Das singende springende Löweneckerchen KHM 88 (1857)
Märchentyp AT: 425C
Es war einmal ein Mann, der hatte eine grosse Reise vor, und beim Abschied fragte er
seine drei Töchter, was er ihnen mitbringen sollte. Da wollte die älteste Perlen, die
zweite wollte Diamanten, die dritte aber sprach: "Lieber Vater, ich wünsche mir ein
singendes springendes Löweneckerchen (Lerche)." Der Vater sagte: "Ja, wenn ich
es kriegen kann, sollst du es haben", küsste alle drei und zog fort.
Als nun die Zeit kam, dass er wieder auf dem Heimweg war, so hatte er Perlen und
Diamanten für die zwei ältesten gekauft, aber das singende springende Löweneckerchen
für die jüngste hatte er umsonst allerorten gesucht, und das tat ihm leid, denn sie war
sein liebstes Kind. Da führte ihn der Weg durch einen Wald, und mitten darin war ein
prächtiges Schloss, und nah am Schloss stand ein Baum, ganz oben auf der Spitze des
Baumes aber sah er ein Löweneckerchen singen und springen. "Ei, du kommst mir gerade
recht", sagte er ganz vergnügt und rief seinem Diener, er sollte hinaufsteigen und
das Tierchen fangen. Wie er aber zu dem Baum trat, sprang ein Löwe darunter auf,
schüttelte sich und brüllte, dass das Laub an den Bäumen zitterte. "Wer mir mein
singendes springendes Löweneckerchen stehlen will", rief er, "den fresse ich
auf."
Da sagte der Mann: "Ich habe nicht gewusst, dass der Vogel dir gehört: Ich will
mein Unrecht wieder gutmachen und mich mit schwerem Golde loskaufen, lass mir nur das
Leben." Der Löwe sprach: "Dich kann nichts retten, als wenn du mir zu eigen
versprichst, was dir daheim zuerst begegnet; willst du das aber tun, so schenke ich dir
das Leben und den Vogel für deine Tochter obendrein." Der Mann aber weigerte sich
und sprach: "Das könnte meine jüngste Tochter sein, die hat mich am liebsten und
läuft mir immer entgegen, wenn ich nach Haus komme." Dem Diener aber war angst und
er sagte: "Muss Euch denn gerade Eure Tochter begegnen, es könnte ja auch eine Katze
oder ein Hund sein." Da liess sich der Mann überreden, nahm das singende springende
Löweneckerchen und versprach dem Löwen zu eigen, was ihm daheim zuerst begegnen würde.
Wie er daheim anlangte und in sein Haus eintrat, war das erste, was ihm begegnete,
niemand anders als seine jüngste, liebste Tochter; die kam gelaufen, küsste und herzte
ihn, und als sie sah, dass er ein singendes springendes Löweneckerchen mitgebracht hatte,
war sie ausser sich vor Freude. Der Vater aber konnte sich nicht freuen, sondern fing an
zu weinen und sagte: "Mein liebstes Kind, den kleinen Vogel habe ich teuer gekauft,
ich habe dich dafür einem wilden Löwen versprechen müssen, und wenn er dich hat, wird
er dich zerreissen und fressen", und erzählte ihr da alles, wie es zugegangen war,
und bat sie, nicht hinzugeben, es möchte auch kommen, was da wollte. Sie tröstete ihn
aber und sprach: "Liebster Vater, was Ihr versprochen habt, muss auch gehalten
werden: ich will hingehen und will den Löwen schon besänftigen, dass ich wieder gesund
zu Euch komme."
Am andern Morgen liess sie sich den Weg zeigen, nahm Abschied und ging getrost in den
Wald hinein. Der Löwe aber war ein verzauberter Königssohn, und war bei Tag ein Löwe,
und mit ihm wurden alle seine Leute Löwen, in der Nacht aber hatten sie ihre natürliche
menschliche Gestalt.
Bei ihrer Ankunft ward sie freundlich empfangen und in das Schloss geführt. Als die
Nacht kam, war er ein schöner Mann, und die Hochzeit ward mit Pracht gefeiert. Sie lebten
vergnügt miteinander, wachten in der Nacht und schliefen am Tag.
Zu einer Zeit kam er und sagte: "Morgen ist ein Fest in deines Vaters Haus, weil
deine älteste Schwester sich verheiratet, und wenn du Lust hast hinzugeben, so sollen
dich meine Löwen hinfuhren." Da sagte sie ja, sie möchte gern ihren Vater
wiedersehen, fuhr hin und ward von den Löwen begleitet. Da war grosse Freude, als sie
ankam, denn sie hatten alle geglaubt, sie wäre von dem Löwen zerrissen worden und schon
lange nicht mehr am Leben. Sie erzählte aber, was sie für einen schönen Mann hätte,
und wie gut es ihr ginge, und blieb bei ihnen, solang die Hochzeit dauerte, dann fuhr sie
wieder zurück in den Wald.
Wie die zweite Tochter heiratete und sie wieder zur Hochzeit eingeladen war, sprach sie
zum Löwen: "Diesmal will ich nicht allein sein, du musst mitgehen." Der Löwe
aber sagte, das wäre zu gefährlich für ihn, denn wenn dort der Strahl eines brennenden
Lichts ihn berührte, so würde er in eine Taube verwandelt und müsste sieben Jahre lang
mit den Tauben fliegen. "Ach", sagte sie, "geh nur mit mir: ich will dich
schon hüten und vor allem Licht bewahren." Also zogen sie zusammen und nahmen auch
ihr kleines Kind mit. Sie liess dort einen Saal mauern, so stark und dick, dass kein
Strahl durchdringen konnte, darin sollt er sitzen, wann die Hochzeitslichter angesteckt
würden. Die Tür aber war von frischem Holz gemacht, das sprang und bekam einen kleinen
Ritz, den kein Mensch bemerkte.
Nun ward die Hochzeit mit Pracht gefeiert, wie aber der Zug aus der Kirche zurückkam
mit vielen Fackeln und Lichtern an dem Saal vorbei, da fiel ein haarbreiter Strahl auf den
Königssohn, und wie dieser Strahl ihn berührt hatte, in dem Augenblick war er auch
verwandelt, und als sie hineinkam und ihn suchte, sah sie ihn nicht, aber es sass da eine
weisse Taube. Die Taube sprach zu ihr: "Sieben Jahr muss ich in die Welt fortfliegen;
alle sieben Schritte aber will ich einen roten Blutstropfen und eine weisse Feder fallen
lassen, die sollen dir den Weg zeigen, und wenn du der Spur folgst, kannst du mich
erlösen."
Da flog die Taube zur Tür hinaus, und sie folgte ihr nach, und alle sieben Schritte
fiel ein rotes Blutströpfchen und ein weisses Federchen herab und zeigte ihr den Weg. So
ging sie immerzu in die weite Welt hinein, und schaute nicht um sich und ruhte sich nicht,
und waren fast die sieben Jahre herum; da freute sie sich und meinte, sie wären bald
erlöst, und war noch so weit davon.
Einmal, als sie so fortging, fiel kein Federchen mehr und auch kein rotes
Blutströpfchen, und als sie die Augen aufschlug, so war die Taube verschwunden. Und weil
sie dachte: "Menschen können dir da nicht helfen", so stieg sie zur Sonne
hinauf und sagte zu ihr: "Du scheinst in alle Ritzen und über alle Spitzen, hast du
keine weisse Taube fliegen sehen?"
"Nein", sagte die Sonne, "ich habe keine gesehen, aber da schenk ich dir
ein Kästchen, das mach auf, wenn du in grosser Not bist." Da dankte sie der Sonne
und ging weiter, bis es Abend war und der Mond schien, da fragte sie ihn "du scheinst
ja die ganze Nacht und durch alle Felder und Wälder, hast du keine weisse Taube fliegen
sehen?"
"Nein", sagte der Mond, "ich habe keine gesehen, aber da schenk ich dir
ein Ei, das zerbrich, wenn du in grosser Not bist." Da dankte sie dem Mond, und ging
weiter, bis der Nachtwind herankam und sie anblies; da sprach sie zu ihm: Du wehst ja
über alle Bäume und unter allen Blättern weg, hast du keine weisse Taube fliegen
sehen?"
"Nein", sagte der Nachtwind, "ich habe keine gesehen, aber ich will die
drei andern Winde fragen, die haben sie vielleicht gesehen." Der Ostwind und der
Westwind kamen und hatten nichts gesehen, der Südwind aber sprach: "Die weisse Taube
habe ich gesehen, sie ist zum Roten Meer geflogen, da ist sie wieder ein Löwe geworden,
denn die sieben Jahre sind herum, und der Löwe steht dort im Kampf mit einem Lindwurm,
der Lindwurm ist aber eine verzauberte Königstochter."
Da sagte der Nachtwind zu ihr: "Ich will dir Rat geben, geh zum Roten Meer, am
rechten Ufer, da stehen grosse Ruten, die zähle, und die elfte schneid dir ab und schlag
den Lindwurm damit, dann kann ihn der Löwe bezwingen, und beide bekommen auch ihren
menschlichen Leib wieder. Hernach schau dich um, und du wirst den Vogel Greif sehen, der
am Roten Meer sitzt, schwing dich mit deinem Liebsten auf seinen Rücken: der Vogel wird
euch übers Meer nach Haus tragen. Da hast du auch eine Nuss, wenn du mitten über
dem Meere bist, lass sie herabfallen, alsbald wird sie aufgehen, und ein grosser Nussbaum
wird aus dem Wasser hervorwachsen, auf dem sich der Greif ausruht; und könnte er nicht
ruhen, so wäre er nicht stark genug, euch hinüberzutragen: und wenn du vergisst, die
Nuss herabzuwerfen, so lässt er euch ins Meer fallen."
Da ging sie hin und fand alles, wie der Nachtwind gesagt hatte. Sie zählte die Ruten
am Meer und schnitt die elfte ab, damit schlug sie den Lindwurm, und der Löwe bezwang
ihn; alsbald hatten beide ihren menschlichen Leib wieder. Aber wie die Königstochter, die
vorher ein Lindwurm gewesen war, vom Zauber frei war, nahm sie den Jüngling in den Arm,
setzte sich auf den Vogel Greif, und führte ihn mit sich fort. Da stand die arme
Weitgewanderte und war wieder verlassen, und setzte sich nieder und weinte. Endlich aber
ermutigte sie sich und sprach: "Ich will noch so weit gehen, als der Wind weht, und
so lange, als der Hahn kräht, bis ich ihn finde."
Und ging fort, lange, lange Wege, bis sie endlich zu dem Schloss kam, wo beide zusammen
lebten; da hörte sie, dass bald ein Fest wäre, wo sie Hochzeit miteinander machen
wollten. Sie sprach aber: "Gott hilft mir noch", und öffnete das Kästchen, das
ihr die Sonne gegeben hatte, da lag ein Kleid darin, so glänzend wie die Sonne selber. Da
nahm sie es heraus und zog es an und ging hinauf in das Schloss, und alle Leute und die
Braut selber sahen sie mit Verwunderung an; und das Kleid gefiel der Braut so gut, dass
sie dachte, es könnte ihr Hochzeitskleid geben, und fragte, ob es nicht feil wäre?
"Nicht für Geld und Gut", antwortete sie, "aber für Fleisch und
Blut." Die Braut fragte, was sie damit meinte. Da sagte sie "lasst mich eine
Nacht in der Kammer schlafen, wo der Bräutigam schläft." Die Braut wollte nicht,
und wollte doch gerne das Kleid haben, endlich willigte sie ein, aber der Kammerdiener
musste dem Königssohn einen Schlaftrunk geben.
Als es nun Nacht war und der Jüngling schon schlief, ward sie in die Kammer geführt.
Da setzte sie sich ans Bett und sagte: "Ich bin dir nachgefolgt sieben Jahre, bin bei
Sonne und Mond und bei den vier Winden gewesen, und habe nach dir gefragt, und habe dir
geholfen gegen den Lindwurm, willst du mich denn ganz vergessen?" Der Königssohn
aber schlief so hart, dass es ihm nur vorkam, als rauschte der Wind draussen in den
Tannenbäumen.
Wie nun der Morgen anbrach, da ward sie wieder hinausgeführt und musste das goldene
Kleid hingeben. Und als auch das nichts geholfen hatte, ward sie traurig, ging hinaus auf
eine Wiese, setzte sich da hin und weinte. Und wie sie so sass, da fiel ihr das Ei noch
ein, das ihr der Mond gegeben hatte; sie schlug es auf, da kam eine Glucke heraus mit
zwölf Küchlein ganz von Gold, die liefen herum und piepten und krochen der Alten wieder
unter die Flügel, so dass nicht Schöneres auf der Welt zu sehen war.
Da stand sie auf, trieb sie auf der Wiese vor sich her, so lange, bis die Braut aus dem
Fenster sah, und da gefielen ihr die kleinen Küchlein so gut, dass sie gleich herabkam
und fragte, ob sie nicht feil wären. "Nicht für Geld und Gut, aber für Fleisch und
Blut; lasst mich noch eine Nacht in der Kammer schlafen, wo der Bräutigam schläft."
Die Braut sagte ja und wollte sie betrügen wie am vorigen Abend. Als aber der
Königssohn zu Bett ging, fragte er seinen Kammerdiener, was das Murmeln und Rauschen in
der Nacht gewesen sei. Da erzählte der Kammerdiener alles, dass er ihm einen Schlaftrunk
hätte geben müssen, weil ein armes Mädchen heimlich in der Kammer geschlafen hätte,
und heute nacht sollte er ihm wieder einen geben. Sagte der Königssohn: "Giess den
Trank neben das Bett aus."
Zur Nacht wurde sie wieder hereingeführt, und als sie anfing zu erzählen, wie es ihr
traurig ergangen wäre, da erkannte er gleich an der Stimme seine liebe Gemahlin, sprang
auf und rief: "Jetzt bin ich erst recht erlöst, mir ist gewesen wie in einem Traum,
denn die fremde Königstochter hatte mich bezaubert, dass ich dich vergessen musste, aber
Gott hat noch zu rechter Stunde die Betörung von mir genommen."
Da gingen sie beide in der Nacht heimlich aus dem Schloss, denn sie fürchteten sich
vor dem Vater der Königstochter, der ein Zauberer war, und setzten sich auf den Vogel
Greif, der trug sie über das Rote Meer, und als sie in der Mitte waren, liess sie die
Nuss fallen. Alsbald wuchs ein grosser Nussbaum, darauf ruhte sich der Vogel, und dann
führte er sie nach Haus, wo sie ihr Kind fanden, das war gross und schön geworden, und
sie lebten von nun an vergnügt bis an ihr Ende.
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