
Es trug sich zu, dass bald hernach die Mutter die beiden Mädchen nach der Stadt
schickte. Zwirn, Nadeln, Schnüre und Bänder einzukaufen. Der Weg führte sie über eine
Heide, auf der hier und da mächtige Felsenstücke zerstreut lagen. Da sahen sie einen
grossen Vogel in der Luft schweben, der langsam über ihnen kreiste, sich immer tiefer
herabsenkte und endlich nicht weit bei einem Felsen niederstiess. Gleich darauf hörten
sie einen durchdringenden, jämmerlichen Schrei. Sie liefen herzu und sahen mit Schrecken,
dass der Adler ihren alten Bekannten, den Zwerg gepackt hatte und ihn forttragen wollte.
Die mitleidigen Kinder hielten gleich das Männchen fest und zerrten sich so lange mit dem
Adler herum, bis er seine Beute fahren liess.
Als der Zwerg sich von dem ersten Schrecken erholt hatte, schrie er mit seiner
kreischenden Stimme: "Konntet ihr nicht säuberlich mit mir umgehen? Gerissen habt
ihr an meinem dünnen Röckchen, dass es überall zerfetzt und durchlöchert ist,
unbeholfenes und läppisches Gesindel, das ihr seid!" Dann nahm er einen Sack mit
Edelsteinen und schlüpfte wieder unter den Felsen in seine Höhle.
Die Mädchen waren an seinen Undank schon gewöhnt, setzten ihren Weg fort und
verrichteten ihr Geschäft in der Stadt. Als sie beim Heimweg wieder auf die Heide kamen,
überraschten sie den Zwerg, der auf einem reinlichen Plätzchen seinen Sack mit
Edelsteinen ausgeschüttet und nicht gedacht hatte, dass so spät noch jemand daherkommen
würde. Die Abendsonne schien aber die glänzenden Steine, sie schimmerten und leuchteten
so prächtig in allen Farben, dass die Kinder stehen blieben und sie betrachteten.
"Was steht ihr da und habt Maulaffen feil!" schrie der Zwerg, und sein
aschgraues Gesicht ward zinnoberrot vor Zorn. Er wollte mit seinen Scheltworten
fortfahren, als sich ein lautes Brummen hören liess und ein schwarzer Bär aus dem Walde
herbeitrabte. Erschrocken sprang der Zwerg auf, aber er konnte nicht mehr zu seinem
Schlupfwinkel gelangen, der Bär war schon in seiner Nähe. Da rief er in Herzensangst:
"Lieber Herr Bär, verschont mich, ich will Euch alle meine Schätze geben, sehet,
die schönen Edelsteine, die da liegen. Schenkt mir das Leben, was habt Ihr an mir kleinem
schmächtigen Kerl? Ihr spürt mich nicht zwischen den Zähnen; da, die beiden gottlosen
Mädchen packt, das sind für Euch zarte Bissen, fett wie junge Wachteln, die fresst in
Gottes Namen."
Der Bär kümmerte sich um seine Worte nicht, gab dem boshaften Geschöpf einen
einzigen Schlag mit der Tatze, und es regte sich nicht mehr. Die Mädchen waren
fortgesprungen, aber der Bär rief ihnen nach: "Schneeweisschen und Rosenrot,
fürchtet euch nicht, wartet, ich will mit euch gehen." Da erkannten sie seine Stimme
und blieben stehen, und als der Bär bei ihnen war, fiel plötzlich die Bärenhaut ab, und
er stand da als ein schöner Mann, und war ganz in Gold gekleidet. "Ich bin eines
Königs Sohn", sprach er, "und war von dem gottlosen Zwerg, der mir meine
Schätze gestohlen hatte, verwünscht, als ein wilder Bär in dem Walde zu laufen, bis ich
durch seinen Tod erlöst wurde. Jetzt hat er seine wohlverdiente Strafe empfangen."
Schneeweisschen ward mit ihm vermählt und Rosenrot mit seinem Bruder, und sie teilten
die grossen Schätze miteinander, die der Zwerg in seine Höhle zusammengetragen hatte.
Die alte Mutter lebte noch lange Jahre ruhig und glücklich bei ihren Kindern. Die zwei
Rosenbäumchen aber nahm sie mit, und sie standen vor ihrem Fenster und trugen jedes Jahr
die schönsten Rosen, weiss und rot.
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