Die vier kunstreichen Brüder KHM 129 (1857)
Märchentyp AT: 653
Es war ein armer Mann, der hatte vier Söhne, wie die herangewachsen waren, sprach er
zu ihnen "Liebe Kinder, ihr müsst jetzt hinaus in die Welt, ich habe nichts, das ich
euch geben könnte; macht euch auf und geht in die Fremde, lernt ein Handwerk und seht,
wie ihr euch durchschlagt." Da ergriffen die vier Brüder den Wanderstab, nahmen
Abschied von ihrem Vater und zogen zusammen zum Tor hinaus.
Als sie eine Zeitlang gewandert waren, kamen sie an einen Kreuzweg, der nach vier
verschiedenen Gegenden führte. Da sprach der älteste: "Hier müssen wir uns
trennen, aber heut über vier Jahre wollen wir an dieser Stelle wieder zusammentreffen und
in der Zeit unser Glück versuchen." Nun ging jeder seinen Weg, und dem ältesten
begegnete ein Mann, der fragte ihn, wo er hinaus wollte und was er vorhätte. "Ich
will ein Handwerk lernen", antwortete er. Da sprach der Mann: "Geh mit mir und
werde ein Dieb." "Nein", antwortete er, "das gilt für kein ehrliches
Handwerk mehr, und das Ende vom Lied ist, dass einer als Schwengel in der Feldglocke
gebraucht wird." "O", sprach der Mann, "vor dem Galgen brauchst du
dich nicht zu fürchten: ich will dich bloss lehren, wie du holst, was sonst kein Mensch
kriegen kann, und wo dir niemand auf die Spur kommt." Da liess er sich überreden,
ward bei dem Manne ein gelernter Dieb und ward so geschickt, dass vor ihm nichts sicher
war, was er einmal haben wollte.
Der zweite Bruder begegnete einem Mann, der dieselbe Frage an ihn tat, was er in der
Welt lernen wollte. "Ich weiss es noch nicht", antwortete er. "So geh mit
mir und werde ein Sterngucker: nichts besser als das, es bleibt einem nichts
verborgen." Er liess sich das gefallen und ward ein so geschickter Sterngucker, dass
sein Meister, als er ausgelernt hatte und weiterziehen wollte, ihm ein Fernrohr gab und zu
ihm sprach: "Damit kannst du sehen, was auf Erden und am Himmel vorgeht, und kann dir
nichts verborgen bleiben."
Den dritten Bruder nahm ein Jäger in die Lehre und gab ihm in allem, was zur Jägerei
gehört, so guten Unterricht, dass er ein ausgelernter Jäger ward. Der Meister schenkte
ihm beim Abschied eine Büchse und sprach: "Die fehlt nicht, was du damit aufs Korn
nimmst, das triffst du sicher."
Der jüngste Bruder begegnete gleichfalls einem Manne, der ihn anredete und nach seinem
Vorhaben fragte. "Hast du nicht Lust, ein Schneider zu werden?" "Dass ich
nicht wüsste", sprach der Junge, "das Krummsitzen von morgens bis abends, das
Hin-und Herfegen mit der Nadel und das Bügeleisen will mir nicht in den Sinn.
"Ei was", antwortete der Mann, "du sprichst, wie dus verstehst:
bei mir lernst du eine ganz andere Schneiderkunst, die ist anständig und ziemlich, zum
Teil sehr ehrenvoll." Da liess er sich überreden, ging mit und lernte die Kunst des
Mannes aus dem Fundament. Beim Abschied gab ihm dieser eine Nadel und sprach: "Damit
kannst du zusammennähen, was dir vorkommt, es sei so weich wie ein Ei oder so hart als
Stahl; und es wird ganz zu einem Stück, dass keine Naht mehr zu sehen ist."
Als die bestimmten vier Jahre herum waren, kamen die vier Brüder zu gleicher Zeit an
dem Kreuzwege zusammen, herzten und küssten sich und kehrten heim zu ihrem Vater.
"Nun", sprach dieser ganz vergnügt, "hat euch der Wind wieder zu mir
geweht?" Sie erzählten, wie es ihnen ergangen war, und dass jeder das Seinige
gelernt hätte. Nun sassen sie gerade vor dem Haus unter einem grossen Baum, da sprach der
Vater: "Jetzt will ich euch auf die Probe stellen und sehen, was ihr könnt."
Danach schaute er auf und sagte zu dem zweiten Sohne: "Oben im Gipfel dieses Baumes
sitzt zwischen zwei Ästen ein Buchfinkennest, sag mir, wie viel Eier liegen darin?"
Der Sterngucker nahm sein Glas, schaute hinauf und sagte: "fünfe
sinds." Sprach der Vater zum ältesten: "Hol du die Eier herunter, ohne
dass der Vogel, der darauf sitzt und brütet, gestört wird." Der kunstreiche Dieb
stieg hinauf und nahm dem Vöglein, das gar nichts davon merkte und ruhig sitzen blieb,
die fünf Eier unter dem Leib weg und brachte sie dem Vater herab. Der Vater nahm sie,
legte an jede Ecke des Tisches eins und das fünfte in die Mitte, und sprach zum Jäger:
"Du schiessest mir mit einem Schuss die fünf Eier in der Mitte entzwei." Der
Jäger legte seine Büchse an und schoss die Eier, wie es der Vater verlangt hatte, alle
fünfe, und zwar in einem Schuss. Der hatte gewiss von dem Pulver, das um die Ecke
schiesst.
"Nun kommt die Reihe an dich", sprach der Vater zu dem vierten Sohn, "du
nähst die Eier wieder zusammen und auch die jungen Vöglein, die darin sind, und zwar so,
dass ihnen der Schuss nichts schadet." Der Schneider holte seine Nadel und nähte,
wies der Vater verlangt hatte. Als er fertig war, musste der Dieb die Eier wieder auf den
Baum ins Nest tragen und dem Vogel, ohne dass er etwas merkte, wieder unterlegen. Das
Tierchen brütete sie vollends aus, und nach ein paar Tagen krochen die Jungen hervor und
hatten da, wo sie vom Schneider zusammengenäht waren, ein rotes Streifchen um den Hals.
"Ja", sprach der Alte zu seinen Söhnen, "ich muss euch über den
grünen Klee loben, ihr habt eure Zeit wohl benutzt und was Rechtschaffenes gelernt: ich
kann nicht sagen, wem von euch der Vorzug gebührt. Wenn ihr nur bald Gelegenheit habt,
eure Kunst anzuwenden, da wird sichs ausweisen."
Nicht lange danach kam grosser Lärm ins Land, die Königstochter wäre von einem
Drachen entführt worden. Der König war Tag und Nacht darüber in Sorgen und liess
bekanntmachen, wer sie zurückbrächte, sollte sie zur Gemahlin haben. Die vier Brüder
sprachen untereinander: "Das wäre eine Gelegenheit, wo wir uns könnten sehen
lassen", wollten zusammen ausziehen und die Königstochter befreien. "Wo sie
ist, will ich bald wissen", sprach der Sterngucker, schaute durch sein Fernrohr und
sprach: "Ich sehe sie schon, sie sitzt weit von hier auf einem Felsen im Meer, und
neben ihr der Drache, der sie bewacht." Da ging er zu dem König und bat um ein
Schiff für sich und seine Brüder und fuhr mit ihnen über das Meer, bis sie zu dem
Felsen hinkamen. Die Königstochter sass da, aber der Drache lag in ihrem Schoss und
schlief. Der Jäger sprach "ich darf nicht schiessen, ich würde die schöne Jungfrau
zugleich töten." "So will ich mein Heil versuchen", sagte der Dieb,
schlich sich heran und stahl sie unter dem Drachen weg, aber so leis und behend, dass das
Untier nichts merkte, sondern fortschnarchte.
Sie eilten voll Freude mit ihr aufs Schiff und steuerten in die offene See; aber der
Drache, der bei seinem Erwachen die Königstochter nicht mehr gefunden hatte, hinter ihnen
her und schnaubte wütend durch die Luft. Als er gerade über dem Schiff schwebte und sich
herablassen wollte, legte der Jäger seine Büchse an und schoss ihm mitten ins Herz. Das
Untier fiel tot herab, war aber so gross und gewaltig, dass es im Herabfallen das ganze
Schiff zertrümmerte. Sie erhaschten glücklich noch ein paar Bretter und schwammen auf
dem weiten Meer umher.
Da war wieder grosse Not, aber der Schneider, nicht faul, nahm seine wunderbare Nadel,
nähte die Bretter mit ein paar grossen Stichen in der Eile zusammen, setzte sich darauf
und sammelte alle Stücke des Schiffs. Dann nähte er auch diese so geschickt zusammen,
dass in kurzer Zeit das Schiff wieder segelfertig war und sie glücklich heimfahren
konnten.
Als der König seine Tochter wieder erblickte, war grosse Freude. Er sprach zu den vier
Brüdern: "Einer von euch soll sie zur Gemahlin haben, aber welcher das ist, macht
unter euch aus." Da entstand ein heftiger Streit unter ihnen, denn jeder machte
Ansprüche.
Der Sterngucker sprach: "Hätt ich nicht die Königstochter gesehen, so wären
alle eure Künste umsonst gewesen: darum ist sie mein." Der Dieb sprach: "Was
hätte das Sehen geholfen, wenn ich sie nicht unter dem Drachen weggeholt hätte: darum
ist sie mein."
Der Jäger sprach: "Ihr wärt doch samt der Königstochter von dem Untier
zerrissen worden, hätte es meine Kugel nicht getroffen: darum ist sie mein."
Der Schneider sprach: "Und hätte ich euch mit meiner Kunst nicht das Schiff
wieder zusammengeflickt, ihr wärt alle jämmerlich ertrunken: darum ist sie mein."
Da, tat der König den Ausspruch: "Jeder von euch hat ein gleiches Recht, und weil
ein jeder die Jungfrau nicht haben kann, so soll sie keiner von euch haben, aber ich will
jedem zur Belohnung ein halbes Königreich geben." Den Brüdern gefiel diese
Entscheidung und sie sprachen: "Es ist besser so, als dass wir uneins werden."
Da erhielt jeder ein halbes Königreich, und sie lebten mit ihrem Vater in aller
Glückseligkeit, solange es Gott gefiel.
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