Die Rabe KHM 93 (1857)
Märchentyp AT: 400, 401, 518
Es war einmal eine Königin, die hatte ein Töchterchen, das war noch klein und musste
noch auf dem Arm getragen werden. Zu einer Zeit war das Kind unartig, und die Mutter
mochte sagen, was sie wollte, es hielt nicht Ruhe. Da ward sie ungeduldig, und weil die
Raben so um das Schloss herumflogen, öffnete sie das Fenster und sagte: "Ich wollte,
du wärst eine Rabe und flögst fort, so hätt ich Ruhe."
Kaum hatte sie das Wort gesagt, so war das Kind in eine Rabe verwandelt und flog von
ihrem Arm zum Fenster hinaus. Sie flog aber in einen dunklen Wald und blieb lange Zeit
darin und die Eltern hörten nichts von ihr. Danach führte einmal einen Mann sein Weg in
diesen Wald, der hörte die Rabe rufen und ging der Stimme nach; und als er näher kam,
sprach die Rabe: "Ich bin eine Königstochter von Geburt und bin verwünscht worden,
du aber kannst mich erlösen."
"Was soll ich tun?" fragte er. Sie sagte: "Geh weiter in den Wald, und
du wirst ein Haus finden, darin sitzt eine alte Frau, die wird dir Essen und Trinken
reichen, aber du darfst nichts nehmen: wenn du etwas issest oder trinkst, so verfällst du
in einen Schlaf und kannst du mich nicht erlösen. Im Garten hinter dem Haus ist eine
grosse Lohhucke, darauf sollst du stehen und mich erwarten. Drei Tage lang komm ich jeden
Mittag um zwei Uhr zu dir in einem Wagen, der ist erst mit vier weissen Hengsten bespannt,
dann mit vier roten und zuletzt mit vier schwarzen, wenn du aber nicht wach bist, sondern
schläfst, so werde ich nicht erlöst." Der Mann versprach alles zu tun, was sie
verlangt hatte, die Rabe aber sagte "Ach, ich weiss es schon, du wirst mich nicht
erlösen, du nimmst etwas von der Frau." Da versprach der Mann noch einmal, er wollte
gewiss nichts anrühren, weder von dem Essen noch von dem Trinken. Wie er aber in das Haus
kam, trat die alte Frau zu ihm und sagte: "Armer Mann, was seid Ihr abgemattet, kommt
und erquickt Euch, esset und trinket."
"Nein", sagte der Mann, "ich will nicht essen und nicht trinken."
Sie liess ihm aber keine Ruhe und sprach: "Wenn Ihr dann nicht essen wollt, so tut
einen Zug aus dem Glas, einmal ist keinmal." Da liess er sich überreden und trank.
Nachmittags gegen zwei Uhr ging er hinaus in den Garten auf die Lohhucke und wollte auf
die Rabe warten. Wie er da stand, ward er auf einmal so müde, und konnte es nicht
überwinden und legte sich ein wenig nieder; doch wollte er nicht einschlafen.
Aber kaum hatte er sich hingestreckt, so fielen ihm die Augen von selber zu, und er
schlief ein und schlief so fest, dass ihn nichts auf der Welt hätte erwecken können. Um
zwei Uhr kam die Rabe mit vier weissen Hengsten gefahren, aber sie war schon in voller
Trauer und sprach: "Ich weiss, dass er schläft." Und als sie in den Garten kam,
lag er auch da auf der Lohhucke und schlief. Sie stieg aus dem Wagen, ging zu ihm und
schüttelte ihn und rief ihn an, aber er erwachte nicht.
Am andern Tag zur Mittagszeit kam die alte Frau wieder und brachte ihm Essen und
Trinken, aber er wollte es nicht annehmen. Doch sie liess ihm keine Ruhe und redete ihm,
so lange zu, bis er wieder einen Zug aus dem Glase tat. Gegen zwei Uhr ging er in den
Garten auf die Lohhucke und wollte auf die Rabe warten, da empfand er auf einmal so grosse
Müdigkeit, dass seine Glieder ihn nicht mehr hielten: er konnte sich nicht helfen, musste
sich legen und fiel in tiefen Schlaf. Als die Rabe daherfuhr mit vier braunen Hengsten,
war sie schon in voller Trauer und sagte: "Ich weiss, dass er schläft." Sie
ging zu ihm hin, aber er lag da im Schlaf und war nicht zu erwecken.
Am andern Tage sagte die alte Frau, was das wäre, er ässe und tränke nichts, ob er
sterben wollte? Er antwortete: "Ich will und darf nicht essen und nicht
trinken." Sie stellte aber die Schüssel mit Essen und das Glas mit Wein vor ihm hin,
und als der Geruch davon zu ihm aufstieg, so konnte er nicht widerstehen und tat einen
starken Zug. Als die Zeit kam, ging er hinaus in den Garten auf die Lohhucke und wartete
auf die Königstochter; da ward er noch müder als die Tage vorher, legte sich nieder und
schlief so fest, als wäre er ein Stein.
Um zwei Uhr kam die Rabe und hatte vier schwarze Hengste, und die Kutsche und alles war
schwarz. Sie war aber schon in voller Trauer und sprach: "Ich weiss, dass er schläft
und mich nicht erlösen kann." Als sie zu ihm kam, lag er da und schlief fest. Sie
rüttelte ihn und rief ihn, aber sie konnte ihn nicht aufwecken. Da legte sie ein Brot
neben ihn hin, dann ein Stück Fleisch, zum dritten eine Flasche Wein, und er konnte von
allem so viel nehmen, als er wollte, es ward nicht weniger. Danach nahm sie einen goldenen
Ring von ihrem Finger, und steckte ihn an seinen Finger, und war ihr Name eingegraben.
Zuletzt legte sie einen Brief hin, darin stand, was sie ihm gegeben hatte, und dass es nie
all würde, und es stand auch darin: "Ich sehe wohl, dass du mich hier nicht erlösen
kannst, willst du mich aber noch erlösen, so komm nach dem goldenen Schloss von
Stromberg, es steht in deiner Macht, das weiss ich gewiss."
Und wie sie ihm das alles gegeben hatte, setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr in das
goldene Schloss von Stromberg. Als der Mann aufwachte und sah, dass er geschlafen hatte,
ward er von Herzen traurig und sprach: "Gewiss nun ist sie vorbeigefahren, und ich
habe sie nicht erlöst." Da fielen ihm die Dinge in die Augen, die neben ihm lagen,
und er las den Brief, darin geschrieben stand, wie es zugegangen war. Also machte er sich
auf und ging fort, und wollte nach dem goldenen Schloss von Stromberg, aber er wusste
nicht, wo es lag.
Nun war er schon lange in der Weit herumgegangen, da kam er in einen dunkeln Wald und
ging vierzehn Tage darin fort und konnte sich nicht herausfinden. Da ward es wieder Abend,
und er war so müde, dass er sich an einen Busch legte und einschlief.
Am andern Tag ging er weiter, und abends als er sich wieder an einen Busch legen
wollte, hörte er ein Heulen und Jammern, dass er nicht einschlafen konnte. Und wie die
Zeit kam, wo die Leute Lichter anstecken, sah er eins schimmern, machte sich auf und ging
ihm nach; da kam er vor ein Haus, das schien so klein, denn es stand ein grosser Riese
davor. Da dachte er bei sich: "Gehst du hinein und der Riese erblickt dich, so ist es
leicht um dein Leben geschehen." Endlich wagte er es und trat heran. Als der Riese
ihn sah, sprach er: "Es ist gut, dass du kommst, ich habe lange nichts gegessen: ich
will dich gleich zum Abendbrot verschlucken." "Lass das lieber sein",
sprach der Mann, "ich lasse mich nicht gerne verschlucken; verlangst du zu essen, so
habe ich genug, um dich satt zu machen."
"Wenn das wahr ist", sagte der Riese, "so kannst du ruhig bleiben; ich
wollte dich nur verzehren, weil ich nichts anderes habe." Da gingen sie und setzten
sich an den Tisch, und der Mann holte Brot, Wein und Fleisch, das nicht all ward.
"Das gefällt mir wohl", sprach der Riese und ass nach Herzenslust. Danach
sprach der Mann zu ihm: "Kannst du mir nicht sagen, wo das goldene Schloss von
Stromberg ist?" Der Riese sagte: "Ich will auf meiner Landkarte nachsehen,
darauf sind alle Städte, Dörfer und Häuser zu finden." Er holte die Landkarte, die
er in der Stube hatte, und suchte das Schloss, aber es stand nicht darauf. "Es tut
nichts", sprach er, "ich habe oben im Schranke noch grössere Landkarten; darauf
wollen wir suchen;" aber es war auch vergeblich.
Der Mann wollte nun weitergehen; aber der Riese bat ihn, noch ein paar Tage zu warten,
bis sein Bruder heim käme, der wäre ausgegangen, Lebensmittel zu holen. Als der Bruder
heim kam, fragten sie nach dem goldenen Schloss von Stromberg, er antwortete: "Wenn
ich gegessen habe und satt bin, dann will ich auf der Karte suchen." Er stieg dann
mit ihnen auf seine Kammer und sie suchten auf seiner Landkarte, konnten es aber nicht
finden; da holte er noch andere alte Karten, und sie liessen nicht ab, bis sie endlich das
goldene Schloss von Stromberg fanden, aber es war viele tausend Meilen weit weg.
"Wie werde ich nun dahin kommen?" fragte der Mann. Der Riese sprach:
"Zwei Stunden hab ich Zeit, da will ich dich bis in die Nähe tragen, dann aber muss
ich wieder nach Haus und das Kind säugen, das wir haben." Da trug der Riese den Mann
bis etwa hundert Stunden vom Schloss und sagte: "Den übrigen Weg kannst du wohl
allein gehen."
Dann kehrte er um, der Mann aber ging vorwärts Tag und Nacht, bis er endlich zu dem
goldenen Schloss von Stromberg kam. Es stand aber auf einem gläsernen Berge, und die
verwünschte Jungfrau fuhr in ihrem Wagen um das Schloss herum und ging dann hinein. Er
freute sich, als er sie erblickte, und wollte zu ihr hinaufsteigen, aber wie er es auch
anfing, er rutschte an dem Glas immer wieder herunter. Und als er sah, dass er sie nicht
erreichen konnte, ward er ganz betrübt und sprach zu sich selbst: "Ich will hier
unten bleiben und auf sie warten." Also baute er sich eine Hütte und sass darin ein
ganzes Jahr und sah die Königstochter alle Tage oben fahren, konnte aber nicht zu ihr
hinaufkommen. Da sah er einmal aus seiner Hütte, wie, drei Räuber sich schlugen, und
rief ihnen zu: "Gott sei mit euch!" Sie hielten bei dem Rufe inne, als sie aber
niemand sahen, fingen sie wieder an sich zu schlagen, und das zwar ganz gefährlich.
Da rief er abermals: "Gott sei mit euch!" Sie hörten wieder auf, guckten
sich um, weil sie aber niemanden sahen, fuhren sie auch wieder fort sich zu schlagen. Da
rief er zum drittenmal: "Gott sei mit euch!" und dachte: "Du musst sehen,
was die drei vorhaben", ging hin und fragte, warum sie aufeinander losschlagen.
Da sagte der eine, er hätte einen Stock gefunden, wenn er damit wider eine Tür
schlüge, so spränge sie auf; der andere sagte, er hätte einen Mantel gefunden, wenn er
den umhinge, so wäre er unsichtbar; der dritte aber sprach, er hätte ein Pferd gefangen,
damit könnte man überall hinreiten, auf den gläsernen Berg hinauf. Nun wüssten sie
nicht, ob sie das in Gemeinschaft behalten oder ob sie sich trennen sollten.
Da sprach der Mann: "Die drei Sachen will ich euch eintauschen; Geld habe ich zwar
nicht, aber andere Dinge, die mehr wert sind! doch muss ich vorher eine Probe machen,
damit ich sehe, ob ihr auch die Wahrheit gesagt habt." Da liessen sie ihn aufs Pferd
sitzen, hingen ihm den Mantel um und gaben ihm den Stock in die Hand, und wie er das alles
hatte, konnten sie ihn nicht mehr sehen. Da gab er ihnen tüchtige Schläge und rief:
"Nun, ihr Bärenhäuter, da habt ihr, was euch gebührt: seid ihr zufrieden?"
Dann ritt er den Glasberg hinauf, und als er oben vor das Schloss kam, war es
verschlossen; da schlug er mit dem Stock an das Tor und alsbald sprang es auf. Er trat ein
und ging die Treppe hinauf bis oben in den Saal, da sass die Jungfrau und hatte einen
goldenen Kelch mit Wein vor sich. Sie konnte ihn aber nicht sehen, weil er den Mantel
umhatte. Und als er vor sie kam, zog er den Ring, den sie ihm gegeben hatte, vom Finger
und warf ihn in den Kelch, dass es klang. Da rief sie: "Das ist mein Ring, so muss
auch der Mann da sein, der mich erlösen wird."
Sie suchten im ganzen Schloss und fanden ihn nicht, er war aber hinausgegangen, hatte
sich aufs Pferd gesetzt und den Mantel abgeworfen. Wie sie nun vor das Tor kamen, sahen
sie ihn und schrien vor Freude. Da stieg er ab und nahm die Königstochter in den Arm; sie
aber küsste ihn und sagte: "Jetzt hast du mich erlöst, und morgen wollen wir unsere
Hochzeit feiern."
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