Die Nelke KHM 76 (1857)
Märchentyp AT: 407, 652
Es war eine Königin, die hatte unser Herrgott verschlossen, dass sie keine Kinder
gebar. Da ging sie alle Morgen in den Garten und bat zu Gott im Himmel, er möchte ihr
einen Sohn oder eine Tochter bescheren. Da kam ein Engel vom Himmel und sprach: "Gib
dich zufrieden, du sollst einen Sohn haben mit wünschlichen Gedanken, denn was er sich
wünscht auf der Welt, das wird er erhalten." Sie ging zum König und sagte ihm die
fröhliche Botschaft, und als die Zeit herum war, gebar sie einen Sohn, und der König war
in grosser Freude. Nun ging sie alle Morgen mit dem Kind in den Tiergarten, und wusch sich
da bei einem klaren Brunnen.
Es geschah einstmals, als das Kind schon ein wenig älter war, dass es ihr auf dem
Schoss lag und sie entschlief. Da kam der alte Koch, der wusste, dass das Kind
wünschliche Gedanken hatte, und raubte es, und nahm ein Huhn und zerriss es, und tropfte
ihr das Blut auf die Schürze und das Kleid. Da trug er das Kind fort an einen verborgenen
Ort, wo es eine Amme tränken musste, und lief zum König und klagte die Königin an, sie
habe ihr Kind von den wilden Tieren rauben lassen. Und als der König das Blut an der
Schürze sah, glaubte er es und geriet in einen solchen Zorn, dass er einen tiefen Turm
bauen liess, in den weder Sonne noch Mond schien, und liess seine Gemahlin hineinsetzen
und vermauern; da sollte sie sieben Jahre sitzen, ohne Essen und Trinken, und sollte
verschmachten.
Aber Gott schickte zwei Engel vom Himmel in Gestalt von weissen Tauben, die mussten
täglich zweimal zu ihr fliegen und ihr das Essen bringen, bis die sieben Jahre herum
waren.
Der Koch aber dachte bei sich: "Hat das Kind wünschliche Gedanken und ich bin
hier, so könnte es mich leicht ins Unglück stürzen." Da machte er sich vom Schloss
weg und ging zu dem Knaben, der war schon so gross, dass er sprechen konnte, und sagte zu
ihm: "Wünsche dir ein schönes Schloss mit einem Garten, und was dazu gehört."
Und kaum waren die Worte aus dem Munde des Knaben, so stand alles da, was er gewünscht
hatte. Über eine Zeit sprach der Koch zu ihm: "Es ist nicht gut, dass du so allein
bist, wünsche dir eine schöne Jungfrau zur Gesellschaft." Da wünschte sie der
Königssohn herbei, und sie stand gleich vor ihm, und war so schön, wie sie kein Maler
malen konnte.
Nun spielten die beiden zusammen und hatten sich von Herzen lieb, und der alte Koch
ging auf die Jagd wie ein vornehmer Mann. Es kam ihm aber der Gedanke, der Königssohn
könnte einmal wünschen, bei seinem Vater zu sein, und ihn damit in grosse Not bringen.
Da ging er hinaus, nahm das Mädchen beiseit und sprach: "Diese Nacht, wenn der Knabe
schläft, so geh an sein Bett und stoss ihm das Messer ins Herz, und bring mir Herz und
Zunge von ihm; und wenn du das nicht tust, so sollst du dein Leben verlieren."
Darauf ging er fort, und als er am andern Tag wiederkam, so hatte sie es nicht getan
und sprach: "Was soll ich ein unschuldiges Blut ums Leben bringen, das noch niemand
beleidigt hat?" Sprach der Koch wieder: "Wo du es nicht tust, so kostet
dichs selbst dein Leben." Als er weggegangen war, liess sie sich eine kleine
Hirschkuh herbeiholen und liess sie schlachten, und nahm Herz und Zunge, und legte sie auf
einen Teller, und als sie den Alten kommen sah, sprach sie zu dem Knaben: "Leg dich
ins Bett und zieh die Decke über dich."
Da trat der Bösewicht herein und sprach: "Wo ist Herz und Zunge von dem
Knaben?" Das Mädchen reichte ihm den Teller, aber der Königssohn warf die Decke ab
und sprach: "Du alter Sünder, warum hast du mich töten wollen? Nun will ich dir
dein Urteil sprechen. Du sollst ein schwarzer Pudelhund werden und eine goldene Kette um
den Hals haben, und sollst glühende Kohlen fressen, dass dir die Lohe zum Hals
herausschlägt."
Und wie er die Worte ausgesprochen hatte, so ward der Alte in einen Pudelhund
verwandelt, und hatte eine goldene Kette um den Hals, und die Köche mussten lebendige
Kohlen heraufbringen, die frass er, dass ihm die Lohe aus dem Hals herausschlug.
Nun blieb der Königssohn noch eine kleine Zeit da und dachte an seine Mutter, und ob
sie noch am Leben wäre. Endlich sprach er zu dem Mädchen: "Ich will heim in mein
Vaterland, willst du mit mir gehen, so will ich dich ernähren." "Ach",
antwortete sie, "der Weg ist so weit, und was soll ich in einem fremden Lande machen,
wo ich unbekannt bin." Weil es also ihr Wille nicht recht war, und sie doch
voneinander nicht lassen wollten, wünschte er sie zu einer schönen Nelke und steckte sie
bei sich.
Da zog er fort, und der Pudelhund musste mitlaufen, und zog in sein Vaterland. Nun ging
er zu dem Turm, wo seine Mutter darinsass, und weil der Turm so hoch war, wünschte er
eine Leiter herbei, die bis obenhin reichte. Da stieg er hinauf und sah hinein und rief:
"Herzliebste Mutter, Frau Königin, seid Ihr noch am Leben, oder seid Ihr tot?"
Sie antwortete: "Ich habe ja eben gegessen und bin noch satt", und meinte, die
Engel wären da.
Sprach er: "Ich bin Euer lieber Sohn, den die wilden Tiere Euch sollen vom Schoss
geraubt haben; aber ich bin noch am Leben und will Euch bald erretten." Nun stieg er
herab und ging zu seinem Herrn Vater, und liess sich anmelden als ein fremder Jäger, ob
er könnte Dienste bei ihm haben.
Antwortete der König ja, wenn er gelernt wäre und ihm Wildbret schaffen könnte,
sollte er herkommen; es hatte sich aber auf der ganzen Grenze und Gegend niemals Wild
aufgehalten. Da sprach der Jäger, er wollte ihm so viel Wild schaffen, als er nur auf der
königlichen Tafel brauchen könnte. Dann hiess er die Jägerei zusammenkommen, sie
sollten alle mit ihm hinaus in den Wald gehen. Da, gingen sie mit, und draussen hiess er
sie einen grossen Kreis schliessen, der an einem Ende offen blieb, und dann stellte er
sich hinein und fing an zu wünschen.
Alsbald kamen zweihundert und etliche Stück Wildbret in den Kreis gelaufen, und die
Jäger mussten es schiessen. Da ward alles auf sechzig Bauernwagen geladen und dem König
heim gefahren; da konnte er einmal seine Tafel mit Wildbret zieren, nachdem er lange Jahre
keins gehabt hatte.
Nun empfand der König grosse Freude darüber und bestellte, es sollte des andern Tags
seine ganze Hofhaltung bei ihm speisen, und machte ein grosses Gastmahl. Wie sie alle
beisammen waren, sprach er zu dem Jäger: "Weil du so geschickt bist, so sollst du
neben mir sitzen."
Er antwortete: "Herr König, Ew. Majestät halte zu Gnaden, ich bin ein schlechter
Jägerbursch." Der König aber bestand darauf und sagte: "Du sollst dich neben
mich setzen", bis er es tat. Wie er da sass, dachte er an seine liebste Frau Mutter,
und wünschte, dass nur einer von des Königs ersten Dienern von ihr anfinge und fragte,
wie es wohl der Frau Königin im Turm ginge, ob sie wohl noch am Leben wäre oder
verschmachtet.
Kaum hatte er es gewünscht, so fing auch schon der Marschall an und sprach:
"Königliche Majestät, wir leben hier in Freuden, wie geht es wohl der Frau Königin
im Turm, ob sie wohl noch am Leben oder verschmachtet ist?" Aber der König
antwortete: "Sie hat mir meinen lieben Sohn von den wilden Tieren zerreissen lassen,
davon will ich nichts hören." Da stand der Jäger auf und sprach: "Gnädigster
Herr Vater, sie ist noch am Leben, und ich bin ihr Sohn, und die wilden Tiere haben ihn
nicht geraubt, sondern der Bösewicht, der alte Koch, hat es getan, der hat mich, als sie
eingeschlafen war, von ihrem Schoss weggenommen und ihre Schürze mit dem Blut eines Huhns
betropft." Darauf nahm er den Hund mit dem goldenen Halsband und sprach: "Das
ist der Bösewicht", und liess glühende Kohlen bringen, die musste er angesichts
aller fressen, dass ihm die Lohe aus dem Hals schlug.
Darauf fragte er den König, ob er ihn in seiner wahren Gestalt sehen wollte, und
wünschte ihn wieder zum Koch, da stand er alsbald mit der weissen Schürze und dem Messer
an der Seite. Der König, wie er ihn sah, ward zornig und befahl, dass er in den tiefsten
Kerker sollte geworfen werden. Darauf sprach der Jäger weiter: "Herr Vater, wollt
Ihr auch das Mädchen sehen, das mich so zärtlich aufgezogen hat und mich hernach ums
Leben bringen sollte, es aber nicht getan hat, obgleich sein eigenes Leben auf dem Spiel
stand?" Antwortete der König: "Ja, ich will sie gerne sehen." Sprach der
Sohn: "Gnädigster Herr Vater, ich will sie Euch zeigen in Gestalt einer schönen
Blume." Und griff in die Tasche und holte die Nelke, und stellte sie auf die
königliche Tafel und sie war so schön, wie der König nie eine gesehen hatte. Darauf
sprach der Sohn: "Nun will ich sie auch in ihrer wahren Gestalt zeigen", und
wünschte sie zu einer Jungfrau; da stand sie da und war so schön, dass kein Maler sie
hätte schöner malen können.
Der König aber schickte zwei Kammerfrauen und zwei Diener hinab in den Turm, die
sollten die Frau Königin holen und an die königliche Tafel bringen. Als sie aber dahin
geführt ward, ass sie nichts mehr und sagte: "Der gnädige barmherzige Gott, der
mich im Turm erhalten hat, wird mich bald erlösen." Da lebte sie noch drei Tage und
starb dann selig; und als sie begraben ward, da folgten ihr die zwei weissen Tauben nach,
die ihr das Essen in den Turm gebracht hatten und Engel vom Himmel waren, und setzten sich
auf ihr Grab.
Der alte König liess den Koch in vier Stücke zerreissen, aber der Gram zehrte an
seinem Herzen, und er starb bald. Der Sohn heiratete die schöne Jungfrau, die er als
Blume in der Tasche mitgebracht hatte, und ob sie noch leben, das steht bei Gott.
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