Der Königssohn, der sich vor nichts fürchtet KHM 121
(1857)
Märchentyp AT: 401A, 590
Es war einmal ein Königssohn, dem gefiels nicht mehr daheim in seines Vaters Haus, und
weil er vor nichts Furcht hatte, so dachte er: "Ich will in die weite Welt gehen, da
wird mir Zeit und Weile nicht lang, und ich werde wunderliche Dinge genug sehen."
Also nahm er von seinen Eltern Abschied und ging fort immerzu, von Morgen bis Abend, und
es war ihm einerlei, wo hinaus ihn der Weg führte.
Es trug sich zu, dass er vor eines Riesen Haus kam, und weil er müde war, setzte er
sich vor die Türe und ruhte. Und als er seine Augen so hin- und hergehen liess, sah er
auf dem Hof des Riesen Spielwerk liegen: das waren ein paar mächtige Kugeln und Kegel, so
gross als ein Mensch. Über ein Weilchen bekam er Lust, stellte die Kegel auf und schob
mit den Kugeln danach, schrie und rief, wenn die Kegel fielen, und war guter Dinge. Der
Riese hörte den Lärm, streckte seinen Kopf zum Fenster heraus und erblickte einen
Menschen, er nicht grösser war als andere, und doch mit seinen Kegeln spielte.
"Würmchen", rief er, "was kegelst du mit meinen Kegeln? Wer hat dir die
Stärke dazu gegeben?" Der Königssohn schaute auf, sah den Riesen an und sprach:
"O du Klotz, du meinst wohl, du hättest allein starke Arme? Ich kann alles, wozu ich
Lust habe." Der Riese kam herab, sah dem Kegeln ganz verwundert zu und sprach:
"Menschenkind, wenn du der Art bist, so geh und hol mir einen Apfel vom Baum des
Lebens."
"Was willst du damit?" sprach der Königssohn. "Ich will den Apfel nicht
für mich", antwortete der Riese, "aber ich habe eine Braut, die verlangt
danach; ich bin weit in der Welt herumgegangen und kann den Baum nicht finden."
"Ich will ihn schon finden", sagte der Königssohn, "und ich weiss
nicht, was mich abhalten soll, den Apfel herunterzuholen." Der Riese sprach: "Du
meinst wohl, das wäre so leicht? Der Garten, worin der Baum steht, ist von einem eisernen
Gitter umgeben, und vor dem Gitter liegen wilde Tiere, eins neben dem andern, die halten
Wache und lassen keinen Menschen hinein."
"Mich werden sie schon einlassen", sagte der Königssohn. "Ja, gelangst
du auch in den Garten und siehst den Apfel am Baum hängen, so ist er doch noch nicht
dein: es hängt ein Ring davor, durch den muss einer die Hand stecken, wenn er den Apfel
erreichen und abbrechen will, und das ist noch keinem geglückt."
"Mir solls schon glücken", sprach der Königssohn. Da nahm er Abschied
von dem Riesen, ging fort über Berg und Tal, durch Felder und Wälder, bis er endlich den
Wundergarten fand. Die Tiere lagen ringsumher, aber sie hatten die Köpfe gesenkt und
schliefen. Sie erwachten auch nicht, als er herankam, sondern er trat über sie weg, stieg
über das Gitter und kam glücklich in den Garten. Da stand mitten inne der Baum des
Lebens, und die roten Äpfel leuchteten an den Ästen. Er kletterte an dem Stamm in die
Höhe, und wie er nach einem Apfel reichen wollte, sah er einen Ring davor hängen, aber
er streckte seine Hand ohne Mühe hindurch und brach den Apfel. Der Ring schloss sich fest
an seinen Arm, und er fühlte, wie auf einmal eine gewaltige Kraft durch seine Adern
drang.
Als er mit dem Apfel von dem Baum wieder herabgestiegen war, wollte er nicht über das
Gitter klettern, sondern fasste das grosse Tor und brauchte nur einmal daran zu
schütteln, so sprang es mit Krachen auf. Da ging er hinaus, und der Löwe, der davor
gelegen hatte, war wach geworden und sprang ihm nach, aber nicht in Wut und Wildheit,
sondern er folgte ihm demütig als seinem Herrn. Der Königssohn brachte dem Riesen den
versprochenen Apfel und sprach: "Siehst du, ich habe ihn ohne Mühe geholt."
Der Riese war froh, dass sein Wunsch so bald erfüllt war, eilte zu seiner Braut und
gab ihr den Apfel, den sie verlangt hatte. Es war eine schöne und kluge Jungfrau, und da
sie den Ring nicht an seinem Arm sah, sprach sie: "Ich glaube nicht eher, dass du den
Apfel geholt hast, als bis ich den Ring an deinem Arm erblicke." Der Riese sagte:
"Ich brauche nur heim zu gehen und ihn zu holen", und meinte, es wäre ein
leichtes, dem schwachen Menschen mit Gewalt wegzunehmen, was er nicht gutwillig geben
wollte. Er forderte also den Ring von ihm, aber der Königssohn weigerte sich. "Wo
der Apfel ist, muss auch der Ring sein", sprach der Riese, "gibst du ihn nicht
gutwillig, so musst du mit mir darum kämpfen." Sie rangen lange Zeit miteinander,
aber der Riese konnte dem Königssohn, den die Zauberkraft des Ringes stärkte, nichts
anhaben. Da sann der Riese auf eine List und sprach: "Mir ist warm geworden bei dem
Kampf, und dir auch, wir wollen im Flusse baden und uns abkühlen, eh wir wieder
anfangen."
Der Königssohn, der von Falschheit nichts wusste, ging mit ihm zu dem Wasser, streifte
mit seinen Kleidern auch den Ring vom Arm und sprang in den Fluss. Alsbald griff der Riese
nach dem Ring und lief damit fort, aber der Löwe, der den Diebstahl bemerkt hatte, setzte
dem Riesen nach, riss den Ring ihm aus der Hand und brachte ihn seinem Herrn zurück. Da
stellte sich der Riese hinter einen Eichbaum, und als der Königssohn beschäftigt war,
seine Kleider wieder anzuziehen, überfiel er ihn und stach ihm beide Augen aus. Nun stand
da der arme Königssohn, war blind und wusste sich nicht zu helfen. Da kam der Riese
wieder herbei, fasste ihn bei der Hand wie jemand, der ihn leiten wollte, und führte ihn
auf die Spitze eines hohen Felsens. Dann liess er ihn stehen und dachte: "Noch ein
paar Schritte weiter, so stürzt er sich tot, und ich kann ihm den Ring abziehen."
Aber der treue Löwe hatte seinen Herrn nicht verlassen, hielt ihn am Kleide fest und
zog ihn allmählich wieder zurück. Als der Riese kam und den Toten berauben wollte, sah
er, dass seine List vergeblich gewesen war. "Ist denn ein so schwaches Menschenkind
nicht zu verderben!" sprach er zornig zu sich selbst, fasste den Königssohn und
führte ihn auf einem andern Weg nochmals zu dem Abgrund; aber der Löwe, der die böse
Absicht merkte, half seinem Herrn auch hier aus der Gefahr. Als sie nahe zum Rand gekommen
waren, liess der Riese die Hand des Blinden fahren und wollte ihn allein zurücklassen,
aber der Löwe stiess den Riesen, dass er hinabstürzte und zerschmettert auf den Boden
fiel.
Das treue Tier zog seinen Herrn wieder von dem Abgrund zurück und leitete ihn zu einem
Baum, an dem ein klarer Bach floss. Der Königssohn setzte sich da nieder, der Löwe aber
legte sich und spritzte mit seiner Tatze ihm das Wasser ins Antlitz. Kaum hatten ein paar
Tröpfchen die Augenhöhlen benetzt, so konnte er wieder etwas sehen und bemerkte ein
Vöglein, das flog ganz nah vorbei, stiess sich aber an einem Baumstamm; hierauf liess es
sich in das Wasser herab und badete sich darin, dann flog es auf, strich ohne anzustossen
zwischen den Bäumen hin, als hätte es sein Gesicht wiederbekommen.
Da erkannte der Königssohn den Wink Gottes, neigte sich herab zu dem Wasser und wusch
und badete sich darin das Gesicht. Und als er sich aufrichtete, hatte er seine Augen
wieder so hell und rein, wie sie nie gewesen waren. Der Königssohn dankte Gott für die
grosse Gnade und zog mit seinem Löwen weiter in der Welt herum.
Nun trug es sich zu, dass er vor ein Schloss kam, welches verwünscht war. In dem Tor
stand eine Jungfrau von schöner Gestalt und feinem Antlitz, aber sie war ganz schwarz.
Sie redete ihn an und sprach: "Ach könntest du mich erlösen aus dem bösen Zauber,
der über mich geworfen ist."
"Was soll ich tun?" sprach der Königssohn. Die Jungfrau antwortete:
"Drei Nächte musst du in dem grossen Saal des verwünschten Schlosses zubringen,
aber es darf keine Furcht in dein Herz kommen. Wenn sie dich auf das ärgste quälen und
du hälst es aus, ohne einen Laut von dir zu geben, so bin ich erlöst; das Leben dürfen
sie dir nicht nehmen."
Da sprach der Königssohn: "Ich fürchte mich nicht, ich wills mit Gottes Hilfe
versuchen." Also ging er fröhlich in das Schloss, und als es dunkel ward, setzte er
sich in den grossen Saal und wartete. Es war aber still bis Mitternacht, da fing
plötzlich ein grosser Lärm an, und aus allen Ecken und Winkeln kamen kleine Teufel
herbei. Sie taten, als ob sie ihn nicht sähen, setzten sich mitten in die Stube, machten
ein Feuer an und fingen an zu spielen. Wenn einer verlor, sprach er: "Es ist nicht
richtig, es ist einer da, der nicht zu uns gehört, der ist schuld, dass ich
verliere."
"Wart, ich komme, du hinter dem Ofen", sagte ein anderer. Das Schreien ward
immer grösser, so dass es niemand ohne Schrecken hätte anhören können. Der Königssohn
blieb ganz ruhig sitzen und hatte keine Furcht; doch endlich sprangen die Teufel von der
Erde auf und fielen über ihn her, und es waren so viele, dass er sich ihrer nicht
erwehren konnte. Sie zerrten ihn auf dem Boden herum, zwickten, stachen, schlugen und
quälten ihn, aber er gab keinen Laut von sich. Gegen Morgen verschwanden sie, und er war
so abgemattet, dass er kaum seine Glieder regen konnte; als aber der Tag anbrach, da trat
die schwarze Jungfrau zu ihm herein. Sie trug in ihrer Hand eine kleine Flasche, worin
Wasser des Lebens war, damit wusch sie ihn, und alsbald fühlte er, wie alle Schmerzen
verschwanden und frische Kraft in seine Adern drang. Sie sprach: "Eine Nacht hast du
glücklich ausgehalten, aber noch zwei stehen dir bevor." Da ging sie wieder weg, und
im Weggehen bemerkte er, dass ihre Füsse weiss geworden waren.
In der folgenden Nacht kamen die Teufel und fingen ihr Spiel aufs neue an: sie fielen
über den Königssohn her und schlugen ihn viel härter als in der vorigen Nacht, dass
sein Leib voll Wunden war. Doch da er alles still ertrug, mussten sie von ihm lassen, und
als die Morgenröte anbrach, erschien die Jungfrau und heilte ihn mit dem Lebenswasser.
Und als sie wegging, sah er mit Freuden, dass sie schon weiss geworden war bis zu den
Fingerspitzen. Nun hatte er nur noch eine Nacht auszuhalten, aber die war die schlimmste.
Der Teufelsspuk kam wieder: "Bist du noch da?" schrien sie, "du sollst
gepeinigt werden, dass dir der Atem stehen bleibt." Sie stachen und schlugen ihn,
warfen ihn hin und her und zogen ihn an Armen und Beinen, als wollten sie ihn zerreissen;
aber er duldete alles und gab keinen Laut von sich.
Endlich verschwanden die Teufel, aber er lag da ohnmächtig und regte sich nicht: er
konnte auch nicht die Augen aufheben, um die Jungfrau zu sehen, die hereinkam und ihn mit
dem Wasser des Lebens benetzte und begoss. Aber auf einmal war er von allen Schmerzen
befreit und fühlte sich frisch und gesund, als wäre er aus einem Schlaf erwacht, und wie
er die Augen aufschlug, so sah er die Jungfrau neben sich stehen, die war schneeweiss und
schön wie der helle Tag. "Steh auf", sprach sie, "und schwing dein Schwert
dreimal über die Treppe, so ist alles erlöst." Und als er das getan hatte, da war
das ganze Schloss vom Zauber befreit, und die Jungfrau war eine reiche Königstochter. Die
Diener kamen und sagten, im grossen Saale wäre die Tafel schon zubereitet und die Speisen
aufgetragen. Da setzten sie sich nieder, assen und tranken zusammen, und abends ward in
grossen Freuden die Hochzeit gefeiert.
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