Märchen von der Unke KHM 105 (1857)
Märchentyp AT: 285
(1)
Es war einmal ein kleines Kind, dem gab seine Mutter jeden Nachmittag ein Schüsselchen
mit Milch und Weckbrocken, und das Kind setzte sich damit hinaus in den Hof. Wenn es aber
anfing zu essen, so kam die Hausunke aus einer Mauerritze hervorgekrochen, senkte ihr
Köpfchen in die Milch und ass mit. Das Kind hatte seine Freude daran, und wenn es mit
seinem Schüsselchen dasass und die Unke kam nicht gleich herbei, so rief es ihr zu:
"Unke, Unke, komm geschwind,
Komm herbei, du kleines Ding,
Sollst dein Bröckchen haben,
An der Milch dich laben."
Da kam die Unke gelaufen und liess es sich gut schmecken. Sie zeigte sich auch dankbar,
denn sie brachte dem Kind aus ihrem heimlichen Schatz allerlei schöne Dinge, glänzende
Steine, Perlen und goldene Spielsachen. Die Unke trank aber nur Milch und liess die
Brocken liegen.
Da nahm das Kind einmal sein Löffelchen, schlug ihr damit sanft auf den Kopf und
sagte: "Ding, iss auch Brocken." Die Mutter, die in der Küche stand, hörte,
dass das Kind mit jemand sprach, und als sie sah, dass es mit seinem Löffelchen nach
einer Unke schlug, so lief sie mit einem Scheit Holz heraus und tötete das gute Tier.
Von der Zeit an ging eine Veränderung mit dem Kinde vor. Es war, solange die Unke mit
ihm gegessen hatte, gross und stark geworden, jetzt aber verlor es seine schönen roten
Backen und magerte ab. Nicht lange, so fing in der Nacht der Totenvogel an zu schreien,
und das Rotkehlchen sammelte Zweiglein und Blätter zu einem Totenkranz, und bald hernach
lag das Kind auf der Bahre.
(2)
Ein Waisenkind sass an der Stadtmauer und spann, da sah es eine Unke aus einer Öffnung
unten an der Mauer hervorkommen. Geschwind breitete es sein blauseidenes Halstuch neben
sich aus, das die Unken gewaltig lieben und auf das sie allein gehen. Alsobald die Unke
das erblickte, kehrte sie um, kam wieder und brachte ein kleines goldenes Krönchen
getragen, legte es darauf und ging dann wieder fort. Das Mädchen nahm die Krone auf, sie
glitzerte und war von zartem Goldgespinst. Nicht lange, so kam die Unke zum zweitenmal
wieder; wie sie aber die Krone nicht mehr sah, kroch sie an die Wand und schlug vor Leid
ihr Köpfchen so lange dawider, als sie nur noch Kräfte hatte, bis sie endlich tot dalag.
Hätte das Mädchen die Krone liegenlassen, die Unke hätte wohl noch mehr von ihren
Schätzen aus der Höhle herbeigetragen.
(3)
Unke ruft: "Huhu, huhu", das Kind spricht: "Komm herut." Die Unke
kommte hervor, da fragt das Kind nach seinem Schwesterchen: "Hast du Rotstrümpfchen
nicht gesehehen?" Unke sagt: "Ne, ik og nit: wie du denn? Huhu, huhu,
huhu."
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