Die beiden Wanderer KHM 107 (1857)
Märchentyp AT: 554, 613
Berg und Tal begegnen sich nicht, wohl aber die Menschenkinder, zumal gute und böse.
So kam auch einmal ein Schuster und ein Schneider auf der Wanderschaft zusammen. Der
Schneider war ein kleiner hübscher Kerl und war immer lustig und guter Dinge. Er sah den
Schuster von der andern Seite herankommen, und da er an seinem Felleisen merkte, was er
für ein Handwerk trieb, rief er ihm ein Spottliedchen zu
"Nähe mir die Naht, Ziehe mir den Draht, Streich ihn rechts und links mit Pech,
Schlag, schlag mir fest den Zweck."
Der Schuster aber konnte keinen Spass vertragen, er verzog ein Gesicht, als wenn er
Essig getrunken hätte, und machte Miene, das Schneiderlein am Kragen zu packen. Der
kleine Kerl fing aber an zu lachen, reichte ihm seine Flasche und sprach: "Es ist
nicht bös gemeint, trink einmal und schluck die Galle hinunter."
Der Schuster tat einen gewaltigen Schluck, und das Gewitter auf seinem Gesicht fing an
sich zu verziehen. Er gab dem Schneider die Flasche zurück und sprach: "Ich habe ihr
ordentlich zugesprochen, man sagt wohl vom vielen Trinken, aber nicht vom grossen Durst.
Wollen wir zusammen wandern?" "Mir ists recht", antwortete der Schneider,
"wenn du nur Lust hast, in eine grosse Stadt zu gehen, wo es nicht an Arbeit
fehlt." "Gerade dahin wollte ich auch", antwortete der Schuster, "in
einem kleinen Nest ist nichts zu verdienen, und auf dem Lande gehen die Leute lieber
barfuss."
Sie wanderten also zusammen weiter und setzten immer einen Fuss vor den andern wie die
Wiesel im Schnee. Zeit genug hatten sie beide, aber wenig zu beissen und zu brechen. Wenn
sie in eine Stadt kamen, so gingen sie umher und grüssten das Handwerk, und weil das
Schneiderlein so frisch und munter aussah und so hübsche rote Backen hatte, so gab ihm
jeder gerne, und wenn das Glück gut war, so gab ihm die Meistertochter unter der
Haustüre auch noch einen Kuss auf den Weg. Wenn er mit dem Schuster wieder zusammentraf,
so hatte er immer mehr in seinem Bündel.
Der griesgrämige Schuster schnitt ein schiefes Gesicht und meinte: "Je grösser
der Schelm, je grösser das Glück." Aber der Schneider fing an zu lachen und zu
singen und teilte alles, was er bekam, mit seinem Kameraden. Klingelten nun ein paar
Groschen in seiner Tasche, so liess er auftragen, schlug vor Freude auf den Tisch, dass
die Gläser tanzten, und es hiess bei ihm "leicht verdient und leicht vertan."
Als sie eine Zeitlang gewandert waren, kamen sie an einen grossen Wald, durch welchen
der Weg nach der Königsstadt ging. Es führten aber zwei Fusssteige hindurch, davon war
der eine sieben Tage lang, der andere nur zwei Tage, aber niemand von ihnen wusste,
welcher der kürzere Weg war. Die zwei Wanderer setzten sich unter einen Eichenbaum und
ratschlagten, wie sie sich vorsehen und für wie viel Tage sie Brot mitnehmen wollten. Der
Schuster sagte: "Man muss weiter denken, als man geht, ich will für sieben Tage Brot
mitnehmen."
"Was", sagte der Schneider, "für sieben Tage Brot auf dem Rücken
schleppen wie ein Lasttier und sich nicht umschauen? Ich halte mich an Gott und kehre mich
an nichts. Das Geld, das ich in der Tasche habe, das ist im Sommer so gut als im Winter,
aber das Brot wird in der heissen Zeit trocken und obendrein schimmelig. Mein Rock geht
auch nicht länger als auf die Knöchel. Warum sollen wir den richtigen Weg nicht finden?
Für zwei Tage Brot und damit gut." Es kaufte sich also ein jeder sein Brot, dann
gingen sie auf gut Glück in den Wald hinein.
In dem Wald war es so still wie in einer Kirche. Kein Wind wehte, kein Bach rauschte,
kein Vogel sang, und durch die dichtbelaubten Äste drang kein Sonnenstrahl. Der Schuster
sprach kein Wort, ihn drückte das schwere Brot auf dem Rücken, dass ihm der Schweiss
über sein verdriessliches und finsteres Gesicht herabfloss. Der Schneider aber war ganz
munter, sprang daher, pfiff auf einem Blatt oder sang ein Liedchen und dachte: "Gott
im Himmel muss sich freuen, dass ich so lustig bin."
Zwei Tage ging das so fort, aber als am dritten Tag der Wald kein Ende nehmen wollte
und der Schneider sein Brot aufgegessen hatte, so fiel ihm das Herz doch eine Elle tiefer
herab; indessen verlor er nicht den Mut, sondern verliess sich auf Gott und auf sein
Glück. Den dritten Tag legte er sich abends hungrig unter einen Baum und stieg den andern
Morgen hungrig wieder auf.
So ging es auch den vierten Tag und wenn der Schuster sich auf einen umgestürzten Baum
setzte und seine Mahlzeit verzehrte, so blieb dem Schneider nichts als das Zusehen. Bat er
um ein Stückchen Brot, so lachte der andere höhnisch und sagte: "Du bist immer so
lustig gewesen, da kannst du auch einmal versuchen, wies tut, wenn man unlustig ist;
die Vögel, die morgens zu früh singen, die stösst abends der Habicht", kurz, er
war ohne Barmherzigkeit. Aber am fünften Morgen konnte er arme Schneider nicht mehr
aufstehen und vor Mattigkeit kaum ein Wort herausbringen; die Backen waren ihm weiss und
die Augen rot. Da sagte der Schuster zu ihm: "Ich will dir heute ein Stück Brot
geben, aber dafür will ich dir dein rechtes Auge ausstechen."
Der unglückliche Schneider, der doch gerne sein Leben erhalten wollte, konnte sich
nicht anders helfen: er weinte noch einmal mit beiden Augen und hielt sie dann hin, und
der Schuster, der ein Herz von Stein hatte, stach ihm mit einem scharfen Messer das rechte
Auge aus. Dem Schneider kam in den Sinn, was ihm sonst seine Mutter gesagt hatte, wenn er
in der Speisekammer genascht hatte: "Essen, soviel man mag, und leiden, was man
muss."
Als er sein teuer bezahltes Brot verzehrt hatte, machte er sich wieder auf die Beine,
vergass sein Unglück und tröstete sich damit, dass er mit einem Auge noch immer genug
sehen könnte. Aber am sechsten Tag meldete sich der Hunger aufs neue und zehrte ihm fast
das Herz auf. Er fiel abends bei einem Baum nieder, und am siebenten Morgen konnte er sich
vor Mattigkeit nicht erheben, und der Tod sass ihm im Nacken. Da sagte der Schuster:
"Ich will Barmherzigkeit ausüben und dir nochmals Brot geben; umsonst bekommst du es
nicht, ich steche dir dafür das andere Auge noch aus."
Da erkannte der Schneider sein leichtsinniges Leben, bat den lieben Gott um Verzeihung
und sprach: "Tue, was du musst, ich will leiden, was ich muss; aber bedenke, dass
unser Herrgott nicht jeden Augenblick richtet, und dass eine andere Stunde kommt, wo die
böse Tat vergolten wird, die du an mir verübst und die ich nicht an dir verdient habe.
Ich habe in guten Tagen mit dir geteilt, was ich hatte. Mein Handwerk ist der Art, dass
Stich muss Stich vertreiben. Wenn ich keine Augen mehr habe, und nicht mehr nähen kann,
so muss ich betteln gehen. Lass mich nur, wenn ich blind bin, hier nicht allein liegen,
sonst muss ich verschmachten."
Der Schuster aber, der Gott aus seinem Herzen vertrieben hatte, nahm das Messer und
stach ihm noch das linke Auge aus. Dann gab er ihm ein Stück Brot zu essen, reichte ihm
einen Stock und führte ihn hinter sich her. Als die Sonne unterging, kamen sie aus dem
Wald, und vor dem Wald auf dem Feld stand ein Galgen. Dahin leitete der Schuster den
blinden Schneider, liess ihn dann liegen und ging seiner Wege. Vor Müdigkeit, Schmerz und
Hunger schlief der Unglückliche ein und schlief die ganze Nacht. Als der Tag dämmerte,
erwachte, er, wusste aber nicht, wo er lag. An dem Galgen hingen zwei arme Sünder, und
auf dem Kopfe eines jeden sass eine Krähe. Da fing der eine an zu sprechen: "Bruder,
wachst du?"
"Ja, ich wache", antwortete der zweite. "So will ich dir etwas
sagen", fing der erste wieder an, "der Tau, der heute Nacht über uns vom Galgen
herabgefallen ist, der gibt jedem, der sich damit wäscht, die Augen wieder. Wenn das die
Blinden wüssten, wie mancher könnte sein Gesicht wiederhaben, der nicht glaubt, dass das
möglich sei." Als der Schneider das hörte, nahm er sein Taschentuch, drückte es
auf das Gras, und als es mit dem Tau befeuchtet war, wusch er seine Augenhöhlen damit.
Alsbald ging in Erfüllung, was der Gehenkte gesagt hatte, und ein Paar frische und
gesunde Augen füllten die Höhlen.
Es dauerte nicht lange, so sah der Schneider die Sonne hinter den Bergen aufsteigen;
vor ihm in der Ebene lag die grosse Königsstadt mit ihren prächtigen Toren und hundert
Türmen, und die goldenen Knöpfe und Kreuze, die auf den Spitzen standen, fingen an zu
glühen. Er unterschied jedes Blatt an den Bäumen, erblickte die Vögel, die
vorbeiflogen, und die Mücken, die in der Luft tanzten. Er holte eine Nähnadel aus der
Tasche, und als er den Zwirn einfädeln konnte, so gut, als er es je gekonnt hatte, so
sprang sein Herz vor Freude. Er warf sich auf seine Knie, dankte Gott für die erwiesene
Gnade und sprach seinen Morgensegen; er vergass auch nicht, für die armen Sünder zu
bitten, die da hingen wie der Schwengel in der Glocke, und die der Wind aneinander schlug.
Dann nahm er seinen Bündel auf den Rücken, vergass bald das ausgestandene Herzeleid und
ging unter Singen und Pfeifen weiter.
Das erste, was ihm begegnete, war ein braunes Füllen, das frei im Felde herumsprang.
Er packte es an der Mähne, wollte sich aufschwingen und in die Stadt reiten. Das Füllen
aber bat um seine Freiheit: "Ich bin noch zu jung", sprach es, "auch ein
leichter Schneider wie du bricht mir den Rücken entzwei, lass mich laufen, bis ich stark
geworden bin. Es kommt vielleicht eine Zeit, wo ich dirs lohnen kann."
"Lauf hin", sagte der Schneider, "ich sehe, du bist auch so ein
Springinsfeld." Er gab ihm noch einen Hieb mit der Gerte über den Rücken, dass es
vor Freude mit den Hinterbeinen ausschlug, über Hecken und Gräben setzte und in das Feld
hineinjagte. Aber das Schneiderlein hatte seit gestern nichts gegessen. "Die
Sonne", sprach er, "füllt mir zwar die Augen, aber das Brot nicht den Mund. Das
erste, was mir begegnet und halbwegs geniessbar ist, das muss herhalten." Indem
schritt ein Storch ganz ernsthaft über die Wiese daher. "Halt, halt", rief der
Schneider und packte ihn am Bein, "ich weiss nicht, ob du zu geniessen bist, aber
mein Hunger erlaubt mir keine lange Wahl, ich muss dir den Kopf abschneiden und dich
braten."
"Tue das nicht", antwortete der Storch, "ich bin ein heiliger Vogel, dem
niemand ein Leid zufügt, und der den Menschen grossen Nutzen bringt. Lässt du mir mein
Leben, so kann ich dirs ein andermal vergelten."
"So zieh ab, Vetter Langbein", sagte der Schneider. Der Storch erhob sich,
liess die langen Beine hängen und flog gemächlich fort. "Was soll daraus
werden?" sagte der Schneider zu sich selbst, "mein Hunger wird immer grösser
und mein Magen immer leerer. Was mir jetzt in den Weg kommt, das ist verloren." Indem
sah er auf einem Teich ein paar junge Enten daherschwimmen. "Ihr kommt ja wie
gerufen", sagte er, packte eine davon, und wollte ihr den Hals umdrehen. Da fing eine
alte Ente, die in dem Schilf steckte, laut an zu kreischen, schwamm mit aufgesperrtem
Schnabel herbei und bat ihn flehentlich, sich ihrer lieben Kinder zu erbarmen.
"Denkst du nicht", sagte sie, "wie deine Mutter jammern würde, wenn dich
einer wegholen und dir den Garaus machen wollte?"
"Sei nur still", sagte der gutmütige Schneider, "du sollst deine Kinder
behalten", und setzte die Gefangene wieder ins Wasser. Als er sich umkehrte, stand er
vor einem alten Baum, der halb hohl war, und sah die wilden Bienen aus- und einfliegen.
"Da finde ich gleich den Lohn für meine gute Tat", sagte der Schneider,
"der Honig wird mich laben." Aber der Weisel kam heraus, drohte und sprach:
"Wenn du mein Volk anrührst und mein Nest zerstörst, so sollen dir unsere Stacheln
wie zehntausend glühende Nadeln in die Haut fahren. Lässt du uns aber in Ruhe und gehst
deiner Wege, so wollen wir dir ein andermal dafür einen Dienst leisten."
Das Schneiderlein sah, dass auch hier nichts anzufangen war. "Drei Schüsseln
leer", sagte er, "und auf der vierten nichts, das ist eine schlechte
Mahlzeit." Er schleppte sich also mit seinem ausgehungerten Magen in die Stadt, und
da es eben zu Mittag läutete, so war für ihn im Gasthaus schon gekocht, und er konnte
sich gleich zu Tisch setzen. Als er satt war, sagte er: "Nun will ich auch
arbeiten."
Er ging in der Stadt umher, suchte einen Meister und fand auch bald ein gutes
Unterkommen. Da er aber sein Handwerk von Grund aus gelernt hatte, so dauerte es nicht
lange, er ward berühmt, und jeder wollte seinen neuen Rock von dem kleinen Schneider
gemacht haben. Alle Tage nahm sein Ansehen zu. "Ich kann in meiner Kunst nicht
weiterkommen", sprach er, "und doch gehts jeden Tag besser." Endlich
bestellte ihn der König zu seinem Hofschneider.
Aber wies in der Welt geht. An demselben Tag war sein ehemaliger Kamerad, der
Schuster, auch Hofschuster geworden. Als dieser den Schneider erblickte und sah, dass er
wieder zwei gesunde Augen hatte, so peinigte ihn das Gewissen. "Ehe er Rache an mir
nimmt", dachte er bei sich selbst, "muss ich ihm eine Grube graben." Wer
aber andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.
Abends, als er Feierabend gemacht hatte und es dämmerig geworden war, schlich er sich
zu dem König und sagte: "Herr König, der Schneider ist ein übermütiger Mensch und
hat sich vermessen, er wollte die goldene Krone wieder herbeischaffen, die vor alten
Zeiten ist verloren gegangen."
"Das sollte mir lieb sein", sprach der König, liess den Schneider am andern
Morgen vor sich fordern und befahl ihm, die Krone wieder herbeizuschaffen, oder für immer
die Stadt zu verlassen. "Oho", dachte der Schneider, "ein Schelm gibt mehr,
als er hat. Wenn der murrköpfige König von mir verlangt, was kein Mensch leisten kann,
so will ich nicht warten bis morgen, sondern gleich heute wieder zur Stadt
hinauswandern."
Er schnürte also sein Bündel, als er aber aus dem Tor heraus war, so tat es ihm doch
leid, dass er sein Glück aufgegeben und die Stadt, in der es ihm so wohl gegangen war,
mit dem Rücken ansehen sollte. Er kam zu dem Teich, wo er mit den Enten Bekanntschaft
gemacht hatte, da sass gerade die Alte, der er ihre Jungen gelassen hatte, am Ufer und
putzte sich mit dem Schnabel. Sie erkannte ihn gleich und fragte, warum er den Kopf so
hängen lasse. "Du wirst dich nicht wundern, wenn du hörst, was mir begegnet
ist", antwortete der Schneider und erzählte ihr sein Schicksal.
"Wenns weiter nichts ist", sagte die Ente, "da können wir Rat
schaffen. Die Krone ist ins Wasser gefallen und liegt unten auf dem Grund, wie bald haben
wir sie wieder heraufgeholt. Breite nur derweil dein Taschentuch ans Ufer aus."
Sie tauchte mit ihren zwölf Jungen unter, und nach fünf Minuten war sie wieder oben
und sass mitten in der Krone, die auf ihren Fittichen ruhte, und die zwölf Jungen
schwammen rund herum, hatten ihre Schnäbel untergelegt und halfen tragen. Sie schwammen
ans Land und legten die Krone auf das Tuch. Du glaubst nicht, wie prächtig die Krone war,
wenn die Sonne darauf schien, so glänzte sie wie hunderttausend Karfunkelsteine.
Der Schneider band sein Tuch mit den vier Zipfeln zusammen und trug sie zum König, der
in einer Freude war und dem Schneider eine goldene Kette um den Hals hing.
Als der Schuster sah, dass der eine Streich misslungen war, so besann er sich auf einen
zweiten, trat vor den König und sprach: "Herr König, der Schneider ist wieder so
übermütig geworden, er vermisst sich, das ganze königliche Schloss mit allem, was darin
ist, los und fest, innen und aussen, in Wachs abzubilden." Der König liess den
Schneider kommen und befahl ihm, das ganze königliche Schloss mit allem, was darin wäre,
los und fest, innen und aussen, in Wachs abzubilden, und wenn er es nicht zustande
brächte, oder es fehlte nur ein Nagel an der Wand, so sollte er zeitlebens unter der Erde
gefangen sitzen.
Der Schneider dachte: "Es kommt immer ärger, das hält kein Mensch aus",
warf sein Bündel auf den Rücken und wanderte fort. Als er an den hohlen Baum kam, setzte
er sich nieder und liess den Kopf hängen. Die Bienen kamen herausgeflogen, und der Weisel
fragte ihn, ob er einen steifen Hals hätte, weil er den Kopf so schief hielt. "Ach
nein", antwortete der Schneider, "mich drückt etwas anderes", und
erzählte, was der König von ihm gefordert hatte. Die Bienen fingen an untereinander zu
summen und zu brummen, und der Weisel sprach: "Geh nur wieder nach Haus, komm aber
morgen um diese Zeit wieder und bring ein grosses Tuch mit, so wird alles gut gehen."
Da kehrte er wieder um, die Bienen aber flogen nach dem königlichen Schloss geradezu in
die offenen Fenster hinein, krochen in allen Ecken herum und besahen alles aufs genaueste.
Dann liefen sie zurück und bildeten das Schloss in Wachs nach mit einer solchen
Geschwindigkeit, dass man meinte, es wüchse einem vor den Augen. Schon am Abend war alles
fertig, und als der Schneider am folgenden Morgen kam, so stand das ganze prächtige
Gebäude da, und es fehlte kein Nagel an der Wand und kein Ziegel auf dem Dach; dabei war
es zart und schneeweiss, und roch süss wie Honig. Der Schneider packte es vorsichtig in
sein Tuch und brachte es dem König, der aber konnte sich nicht genug verwundern, stellte
es in seinem grössten Saal auf und schenkte dem Schneider dafür ein grosses steinernes
Haus.
Der Schuster aber liess nicht , nach, ging zum drittenmal zu dem König und sprach:
"Herr König, dem Schneider ist zu Ohren gekommen, dass auf dem Schlosshof kein
Wasser springen will, da hat er sich vermessen, es sollte mitten im Hof mannshoch
aufsteigen und hell sein wie Kristall." Da liess der König den Schneider herbeiholen
und sagte: "Wenn nicht morgen ein Strahl von Wasser in meinem Hof springt, wie du
versprochen hast, so soll dich der Scharfrichter auf demselben Hof um einen Kopf kürzer
machen."
Der arme Schneider besann sich nicht lange und eilte zum Tore hinaus, und weil es ihm
diesmal ans Leben gehen sollte, so rollten ihm die Tränen über die Backen herab. Indem
er so voll Trauer dahinging, kam das Füllen herangesprungen, dem er einmal die Freiheit
geschenkt hatte, und aus dem ein hübscher Brauner geworden war. "Jetzt kommt die
Stunde", sprach er zu ihm, "wo ich dir deine Guttat vergelten kann. Ich weiss
schon, was dir fehlt, aber es soll dir bald geholfen werden, sitz nur auf, mein Rücken
kann deiner zwei tragen." Dem Schneider kam das Herz wieder, er sprang in einem Satz
auf, und das Pferd rennte in vollem Lauf zur Stadt hinein und geradezu auf den Schlosshof.
Da jagte es dreimal rund herum, schnell wie der Blitz, und beim drittenmal stürzte es
nieder. In dem Augenblick aber krachte es furchtbar; ein Stück Erde sprang in der Mitte
des Hofs wie eine Kugel in die Luft und über das Schloss hinaus, und gleich dahinterher
erhob sich ein Strahl von Wasser so hoch wie Mann und Pferd, und das Wasser war so rein
wie Kristall, und die Sonnenstrahlen fingen an darauf zu tanzen. Als der König das sah,
stand er vor Verwunderung auf, ging und umarmte das Schneiderlein im Angesicht aller
Menschen.
Aber das Glück dauerte nicht lange. Der König hatte Töchter genug, eine immer
schöner als die andere, aber keinen Sohn. Da begab sich der boshafte Schuster zum
viertenmal zu dem Könige und sprach: "Herr König, der Schneider lässt nicht ab von
seinem Übermut. Jetzt hat er sich vermessen, wenn er wolle, so könne er dem Herrn König
einen Sohn durch die Lüfte herbeitragen lassen." Der König liess den Schneider
rufen und sprach: "Wenn du mir binnen neun Tagen einen Sohn bringen lässt, so sollst
du meine älteste Tochter zur Frau haben."
"Der Lohn ist freilich gross", dachte das Schneiderlein, "da täte man
wohl ein übriges, aber die Kirschen hängen mir zu hoch; Wenn ich danach steige, so
bricht unter mir der Ast, und ich falle herab."
Er ging nach Haus, setzte sich mit unterschlagenen Beinen auf seinen Arbeitstisch und
bedachte sich, was zu tun wäre. "Es geht nicht", rief er endlich aus, "ich
will fort, hier kann ich doch nicht in Ruhe leben." Er schnürte sein Bündel und
eilte zum Tore hinaus.
Als er auf die Wiesen kam, erblickte er seinen alten Freund den Storch, der da wie ein
Weltweiser auf- und abging, zuweilen still stand, einen Frosch in nähere Betrachtung nahm
und ihn endlich verschluckte. Der Storch kam heran und begrüsste ihn. "Ich
sehe", hub er an, "du hast deinen Ranzen auf dem Rücken, warum willst du die
Stadt verlassen?"
Der Schneider erzählte ihm, was der König von ihm verlangt hatte und er nicht
erfüllen konnte, und jammerte über sein Missgeschick. "Lass dir darüber keine
grauen Haare wachsen", sagte der Storch, "ich will dir aus der Not helfen. Schon
lange bringe ich die Wickelkinder in die Stadt, da kann ich auch einmal einen kleinen
Prinzen aus dem Brunnen holen. Geh heim und verhalte dich ruhig. Heut über neun Tage
begib dich in das königliche Schloss, da will ich kommen." Das Schneiderlein ging
nach Haus und war zu rechter Zeit in dem Schloss.
Nicht lange, so kam der Storch herangeflogen und klopfte ans Fenster. Der Schneider
öffnete ihm, und Vetter Langbein stieg vorsichtig herein und ging mit gravitätischen
Schritten über den glatten Marmorboden; er hatte aber ein Kind im Schnabel, das schön
wie ein Engel, und seine Händchen nach der Königin ausstreckte. Er legte es ihr auf den
Schoss, und sie herzte und küsste es, und war vor Freude ausser sich. Der Storch nahm,
bevor er wieder wegflog, seine Reisetasche von der Schulter herab und überreichte sie der
Königin. Es steckten Tüten darin mit bunten Zuckererbsen, sie wurden unter die kleinen
Prinzessinnen verteilt. Die älteste aber erhielt nichts, sondern bekam den lustigen
Schneider zum Mann.
"Es ist mir geradeso", sprach der Schneider, "als wenn ich das grosse
Los gewonnen hätte. Meine Mutter hatte doch recht, die sagte immer, wer auf Gott vertraut
und nur Glück hat, dem kanns nicht fehlen."
Der Schuster musste die Schuhe machen, in welchen das Schneiderlein auf dem
Hochzeitsfest tanzte, hernach ward ihm befohlen, die Stadt auf immer zu verlassen. Der Weg
nach dem Wald führte ihn zu dem Galgen. Von Zorn, Wut und der Hitze des Tages ermüdet,
warf er sich nieder. Als er die Augen zumachte und schlafen wollte, stürzten die beiden
Krähen von den Köpfen der Gehenkten mit lautem Geschrei herab und hackten ihm die Augen
aus. Unsinnig rannte er in den Wald und muss darin verschmachtet sein, denn es hat ihn
niemand wieder gesehen oder etwas von ihm gehört.
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