Die Alte im Wald KHM 123 (1857)
Märchentyp AT: 442
Es fuhr einmal ein armes Dienstmädchen mit seiner Herrschaft durch einen grossen Wald,
und als sie mitten darin waren, kamen Räuber aus dem Dickicht hervor und ermordeten, wen
sie fanden. Da kamen alle miteinander um bis auf das Mädchen, das war in der Angst aus
dem Wagen gesprungen und hatte sich hinter einen Baum verborgen.
Wie die Räuber mit ihrer Beute fort waren, trat es herbei und sah das grosse Unglück.
Da fing es an bitterlich zu weinen und sagte: "Was soll ich armes Mädchen nun
anfangen, ich weiss mich nicht aus dem Wald herauszufinden, keine Menschenseele wohnt
darin, so muss ich gewiss verhungern." Es ging herum, suchte einen Weg, konnte aber
keinen finden. Als es Abend war, setzte es sich unter einen Baum, befahl sich Gott, und
wollte da sitzen bleiben und nicht weggehen, möchte geschehen, was immer wollte.
Als es aber eine Weile da gesessen hatte, kam ein weiss Täubchen zu ihm geflogen und
hatte ein kleines goldenes Schlüsselchen im Schnabel. Das Schlüsselchen legte es ihm in
die Hand und sprach: "Siehst du dort den grossen Baum, daran ist ein kleines Schloss,
das schliess mit dem Schlüsselchen auf, so wirst du Speise genug finden und keinen Hunger
mehr leiden." Da ging es zu dem Baum und schloss ihn auf und fand Milch in einem
kleinen Schüsselchen und Weissbrot zum Einbrocken dabei, dass es sich satt essen konnte.
Als es satt war, sprach es: "Jetzt ist es Zeit, wo die Hühner daheim auffliegen,
ich bin so müde, könnt ich mich doch auch in mein Bett legen." Da kam das Täubchen
wieder geflogen und brachte ein anderes goldenes Schlüsselchen im Schnabel und sagte:
"Schliess dort den Baum auf, so wirst du ein Bett finden." Da schloss es auf und
fand ein schönes weiches Bettchen; da betete es zum lieben Gott, er möchte es behüten
in der Nacht, legte sich und schlief ein. Am Morgen kam das Täubchen zum drittenmal,
brachte wieder ein Schlüsselchen und sprach: "Schliess dort den Baum auf, da wirst
du Kleider finden", und wie es aufschloss, fand es Kleider mit Gold und Edelsteinen
besetzt, so herrlich, wie sie keine Königstochter hat. Also lebte es da eine Zeitlang,
und kam das Täubchen alle Tage und sorgte für alles, was es bedurfte, und war das sein
stilles, gutes Leben. Einmal aber kam das Täubchen und sprach: "Willst du mir etwas
zuliebe tun?"
"Von Herzen gerne", sagte das Mädchen. Da sprach das Täubchen: "Ich
will dich zu einem kleinen Häuschen führen, da geh hinein, mittendrein am Herd wird eine
alte Frau sitzen und "guten Tag" sagen. Aber gib ihr beileibe keine Antwort, sie
mag auch anfangen, was sie will, sondern geh zu ihrer rechten Hand weiter, da ist eine
Türe, die mach auf, so wirst du in eine Stube kommen, wo eine Menge von Ringen allerlei
Art auf dem Tisch liegt, darunter sind prächtige mit glitzerigen Steinen, die lass aber
liegen und suche einen schlichten heraus, der auch darunter sein muss, und bring ihn zu
mir her, so geschwind du kannst."
Das Mädchen ging zu dem Häuschen und trat zu der Türe ein; da sass eine Alte, die
machte grosse Augen, wie sie es erblickte, und sprach: "Guten Tag, mein Kind."
Es gab ihr aber keine Antwort und ging auf die Türe zu. "Wo hinaus?" rief sie
und fasste es beim Rock und wollte es festhalten, "das ist mein Haus, da darf niemand
herein, wenn ichs nicht haben will." Aber das Mädchen schwieg still, machte
sich von ihr los und ging gerade in die Stube hinein. Da lag nun auf dem Tisch eine
übergrosse Menge von Ringen, die glitzten und glimmerten ihm vor den Augen; es warf sie
herum und suchte nach dem schlichten, konnte ihn aber nicht finden.
Wie es so suchte, sah es die Alte, wie sie daherschlich und einen Vogelkäfig in der
Hand hatte und damit fort wollte. Da ging es auf sie zu und nahm ihr den Käfig aus der
Hand, und wie es ihn aufhob und hineinsah, sass ein Vogel darin, der hatte den schlichten
Ring im Schnabel. Da nahm es den Ring und lief ganz froh damit zum Haus hinaus und dachte,
das weisse Täubchen wurde kommen und den Ring abholen, aber es kam nicht. Da lehnte es
sich an einen Baum und wollte auf das Täubchen warten, und wie es so stand, da war es,
als würde der Baum weich und biegsam und senkte seine Zweige herab. Und auf einmal
schlangen sich die Zweige um es herum, und waren zwei Arme, und wie es sich umsah, war der
Baum ein schöner Mann, der es umfasste und herzlich küsste und sagte: "Du hast mich
erlöst und aus der Gewalt der Alten befreit, die eine böse Hexe ist. Sie hatte mich in
einen Baum verwandelt, und alle Tage ein paar Stunden war ich eine weisse Taube, und
solang sie den Ring besass, konnte ich meine menschliche Gestalt nicht
wiedererhalten." Da waren auch seine Bedienten und Pferde von dem Zauber frei, die
sie auch in Bäume verwandelt hatte, und standen neben ihm. Da fuhren sie fort in sein
Reich, denn er war eines Königs Sohn, und sie heirateten sich und lebten glücklich.
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