Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein KHM 130
(1857)
Märchentyp AT: 511
Es war eine Frau, die hatte drei Töchter, davon hiess die älteste Einäuglein, weil
sie nur ein einziges Auge mitten auf der Stirn hatte, und die mittelste Zweiäuglein, weil
sie zwei Augen hatte wie andere Menschen, und die jüngste Dreiäuglein, weil sie drei
Augen hatte, und das dritte stand bei ihr gleichfalls mitten auf der Stirne. Darum aber,
dass Zweiäuglein nicht anders aussah als andere Menschenkinder, konnten es die Schwestern
und die Mutter nicht leiden. Sie sprachen zu ihm: "Du mit deinen zwei Augen bist
nicht besser als das gemeine Volk, du gehörst nicht zu uns." Sie stiessen es herum
und warfen ihm schlechte Kleider hin und gaben ihm nicht mehr zu essen, als was sie übrig
liessen, und taten ihm Herzeleid an, wo sie nur konnten.
Es trug sich zu, dass Zweiäuglein hinaus ins Feld gehen und die Ziege hüten musste,
aber noch ganz hungrig war, weil ihm seine Schwestern so wenig zu essen gegeben hatten. Da
setzte es sich auf einen Rain und fing an zu weinen, und so zu weinen, dass zwei Bächlein
aus seinen Augen herabflossen. Und wie es in seinem Jammer einmal aufblickte, stand eine
Frau neben ihm, die fragte: "Zweiäuglein, was weinst du?" Zweiäuglein
antwortete: "Soll ich nicht weinen? Weil ich zwei Augen habe wie andere Menschen, so
können mich meine Schwestern und meine Mutter nicht leiden, stossen mich aus einer Ecke
in die andere, werfen mir alte Kleider hin und geben mir nichts zu essen, als was sie
übrig lassen. Heute haben sie mir so wenig gegeben, dass ich noch ganz hungrig bin."
Sprach die weise Frau: "Zweiäuglein, trockne dir dein Angesicht, ich will dir etwas
sagen, dass du nicht mehr hungern sollst. Sprich nur zu deiner Ziege: "Zicklein,
meck, Tischlein, deck", so wird ein sauber gedecktes Tischlein vor dir stehen und das
schönste Essen darauf, dass du essen kannst, soviel du Lust hast. Und wenn du satt bist
und das Tischlein nicht mehr brauchst, so sprich nur: "Zicklein, meck, Tischlein,
weg", so wirds vor deinen Augen wieder verschwinden." Darauf ging die weise Frau
fort.
Zweiäuglein aber dachte: "Ich muss gleich einmal versuchen, ob es wahr ist, was
sie gesagt hat, denn mich hungert gar zu sehr", und sprach: "Zicklein, meck,
Tischlein, deck". Und kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, so stand da ein
Tischlein mit einem weissen Tüchlein gedeckt, darauf ein Teller mit Messer und Gabel und
silbernem Löffel, die schönsten Speisen standen rund herum, rauchten und waren noch
warm, als wären sie eben ans der Küche gekommen. Da sagte Zweiäuglein das kürzeste
Gebet her, das es wusste: "Herr Gott, sei unser Gast zu aller Zeit, Amen",
langte zu und liess sich wohl schmecken. Und als es satt war, sprach es, wie die
weise Frau gelehrt hatte: "Zicklein, meck, Tischlein, weg."
Alsbald war das Tischchen und alles, was darauf stand, wieder verschwunden. "Das
ist ein schöner Haushalt", dachte Zweiäuglein und war ganz vergnügt und guter
Dinge. Abends, als es mit seiner Ziege heim kam, fand es ein irdenes Schüsselchen mit
Essen, das ihm die Schwestern hingestellt hatten, aber es rührte nichts an.
Am andern Tag zog es mit seiner Ziege wieder hinaus und liess die paar Brocken, die ihm
gereicht wurden, liegen. Das erstemal und das zweitemal beachteten es die Schwestern gar
nicht, wie es aber jedesmal geschah, merkten sie auf und sprachen: "Es ist nicht
richtig mit dem Zweiäuglein, das lässt jedesmal das Essen stehen und hat doch sonst
alles aufgezehrt, was ihm gereicht wurde; das muss andere Wege gefunden haben."
Damit sie aber hinter die Wahrheit kämen, sollte Einäuglein mitgehen, wenn
Zweiäuglein die Ziege auf die Weide trieb, und sollte achten, was es da vorhätte, und ob
ihm jemand etwas Essen und Trinken brächte. Als nun Zweiäuglein sich wieder aufmachte,
trat Einäuglein zu ihm und sprach: "Ich will mit ins Feld und sehen, dass die Ziege
auch recht gehütet und ins Futter getrieben wird." Aber Zweiäuglein merkte, was
Einäuglein im Sinne hatte, und trieb die Ziege hinaus ins hohe Gras und sprach:
"Komm, Einäuglein, wir wollen uns hinsetzen, ich will dir was vorsingen."
Einäuglein setzte sich hin und war von dem ungewohnten Weg und von der Sonnenhitze müde,
und Zweiäuglein sang immer:
"Einäuglein, wachst du?
Einäuglein, schläfst du?"
Da tat Einäuglein das eine Auge zu und schlief ein. Und als Zweiäuglein sah, dass
Einäuglein schlief und nichts verraten konnte, sprach es: "Zicklein, meck,
Tischlein, deck", und setzte sich an sein Tischlein und ass und trank, bis es satt
war, dann rief es wieder: "Zicklein, meck, Tischlein, weg", und alles war
augenblicklich verschwunden. Zweiäuglein weckte nun Einäuglein und sprach
"Einäuglein, du willst hüten und schläfst dabei ein, derweil hätte die Ziege in
alle Welt laufen können; komm, wir wollen nach Haus gehen." Da gingen sie nach Haus,
und Zweiäuglein liess wieder sein Schüsselchen unangerührt stehen, und Einäuglein
konnte der Mutter nicht verraten, warum es nicht essen wollte, und sagte zu seiner
Entschuldigung: "Ich war draussen eingeschlafen."
Am andern Tag sprach die Mutter zu Dreiäuglein: "Diesmal sollst du mitgehen und
acht haben, ob Zweiäuglein draussen isst, und ob ihm jemand Essen und Trinken bringt,
denn essen und trinken muss es heimlich." Da trat Dreiäuglein zum Zweiäuglein und
sprach: "Ich will mitgehen und sehen, ob auch die Ziege recht gehütet und ins Futter
getrieben wird." Aber Zweiäuglein merkte, was Dreiäuglein im Sinne hatte, und trieb
die Ziege hinaus ins hohe Gras und sprach: "Wir wollen uns dahin setzen.
Dreiäuglein, ich will dir was vorsingen." Dreiäuglein setzte sich und war müde von
dem Weg und der Sonnenhitze, und Zweiäuglein hub wieder das vorige Liedlein an und sang:
"Dreiäuglein, wachst du?" Aber statt es nun singen musste
"Dreiäuglein, schläfst du?" sang es aus Unbedachtsamkeit: "Zweiäuglein,
schläfst du?" und sang immer: "Dreiäuglein, wachst du?"
"Zweiäuglein, schläfst du?"
Da fielen dem Dreiäuglein seine zwei Augen zu und schliefen, aber das dritte, weil es
von dem Sprüchlein nicht angeredet war, schlief nicht ein. Zwar tat es Dreiäuglein zu,
aber nur aus List, gleich als schlief es auch damit; doch blinzelte es und konnte alles
gar wohl sehen. Und als Zweiäuglein meinte, Dreiäuglein schliefe fest, sagte es sein
Sprüchlein: "Zicklein, meck, Tischlein, deck", ass und trank nach Herzenslust
und hiess dann das Tischlein wieder fortgehen, "Zicklein, meck, Tischlein, weg",
und Dreiäuglein hatte alles mit angesehen. Da kam Zweiäuglein zu ihm, weckte es und
sprach: "Ei, Dreiäuglein, du bist eingeschlafen? Du kannst gut hüten! Komm, wir
wollen heim gehen." Und als sie nach Haus kamen, ass Zweiäuglein wieder nicht, und
Dreiäuglein sprach zur Mutter: "Ich weiss nun, warum das hochmütige Ding nicht
isst: wenn sie draussen zur Ziege spricht "Zicklein, meck, Tischlein, deck", so
steht ein Tischlein vor ihr, das ist mit dem besten Essen besetzt, viel besser als wirs
hier haben; und wenn sie satt ist, so spricht sie: "Zicklein, meck, Tischlein,
weg", und alles ist wieder verschwunden; ich habe alles genau mit angesehen. Zwei
Augen hatte sie mir mit einem Sprüchlein eingeschläfert, aber das eine auf der Stirne,
das war zum Glück wach geblieben." Da rief die neidische Mutter: "Willst
dus besser haben als wir? Die Lust soll dir vergehen!" Sie holte ein
Schlachtmesser und stiess es der Ziege ins Herz, dass sie tot hinfiel. Als Zweiäuglein
das sah, ging es voller Trauer hinaus, setzte sich auf den Feldrain und weinte seine
bitteren Tränen. Da stand auf einmal die weise Frau wieder neben ihm und sprach:
"Zweiäuglein, was weinst du?"
"Soll ich nicht weinen!" antwortete es. "Die Ziege, die mir jeden Tag,
wenn ich Euer Sprüchlein hersagte, den Tisch so schön deckte, ist von meiner Mutter
totgestochen; nun muss ich wieder Hunger und Kummer leiden."
Die weise Frau sprach: "Zweiäuglein, ich will dir einen guten Rat erteilen, bitt
deine Schwestern, dass sie dir das Eingeweide von der geschlachteten Ziege geben, und
vergrab es vor der Haustür in die Erde, so wirds dein Glück sein." Da
verschwand sie, und Zweiäuglein ging heim und sprach zu den Schwestern: "Liebe
Schwestern, gebt mir doch etwas von meiner Ziege, ich verlange nichts Gutes, gebt mir nur
das Eingeweide." Da lachten sie und sprachen: "Kannst du haben, wenn du weiter
nichts willst." Und Zweiäuglein nahm das Eingeweide und vergrubs abends in
aller Stille nach dem Rate der weisen Frau vor die Haustüre.
Am andern Morgen, als sie insgesamt erwachten und vor die Haustüre traten, so stand da
ein wunderbarer prächtiger Baum, der hatte Blätter von Silber, und Früchte von Gold
hingen dazwischen, dass wohl nichts Schöneres und Köstlicheres auf der weiten Welt war.
Sie wussten aber nicht, wie der Baum in der Nacht dahin gekommen war, nur Zweiäuglein
merkte, dass er aus den Eingeweiden der Ziege aufgewachsen war, denn er stand gerade da,
wo es sie in die Erde begraben hatte. Da sprach die Mutter zu Einäuglein: "Steig
hinauf, mein Kind, und brich uns die Früchte von dem Baume ab." Einäuglein stieg
hinauf, aber wie es einen von den goldenen Äpfel greifen wollte, so fuhr ihm der Zweig
aus den Händen; und das geschah jedesmal, so dass es keinen einzigen Apfel brechen
konnte, es mochte sich anstellen, wie es wollte.
Da sprach die Mutter: "Dreiäuglein, steig du hinauf, du kannst mit deinen drei
Augen besser um dich schauen als Einäuglein." Einäuglein rutschte herunter und
Dreiäuglein stieg hinauf. Aber Dreiäuglein war nicht geschickter und mochte schauen, wie
es wollte, die goldenen Äpfel wichen immer zurück. Endlich ward die Mutter ungeduldig
und stieg selbst hinauf, konnte aber so wenig wie Einäuglein und Dreiäuglein die Frucht
fassen und griff immer in die leere Luft.
Da sprach Zweiäuglein: "Ich will mich einmal hinaufmachen, vielleicht gelingt
mirs eher." Die Schwestern riefen zwar: "Du mit deinen zwei Augen, was
willst du wohl!" Aber Zweiäuglein stieg hinauf, und die goldenen Äpfel zogen sich
nicht vor ihm zurück, sondern liessen sich von selbst in seine Hand herab, also dass es
einen nach dem andern abpflücken konnte und ein ganzes Schürzchen voll mit
herunterbrachte. Die Mutter nahm sie ihm ab, und statt dass sie, Einäuglein und
Dreiäuglein dafür das arme Zweiäuglein hätten besser behandeln sollen, so wurden sie
nur neidisch, dass es allein die Früchte holen konnte, und gingen noch härter mit ihm
um.
Es trug sich zu, als sie einmal beisammen an dem Baum standen, dass ein junger Ritter
daherkam. "Geschwind, Zweiäuglein", riefen die zwei Schwestern, "kriech
unter, dass wir uns deiner nicht schämen müssen", und stürzten über das arme
Zweiäuglein in aller Eil ein leeres Fass, das gerade neben dem Baume stand, und schoben
die goldenen Äpfel, die es abgebrochen hatte, auch darunter. Als nun der Ritter näher
kam, war es ein schöner Herr, der hielt still, bewunderte den prächtigen Baum von Gold
und Silber und sprach zu den beiden Schwestern: "Wem gehört dieser schöne Baum? Wer
mir einen Zweig davon gäbe, könnte dafür verlangen, was er wollte."
Da antworteten Einäuglein und Dreiäuglein, der Baum gehörte ihnen, und sie wollten
ihm einen Zweig wohl abbrechen. Sie gab en sich auch beide grosse Mühe, aber sie waren
nicht imstande, denn die Zweige und Früchte wichen jedesmal vor ihnen zurück. Da sprach
der Ritter: "Das ist ja wunderlich, dass der Baum euch gehört, und ihr doch nicht
Macht habt, etwas davon abzubrechen." Sie blieben dabei, der Baum wäre ihr Eigentum.
Indem sie aber so sprachen, rollte Zweiäuglein unter dem Fasse ein paar goldene Äpfel
heraus, so dass sie zu den Füssen des Ritters liefen, denn Zweiäuglein war bös, dass
Einäuglein und Dreiäuglein nicht die Wahrheit sagten. Wie der Ritter die Äpfel sah,
erstaunte er und fragte, wo sie herkämen. Einäuglein und Dreiäuglein antworteten, sie
hätten noch eine Schwester, die dürfte sich aber nicht sehen lassen, weil sie nur zwei
Augen hätte wie andere gemeine Menschen. Der Ritter aber verlangte sie zu sehen und rief:
"Zweiäuglein, komm hervor." Da kam Zweiäuglein ganz getrost unter dem Fass
hervor, und der Ritter war verwundert über seine grosse Schönheit und sprach: "Du,
Zweiäuglein, kannst mir gewiss einen Zweig von dem Baum abbrechen."
"Ja", antwortete Zweiäuglein, "das will ich wohl können, denn der Baum
gehört mir." Und stieg hinauf und brach mit leichter Mühe einen Zweig mit feinen
silbernen Blättern und goldenen Früchten ab und reichte ihn dem Ritter hin. Da sprach
der Ritter: "Zweiäuglein, was soll ich dir dafür geben?" "Ach",
antwortete Zweiäuglein, "ich leide Hunger und Durst, Kummer und Not vom frühen
Morgen bis zum späten Abend: wenn ihr mich mitnehmen und erlösen wollt, so wäre ich
glücklich."
Da hob der Ritter das Zweiäuglein auf sein Pferd und brachte es heim auf sein
väterliches Schloss; dort gab er ihm schöne Kleider, Essen und Trinken nach Herzenslust,
und weil er es so lieb hatte, liess er sich mit ihm einsegnen, und ward die Hochzeit in
grosser Freude gehalten.
Wie nun Zweiäuglein so von dem schönen Rittersmann fortgeführt ward, da beneideten
die zwei Schwestern ihm erst recht sein Glück. "Der wunderbare Baum bleibt uns
doch", dachten sie, "können wir auch keine Früchte davon brechen, so wird doch
jedermann davor stehenbleiben, zu uns kommen und ihn rühmen; wer weiss, wo unser Weizen
blüht!"
Aber am andern Morgen war ihr Baum verschwunden und ihre Hoffnung dahin. Und wie
Zweiäuglein zu seinem Kämmerlein hinaussah, so stand er zu seiner grossen Freude davor
und war ihm also nachgefolgt.
Zweiäuglein lebte lange Zeit vergnügt. Einmal kamen zwei arme Frauen zu ihm auf das
Schloss und baten um ein Almosen. Da sah ihnen Zweiäuglein ins Gesicht und erkannte ihre
Schwestern Einäuglein und Dreiäuglein, die so in Armut geraten waren, dass sie
umherziehen und vor den Türen ihr Brot suchen mussten. Zweiäuglein aber hiess sie
willkommen und tat ihnen Gutes und pflegte sie, also dass die beiden von Herzen bereuten,
was sie ihrer Schwester in der Jugend Böses angetan hatten.
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